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AUSLAND/1487: Bilanz 15 Jahre nach der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo im Jahr 1994 (DSW)


DSW [news] - September 2009
Deutsche Stiftung Weltbevölkerung

Das Globale NGO-Forum Anfang September 2009 in Berlin

Globales NGO-Forum verabschiedet "Berlin Call to Action"
Bevölkerung, reproduktive Gesundheit und Klimawandel
Familienplanung ist ein Menschenrecht
Gastbeitrag von Renate Bähr, Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung

Globales NGO-Forum verabschiedet "Berlin Call to Action"

Experten aus aller Welt fordern von Regierungen mehr Investitionen in Gesundheit und Frauenrechte, gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise.

Mit dem Aufruf an die Regierungen, mehr Geld in sexuelle und reproduktive Gesundheit sowie die Verwirklichung der Menschenrechte, vor allem für Mädchen und Frauen, zu investieren, ging am vergangenen Freitag in Berlin das Globale NGO-Forum zu Ende. Damit erinnerten die mehr als 400 Teilnehmer an die 1994 auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo geleisteten Versprechen, bis zum Jahre 2015 allen Menschen Zugang zu Familienplanung und eine sie begleitende reproduktive Gesundheit zu gewähren. Nur durch Frauenförderung und eine Verbesserung der Bildungschancen, insbesondere für Mädchen, so lautete der Konsens von Kairo, ließe sich eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung erreichen.

Vom 2. bis 4. September hatten Experten aus 131 Ländern 15 Jahre nach der Verabschiedung des Kairoer Aktionsprogramms Bilanz gezogen. Die Herausforderungen seien heute weit größer als noch im Jahr 1994. Dazu gehöre die weltweite Finanzkrise, der Klimawandel, die HIV/Aids-Epidemie, zunehmender Konservatismus und fragmentierte Gesundheitssysteme, so resümierte Gill Greer, Generaldirektorin der International Planned Parenthood Federation (IPPF), zu Beginn der Konferenz. "Wir müssen der Welt beweisen, dass die Verbesserung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit eine effiziente, langfristige Investition darstellt."


Lohnende Investitionen in Familienplanung

Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte anlässlich des Globalen Forums an die Staaten appelliert, ein Prozent ihrer Konjunkturmittel für die Entwicklungshilfe bereitzustellen. "Wir fordern besonderen Schutz für die Ärmsten und Schwächsten, und zwar gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise", so die Ministerin auf der Pressekonferenz zur Eröffnung des Forums.

"Jeder Dollar, der in freiwillige Familienplanung investiert wird, rentiert sich mindestens vierfach durch die erzielten Einsparungen", sagte Thoraya Ahmed Obaid, Exekutivdirektorin des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA). "Es würde die Welt nur 23 Milliarden US-Dollar kosten, Frauen vor ungewollten Schwangerschaften zu bewahren und dafür zu sorgen, dass keine Frau bei der Geburt ihres Kindes stirbt. Zudem könnten Millionen Neugeborener gerettet werden. Diese Summe entspricht den globalen Rüstungsausgaben von zehn Tagen."


Teilnehmer fordern Regierungen zum Handeln auf

In dem Abschlussdokument fordern die Teilnehmer des Forums von den Regierungen konkrete und voll finanzierte Maßnahmen, um eine Umsetzung der wesentlichen Punkte des Aktionsprogramms bis 2015 zu ermöglichen. Investitionen in die Gesundheit und Rechte von Frauen und jungen Menschen, so heißt es in dem Forderungskatalog der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), seien eine wesentliche Voraussetzung zu Armutsbekämpfung und nachhaltiger Entwicklung. Die NGOs verpflichten sich selbst zur Zusammenarbeit mit Regierungen und Gebern und fordern sofortiges Handeln auf nationaler und internationaler Ebene, um:

zu garantieren, dass sexuelle und reproduktive Rechte als Menschenrechte durch gesetzliche Reformen und neue Familienpolitiken voll anerkannt werden;

in den Zugang zu umfassenden Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit, Hilfsgütern und Dienstleistungen zu investieren - zugleich ein vordringliches Ziel für die Stärkung von Gesundheitssystemen -, indem der Zugang für alle (insbesondere von Menschen in Notsituationen) zu Familienplanung sowie zu medizinischer Betreuung von Schwangeren und Neugeborenen sowie zur Prävention und Behandlung von HIV/Aids verbessert wird und indem unsichere Abtreibungen als Gesundheits- und Menschenrechtsproblem angegangen werden;

die sexuellen und reproduktiven Rechte von jungen Menschen sicherzustellen, indem die Hindernisse, die ihnen den Zugang zu Informationen und Dienstleistungen verwehren, abgebaut werden. Ziel ist es, dass sie informierte Entscheidungen über ihr eigenes Leben treffen können;

formale Mechanismen zu schaffen, die eine bedeutende Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungen über und Überprüfung von Programmen, Politiken und Budgets ermöglichen;

sicherzustellen, dass die Entwicklungshilfe der Geberländer, nationale Haushalte und Politiken die Bedürfnisse aller Menschen nach sexueller und reproduktiver Gesundheit und ihren Rechten befriedigen, insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten.

Die Konferenz Global Partners in Action: NGO Forum on Sexual and Reproductive Health and Development wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und vom UN-Bevölkerungsfonds ausgerichtet. Neben IPPF gehörte auch die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW) der internationalen Expertengruppe an, die das NGO-Forum vorbereitet hatte.


Den "Berlin Call to Action" sowie alle Vorträge auf der Konferenz als Mitschnitt finden Sie im Internet unter www.globalngoforum.org.

Lesen Sie auch den Kommentar anlässlich des Globalen NGO-Forums von Gill Greer (IPPF), Katie Chau (Youth Coalition), Catherina Hinz (DSW) und Sivananthi Thanenthiran (ARROW) in der Zeitschrift "The Lancet":
"Sex, rights, and politics - from Cairo to Berlin [2] ".
http://www.dsw-hannover.de/info-service/dsw_news_Lancet_Comment.shtml?navanchor=10046


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Bevölkerung, reproduktive Gesundheit und Klimawandel

Eine Diskussionsrunde am Vorabend des NGO-Forums kam zu dem Schluss, dass der Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsfürsorge und die Stärkung entsprechender Rechte helfen können, den Klimawandel und dessen schädliche Auswirkungen in Entwicklungsländern zu lindern.

Den UN-Experten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zufolge zählen neben der wirtschaftlichen Entwicklung und technologischen Neuerungen demografische Veränderungen zu den zentralen Auslösern für steigende Treibhausgas-Emissionen. Während die ersten beiden Punkte in der internationalen Diskussion um den Klimawandel große Aufmerksamkeit erhalten, werden Bevölkerungsaspekte bislang weitgehend vernachlässigt.

Im Vorfeld des Globalen NGO-Forums widmete sich ein Diskussionsabend den komplexen Wechselwirkungen zwischen demografischen Veränderungen, sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte (SRGR) und der globalen Erderwärmung. Eingeladen hatten im Namen des Thementeams "Sexuelle und Reproduktive Gesundheit, Bevölkerungsdynamik" des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW).


Familienplanung - ein vernachlässigtes Klimathema

Die geladenen Bevölkerungsexperten plädierten dafür, den Zugang zu Familienplanung, HIV/Aids-Prävention und Sexualaufklärung zukünftig stärker in Strategien zur Minderung der Treibhausgas-Emissionen und zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels zu integrieren.

Robert Engelman, Vizepräsident für Programme beim Worldwatch Institute, erklärte, dass jüngsten Untersuchungen zufolge mit sinkenden Bevölkerungsprojektionen auch der Ausstoß von Treibhausgasen in der Zukunft deutlich sinke. Es sei daher wahrscheinlicher, eine stabile Atmosphäre zu erreichen, wenn alle Frauen und Männer selbst bestimmen könnten, in welchen Abständen und wie viele Kinder sie haben möchten. Dabei gehe es jedoch nicht um längst überholte Vorstellungen zur Bevölkerungskontrolle, betonte Engelman. Im Mittelpunkt stehe vielmehr das Recht eines jeden Einzelnen auf ungehinderten Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsfürsorge - wie vor 15 Jahren im Aktionsprogramm von Kairo festgelegt. Dieses Recht bleibt vielen Menschen insbesondere in armen Ländern heute noch immer verwehrt. 200 Millionen Frauen können derzeit nicht verhüten, obwohl sie es wollen.


Integrierte Programme stärker fördern

Trotz des hohen ungedeckten Bedarfs an Verhütungsmitteln und Sexualaufklärung in Entwicklungsländern werden SRGR-Aspekte auf der Agenda der Geber- wie Empfängerländer oft vernachlässigt - auch und vor allem im Klimabereich. Karen Hardee, Vizepräsidentin für Forschung von Population Action International, wies darauf hin, dass die meisten Entwicklungsländer in ihren Strategiepapieren zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels zwar einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung sehen. Nur die wenigsten von ihnen integrierten allerdings Familienplanungsprogramme in entsprechende entwicklungspolitische Maßnahmen.

Dass ein solcher integrierter Projektansatz jedoch erfolgversprechend und sinnvoll ist, verdeutlichte Ulrike Neubert, Leiterin der DSW-Entwicklungsprogramme. Gemeinsam mit der GTZ, den Unternehmen Kraft Food und Original Food und zivilgesellschaftlichen Organisationen wie GEO schützt den Regenwald e.V. und den Rotariern fördert die DSW ein Projekt in Äthiopien, dessen Ziel es ist, die Menschen an die kommerzielle Kaffeeproduktion heranzuführen und ihren Zugang zu reproduktiver Gesundheitsfürsorge und Verhütungsmitteln zu verbessern. Auf diese Weise werden nicht nur die Lebensbedingungen der Kaffeebauern und ihrer Familien verbessert, sondern zugleich der Regenwald geschützt, in dem die wirtschaftlich wertvolle Kaffeepflanze wächst. Programme, die Umwelt- und Bevölkerungsaspekte verknüpfen, so Neubert, seien nicht nur kosteneffizient und effektiv, sondern leisteten darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung.


Ministerium erkennt Bedeutung von Bevölkerungsaspekten an

Das Entwicklungsministerium habe unlängst anerkannt, dass der Klimawandel Auswirkungen auf die Bevölkerung habe. Inwiefern umgekehrt demografische Aspekte für den Klimawandel von Bedeutung seien, bedürfe weiterer Diskussion, erklärte Joachim Schmitt, Referat Bildung, Gesundheit, Bevölkerungspolitik im BMZ. Dieser Dialog müsse über den SRGR-Bereich hinaus auch Umwelt- und Klimaexperten einbeziehen, um ein gemeinsames Verständnis von den komplexen Zusammenhängen zu entwickeln. Schmitt mahnte: "Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, wir müssen jetzt handeln."


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Gastbeitrag von Renate Bähr,
Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung

Familienplanung ist ein Menschenrecht

Familienplanung ist ein Menschenrecht. Doch was für uns in Deutschland selbstverständlich erscheint, ist im Jahr 2009 - 15 Jahre nach der Weltbevölkerungskonferenz von Kairo - in weiten Teilen der Welt noch lange nicht verwirklicht.

Vor 15 Jahren verabschiedeten 179 Staaten auf der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo ein wegweisendes Aktionsprogramm, das allen Menschen bis zum Jahr 2015 Zugang zu Aufklärung und Familienplanung, zum Schutz vor HIV/Aids sowie zu Gesundheitsfürsorge rund um Schwangerschaft und Geburt gewährleisten soll. Außerdem legte die internationale Staatengemeinschaft fest, dass jedes Paar das Recht haben soll, frei zu entscheiden, wann und wie viele Kinder es haben möchte. Damit einher ging die Forderung nach einer Verbesserung des gesellschaftlichen Status' der Frau. Ihre Gleichberechtigung, Bildung und wirtschaftliche Unabhängigkeit wurden als zentrale Voraussetzungen für die Umsetzung des Kairoer Aktionsprogramms hervorgehoben. Nur wenn diese Ziele verwirklicht werden, kann das Bevölkerungswachstum verlangsamt sowie eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und erfolgreiche Armutsbekämpfung gewährleistet werden.

Seit 1994 hat sich einiges getan: Beispielsweise ist die Anwendung von Verhütungsmitteln heute weiter verbreitet als noch vor 15 Jahren: Verhüteten 1994 weltweit noch 56 Prozent der verheirateten Frauen, stieg der Anteil auf heute 62 Prozent. Auch das Bevölkerungswachstum hat sich seither weiter verlangsamt. Anfang der 1990er Jahre wuchs die Weltbevölkerung noch um 93 Millionen Menschen pro Jahr. Heute liegt diese Zuwachsrate bei etwa 80 Millionen Erdenbürgern.


Große Herausforderungen bleiben bestehen

Nur noch sechs Jahre trennen die internationale Gemeinschaft von ihrer selbst gesteckten Zielmarke, bis 2015 allen Menschen Zugang zu reproduktiver Gesundheitsfürsorge zu gewähren. Die Bilanz 15 Jahre nach Kairo zeigt deutlich, dass trotz einiger Erfolge der Handlungsbedarf nach wie vor riesig ist:

200 Millionen Frauen würden gern verhüten, haben aber keine Möglichkeit dazu. Etwa 76 Millionen Frauen werden ungewollt schwanger.

Jedes Jahr werden etwa sieben Millionen Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren ungewollt schwanger. Viele von ihnen müssen die Schule oder Ausbildung abbrechen und stehen vor einem Leben in Armut und Not. In den ärmsten Ländern der Welt gehören Schwangerschaft und Geburt zu den Haupttodesursachen für Mädchen im Teenageralter.


Mangel an politischem Willen und Finanzierung

Die Euphorie, mit der das Kairoer Aktionsprogrammeinst gefeiert wurde, hat in den vergangenen 15 Jahren stark nachgelassen. Die sexuelle und reproduktive Gesundheit hat heute sowohl auf der Agenda der internationalen Gebergemeinschaft als auch in vielen Entwicklungsländern keinen hohen Stellenwert. Trotz aller wortreichen Erklärungen zur Verbesserung der Gesundheitssituation von Frauen, Männern und Jugendlichen bleiben konkrete Taten häufig aus.

Um das Kairoer Aktionsprogramm umzusetzen, fehlt es zudem an finanzieller Unterstützung. Obwohl seit der Weltbevölkerungskonferenz 1994 die Mittel für Bevölkerungsprogramme stetig gestiegen sind, liegen die Investitionen nach wie vor weit unter dem, was notwendig wäre, um den universellen Zugang zu reproduktiver Gesundheit zu gewähren.

Anfang September fand in Berlin das Globale NGO-Forum zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und Entwicklung statt. Mehr als 400 Gesundheitsexperten und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen kamen mit Geberländern, multilateralen Organisationen sowie Parlamentariern aus aller Welt zusammen, um 15 Jahre nach Kairo Bilanz zu ziehen. Ich hoffe sehr, dass die Konferenz zu neuen Anstrengungen führt, allen Männern, Frauen und Jugendlichen den Zugang zu reproduktiver Gesundheit zu ermöglichen. Wenn ihnen dieser Zugang weiterhin verwehrt bleibt, wird der Kampf gegen die weltweite Armut scheitern.


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Die DSW [news] werden im Rahmen der europäischen Öffentlichkeitskampagne "Reproductive Health For All" herausgegeben. Die Kampagne wird von der Europäischen Union finanziell gefördert. Für den Inhalt der DSW [news] ist allein die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung verantwortlich; der Inhalt kann in keiner Weise als Standpunkt der Europäischen Union angesehen werden.

Internet: www.weltbevoelkerung.de/DSW_news/pdfs/DSW__news__September_2009.pdf


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Quelle:
DSW [news] - September 2009
Herausgeber: Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW)
Göttinger Chaussee 115, 30459 Hannover
Telefon: 0511/943 73-0, Telefax: 0511/943 73-73
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Internet: www.weltbevoelkerung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2009