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SOZIALES/031: Versorgung - Der Anspruch der Kinder (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2017

Versorgung
Der Anspruch der Kinder

von Dr. Uwe Denker


Armut und Gesundheit wird an zwei Tagen auf einem Kongress in Berlin thematisiert. Auch die Praxis ohne Grenzen ist dabei.


Das Prinzip der Solidarität hat eine lange Tradition und ist nicht zuletzt seit Anbeginn der Sozialversicherung in Deutschland Leitgedanke und Grundprinzip unserer gesellschaftlichen Ordnung. "Solidarität beschreibt die Bereitschaft zu gegenseitigen Unterstützungsleistungen, die moralisch geboten, aber nicht erzwingbar sind. Ziel einer solidarischen Gemeinschaft ist es, ungleiche soziale und individuelle Verwundbarkeiten und Lebensrisiken auszugleichen." Dies schreibt das Kongressteam im Programmheft und fordert auf: "Lassen Sie uns gemeinsam die Solidaritätspotenziale unserer Gesellschaft sichtbar machen!"

Eingebunden sind in diese Veranstaltung, für die sich 2.000 Teilnehmer angemeldet haben, auch die Praxen ohne Grenzen, am 16. März um 16:15 Uhr (Nummer 112) zunächst in ein Fachforum mit dem Titel "Menschen ohne Krankenversicherung - Aufgaben und Lösungswege". Hier werden Vertreter der Segeberger Praxis ohne Grenzen in einem Impulsreferat die Diskussion mit dem Thema: "Gesundheit auch für nicht krankenversicherte Kinder und Jugendliche in Deutschland" anstoßen.

Seit einigen Jahren fällt in den acht Praxen ohne Grenzen in Schleswig-Holstein auf, dass Kinder und Jugendliche ohne Krankenversicherung ärztlich beraten und versorgt werden müssen. Es handelt sich um Kinder und Jugendliche aus Familien, in denen keines der Familienangehörigen krankenversichert ist.

Das dürfte es in Deutschland eigentlich gar nicht geben, da seit 2007 für die GKV und seit 2009 für die PKV eine Krankenversicherungspflicht besteht, die die Familienversicherung mit einschließt. Seit Jahren steigt jedoch die Zahl derer, die fällige Krankenkassenbeiträge nicht bezahlen können. Sie werden deshalb in niedrige Tarife mit geringen Leistungen eingestuft. Es werden nur noch die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie die Betreuung in der Schwangerschaft abgedeckt.

Hauptsächlich sind Familien von Selbstständigen betroffen. 2012 waren 58 Prozent der Selbständigen in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert, 42 Prozent in einer privaten Krankenversicherung (die Zahl der Nichtversicherten ist nicht bekannt). In der Privaten Krankenversicherung steigt die Zahl der "Niedriglöhner". 116.000 sind dort im "Notlagentarif" versichert.

Die gesetzliche Krankenversicherung beklagt Ausfälle von insgesamt rund sechs Milliarden Euro durch "Nichtzahler". Diese Ausfälle müssen durch die Beitragszahler ausgeglichen werden. Aus dieser Klientel kommen Säuglinge und Heranwachsende in die Praxen ohne Grenzen.

Auch wenn Eltern in den Notlagentarif zurückgestuft worden sind, haben Kinder und Jugendliche eigentlich einen Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen. Das ist vielen Eltern nicht bekannt. Viele geben aus Scham nicht an, im Notlagentarif versichert zu sein. Sie fürchten, die Vorauszahlungen in Arztpraxen nicht leisten und die fälligen Rechnungen nicht zahlen zu können. Für Ärzte bedeutet die Behandlung dieser Patienten, die "Selbstzahler" bzw. Privatpatienten sind, den Verzicht auf angemessene Bezahlung. Nach unserer Kenntnis darf maximal das 1,8-fache nach GOÄ für Beratungen und Behandlungen, das 1,38-fache für medizinisch-technische und das 1,16-fache für Laborleistungen abgerechnet werden. Private Versicherungen versuchen immer wieder, den Leistungsanspruch eines im Notlagentarif-Versicherten mit dem alten Beitragsrückstand aufzurechnen. Dann nehmen zwar die Beitragsschulden um diesen Betrag ab, es können jedoch der Arzt, Zahnarzt oder das Krankenhaus nicht bezahlt werden.

Wegen dieser Schwierigkeiten werden Kinder der betroffenen Familien nicht ausreichend versorgt, Vorsorgeleistungen und Impfungen werden nicht wahrgenommen. Kinder und Jugendliche fallen unverschuldet durchs soziale Netz. Das kann verhängnisvolle Folgen haben. Der mögliche Gang zum Sozialamt unterbleibt. Um diesem Missstand vorzubeugen, fordert die Praxis ohne Grenzen Segeberg eine allgemeine beitragsfreie Krankenversicherung in Deutschland für alle Kinder von Null bis 18 Jahren, unabhängig vom Status der Eltern, wie es in einigen Staaten der Europäischen Union schon lange üblich ist.

Die zwölf Praxen ohne Grenzen in Deutschland erklären sich solidarisch mit der Praxis ohne Grenzen in Bad Segeberg. Sie werden diese Forderung auf dem Kongress in Berlin noch einmal bekräftigen. Andere soziale Einrichtungen werden sich anschließen.

Dieses Vorgehen gebietet die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Die Kinderrechtskonvention wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und von den Mitgliedsstaaten, bis auf die USA, ratifiziert.

Die Vertragsstaaten, dazu zählt Deutschland, "sollen sich bemühen, sicherzustellen, dass alle Kinder die notwendige ärztliche Hilfe und Gesundheitsfürsorge erhalten, wobei besonderer Nachdruck auf den Ausbau der gesundheitlichen Grundversorgung gelegt wird". (Artikel 24, Absatz 2 b). Auf dem Kongress für Armut und Gesundheit in Berlin wollen wir für diese Kinderrechte eintreten und zur Sicherung von Gesundheit und Leben von Kindern eine Kampagne starten, deren Ziel es ist, alle Kinder in Deutschland in eine allgemeine beitragsfreie Krankenversicherung zu bringen. Die wäre unserer Meinung nach ein erster wirksamer Schritt in eine dringend notwendige Strukturreform des deutschen Gesundheitswesens.

Die Praxis ohne Grenzen ist auch an einer zweiten Veranstaltung beteiligt, die am 17. März um 13:45 Uhr als Workshop stattfindet (Nr. 120): Unter der Moderation des Allgemeinmediziners und Armutforschers Prof. Gerhard Trabert aus Wiesbaden wird in diesem Workshop über Initiativen von Vereinen berichtet und von Versorgungsmodellen zur gesundheitlichen Versorgung sozial benachteiligter Menschen. Wir werden über die zahlreichen Menschen aus dem deutschen Mittelstand berichten, die unsere hauptsächliche Klientel ausmachen und die nach unseren Erfahrungen unter anderem durch zu hohe Krankenkassenbeiträge in Armut geraten sind. Wir freuen uns, dass sich bereits eine große Teilnehmerzahl zu diesen Veranstaltungen angemeldet hat.


Dr. Uwe Denker ist Gründer der Praxen ohne Grenzen.


Info

16.3.
An diesem und am Folgetag findet in der Technischen Universität von Berlin der 22. Kongress "Armut und Gesundheit" statt. Gesundheit solidarisch gestalten ist das Thema dieses Public Health Kongresses, der von über 30 Partnern gemeinsam veranstaltet wird. Initiator ist der Verein Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. Angemeldet sind 2.000 Kongressteilnehmer.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201703/h17034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, März 2017, Seite 14
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2017

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