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SOZIALES/038: Fortsetzung des erfolgreichen Projekts "Anonymisierter Krankenschein" gefordert (Flüchtlingsrat Niedersachsen)


Flüchtlingsrat Niedersachsen - Presseerklärung vom 16. November 2018

Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert Fortsetzung des erfolgreichen Projekts "Anonymisierter Krankenschein"


Zweieinhalb Jahre ist es her, da schrieb das MediNetz Hannover: "Wir freuen uns sehr, dass das Modellprojekt der Anlauf- und Vergabestelle für einen "Anonymen Krankenschein" in Hannover und Göttingen gestartet ist. Es ist zumindest ein Schritt dahin, dass Menschenrecht auf eine Gesundheitsversorgung zu gewährleisten." Vorangegangen war eine Projektbewilligung des Niedersächsischen Landtags für drei Jahre (Jan. 2016 - Nov. 2018) samt Evaluation. Ohne diese Evaluation jetzt abzuwarten, plant die Landesregierung, dieses Projekt nun abzubrechen und die Beratungsstellen zu schließen.

Dabei haben das MediNetz Hannover und das Medinetz Göttingen in diesen zweieinhalb Jahren erfolgreiche und notwendige Arbeit geleistet und verlässliche Strukturen etabliert, denen nun das Aus droht. Die vorbildliche Projektarbeit fand in Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland Nachahmer_innen in Form ähnlicher Projekte, die zum Teil weitaus komfortabler ausgestattet sind. Noch bevor die für das Frühjahr 2019 geplanten Evaluation überhaupt vorliegt, will die niedersächsische Landesregierung die Projekte aber nun beenden.

Dabei sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache für die dringend angemahnte Fortsetzung des Projekts:

  • mit über 1.000 ermöglichten ärztlichen Behandlungen stehen Bedarf und Effektivität außer Frage.
  • 18% aller Behandlungsbedürftigen sind Kinder gewesen, denen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus eine ärztliche Versorgung ermöglicht werden konnte.
  • 33% waren Schwangere, denen eine ärztliche Betreuung durch die kritische Phase der Schwangerschaft und eine geschützte Entbindung gesichert werden konnte.
  • Allein von der letztgenannten Gruppe konnten 90% legalisiert werden und ihre Kinder also in sichereren Verhältnissen das Licht der Welt erblicken.
  • In nicht unerheblichem Umfang konnten Aufsuchende geimpft und damit Krankheitsverläufe verbessert und Ansteckungen vermieden werden.

Für diese wichtige und erfolgreiche Arbeit musste z.B. das Göttinger Team nur 40% des vom Landtag freigegebenen Budgets einsetzen. Entscheidend ist aber nicht nur der effektive Mitteleinsatz, sondern auch die Gewährleistung einer Gesundheitsversorgung für alle Menschen ohne Ansehen ihres Status. Hinweise aus dem Sozialministerium, wonach eine Legalisierung und die Gewährleistung einer Behandlung in Einzelfällen auch über die Regeldienste hätte erfolgen können, überzeugen wenig: Die Angst vieler Menschen ohne Aufenthaltsstatus vor einer Festnahme führt immer wieder dazu, dass Betroffene notwendige Behandlungen und Vorsorgeuntersuchungen nicht durchführen lassen. Gerade deshalb ist der durch die MediNetz-Beratungsstellen gebotene geschützte Raum so wichtig. Dass den gut arbeitenden Anlaufstellen der Garaus gemacht werden soll, ist offenbar vor allem der strikten Weigerung der christlich-demokratischen Partei im Landtag geschuldet, auch nur einen weiteren Cent in die Behandlung und Beratung Illegalisierter zu stecken. Auch die SPD braucht anscheinend noch ein paar Debattencamps, bis sie erkennt, dass "Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit" nicht an den Pass gebunden sein sollten.

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen stellt sich an die Seite der Beratungsstellen in Göttingen und Hannover und mahnt in aller Dringlichkeit: Das verbriefte Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Zugang zu medizinischer Versorgung muss unabhängig vom Aufenthaltsstatus einer Person gewährleistet werden. Selbstverständlich sollte das Projekt auch auf andere Bevölkerungsgruppen ausgeweitet werden, die aus unterschiedlichsten Gründen - z.B. weil sie sich als geringverdienende Selbstständige einen Krankenversicherungsschutz nicht leisten können - keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Das ist jedoch kein Grund, die bestehenden Modellangebote zu beenden. Das Projekt "Anonymisierter Krankenschein" bedarf einer Verlängerung über die Evaluation hinaus, besser noch einer Verstetigung, indem es zu einer dauerhaften Maßnahme wird.

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Anlage:

Presseerklärung des Medinetz Hannover e.V. vom 12.11.2018

Versorgung kranker Menschen ohne Versicherung in Gefahr

Pressemitteilung des Medinetz Hannover e.V. zum Auslaufen des Modellprojektes "Vergabestellen zur Gesundheitsversorgung von papierlosen Menschen"


Der Verein Medinetz Hannover e.V. nimmt das Auslaufen des Modellprojektes "Vergabestellen zur Gesundheitsversorgung von papierlosen Menschen" zum 30.11.2018 zum Anlass, auf das Ausbleiben der gesundheitlichen Versorgung von Menschen ohne geregelten Krankenversicherungsstatus hinzuweisen.

Das Medinetz Hannover e.V. vermittelt ehrenamtlich Menschen ohne Krankenversicherung an kooperierende Praxen und trägt spendenfinanziert anfallende Behandlungs-, Medikamenten- und Krankenhauskosten. Auf diese Weise versucht das Medinetz Hannover e.V. Notlagen bei Betroffenen zu lindern und gravierende Folgen einer fehlenden Versorgung zu vermeiden. Seit 2016 ermöglicht es die Landesregierung Niedersachsen auf Initiative der Medinetze Göttingen und Hannover mit Einführung von Vergabestellen zur Gesundheitsversorgung als dreijähriges Modellprojekt, Hemmnisse in der Gesundheitsversorgung papierloser Menschen abzubauen und eine Versorgung zu ermöglichen. Migrant*innen ohne Papiere konnten seither aus öffentlichen Mitteln eine Akutversorgung und Vorsorgemaßnahmen wie Impfungen in Anspruch nehmen.

Bisher sind über 1000 Behandlungsscheine ausgestellt worden. Die häufigste Behandlungsindikation war nach der Behandlung akuter Schmerzen die Betreuung von Schwangerschaften. Profitiert haben neben den betroffenen Personen auch die niedergelassenen Ärzt*innen, die die Sicherheit erhielten, die von ihnen erbrachten Leistungen abrechnen zu können.

Da der Projektzeitraum auf den 30.11.2018 begrenzt und im Landesparlament nicht verlängert wurde, bleiben die durch die Vergabestellen abgesicherten Personen ab dem 1.12.2018 von einer sicheren gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen.

Es ist somit davon auszugehen, dass diese Menschen wie vor Beginn des Modellprojektes auf die Hilfe ehrenamtlich arbeitender, spendenfinanzierter Organisationen angewiesen sein werden und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ohne eine angemessene Vergütung der von ihnen erbrachten Leistungen verbleiben werden.

Deshalb sieht sich das Medinetz Hannover e.V. mit einer großen Zahl potenzieller Klient*innen konfrontiert. Die finanziellen Mittel und organisatorischen Kapazitäten des Vereins reichen nicht aus, um allen Menschen adäquate Hilfe zukommen zu lassen. Aus diesem Grunde wendet sich das Medinetz Hannover e.V. an die Öffentlichkeit mit der Bitte um Spenden und an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit der Bitte um Unterstützung bei der Behandlung der Personen, die ab dem 1.12.2018 ohne gesundheitliche Versorgung bleiben.

www.medinetz-hannover.de

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Quelle:
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Röpkestr. 12, 30173 Hannover
Telefon: 0511/98 24 60 30, Fax: 0511/98 24 60 31
Mo-Fr: 10.00 bis 12.30, Di+Do: 14.00 bis 16.00
E-Mail: nds@nds-fluerat.org
Internet: www.nds-fluerat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2018

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