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AUSLAND/1500: Zur medizinischen Versorgung in Afghanistan - ein Reisebericht (IPPNWforum)


IPPNWforum | 117|18 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Zur medizinischen Versorgung in Afghanistan

Ein Reisebericht von Dr. Aimal Safi


Afghanistan ist fast doppelt so groß wie Deutschland. 25 Millionen Menschen leben dort, die meisten auf dem Land. Laut den aktuellen Zahlen der WHO kommen auf 10.000 Afghanen zwei Ärzte, 4,2 Krankenhausbetten und 0,3 Hebammen. Etwa 80 Prozent dieser medizinischen Versorgung findet sich aber in den Großstädten. Es wundert kaum, dass das Land eine hohe Mütter- und Kindersterblichkeit aufweist und die Lebenserwartung der Menschen bei etwa 45 Jahren liegt. Dr. Aimal Safi berichtet von seinem Projektaufenthalt in dem vom Krieg geschundenen Land.


"2008 reisten wir mit insgesamt vier Ärzten zum Einsatz nach Afghanistan und waren glücklich, dass die Ariana Airlines über 150 kg an Medikamenten und chirurgischem Instrumentarium ohne Mehrkosten transportieren ließ. Unsere Einsatzorte lagen bewusst in verschiedenen Provinzen. Zuerst ging es in die Provinz Laghman, ca. 180 km östlich von Kabul entfernt, es folgten dann Jallalabad, ca. 170 km südöstlich von Kabul sowie Karabagh, 50 km nördlich von Kabul und ein Einsatz in Kabul selbst.

Am Tag nach der Ankunft in Kabul brachen wir auf nach Laghman. In der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses warteten bereits über 60 Patienten auf uns. Der Leiter hatte sie über unseren Besuch informiert. Wir wandelten drei Räume in Sprechzimmer um, so dass wir innerhalb von 3 bis 4 Stunden fast alle Patienten untersucht hatten. Das Spektrum vorbestellter Patienten war groß, angefangen von zahlreichen Polio-Patienten mit Lähmungen, kindliche Fehlbildungen, Lippen-Gaumenspalten, Verwachsungen von Fingern und Zehen, Klumpfüße, Verbrennungen und Verbrennungsnarben, posttraumatische Plexuslähmungen usw. Da in unserem Team auch ein Kinderchirurg war, behandelten wir auch einige Patienten mit Hypospadie (Fehlmündung der Harnröhre), die mir sehr zahlreich erschienen.

In diesem Krankenhaus waren vier Allgemeinchirurgen und ein Anästhesist mit Anästhesiepfleger tätig. Was das Personal betrifft, also eine funktionstüchtige Klinik. Insgesamt war das Krankenhaus aber erbärmlich ausgestattet: Es fehlten z.B. Elektrokoagulation (Gerät u.a. zur Blutstillung), Dermatom (chir. Schneideinstrument) und feines Instrumentarium. Glücklicherweise hatten wir unser handchirurgisches und plastisch-chirurgisches Instrumentarium teilweise mit dabei. So gelang es uns immerhin, 14 Operationen durchzuführen. Die Eingriffe, die wir vornahmen, waren u.a. die Entfernung eines 2,5 kg schweren Tumors von der rechten Schulter, Versorgung von Lippenspalten, Entfernung einer ausgedehnten Verbrennung an der linken Gesichtshälfte mit plastischer Deckung durch einen großen Rotationslappen vom Hals, Verlängerung der Achillessehne, Beheben des Spitzfußes, Lösung einer am Zungenboden verklebten Zunge, Amputation, Polydaktylie (Ausbildung überzähliger Glieder), Hypospadie (Fehlmündung der Harnröhre) usw.

Eine Woche später warteten in der nächsten Station Jallalabad bereits zahlreiche Patienten auf uns. Operiert haben wir im städtischen Krankenhaus. Alle Patienten, die uns dort vorgestellt wurden, waren komplizierte, bereits voroperierte Fälle nach Verbrennungen, nach Frakturen, Weichteildefekten und -tumoren. Die kompliziertesten Verletzungen waren bei Kindern, 2 und 4 Jahre alt, die nach Verbrennung ihrer Hände eine völlige Verstümmelung und Verlust jeglicher Greiffunktion hatten. Diese Kinder haben wir operiert und bei dem 2-Jährigen durch einen Radialislappen und Pollizisation der Mittelhandknochen (plastischer Daumenersatz durch einen anderen Finger) eine Greiffunktion erreicht. Es gab hier unglaublich viele Verbrennungen, eine suffiziente Behandlung gibt es aber nicht. Insgesamt wurden 16 Operationen durchgeführt. Die Möglichkeiten der Operationen waren begrenzt, jedoch waren die Mitarbeiter neugierig, freundlich und hilfsbereit.

In Jalallabad besuchten wir auch die Universität Ningahar. Dort führten wir ein Gespräch mit dem Kanzler der Universität und dem Direktor für Gesundheit der Provinz Jalallabad. In dieser Unterredung wurde die Möglichkeit der Zusammenarbeit besprochen und Sondierungsgespräche zu evtl. weiteren Einsätzen geführt. Kurzfristige Einsätze gestalten sich jedoch aufgrund der Strukturen schwierig.

In Kabul besuchten wir das Esteclal-Hospital, das von Italienern renoviert und aufgebaut worden ist. Dieses Krankenhaus ist Anlaufstation für Verbrennungspatienten, sie kommen von allen möglichen Provinzen zur Behandlung nach Kabul. Insgesamt ist die Situation in den Krankenhäusern sehr schlecht, es fehlt an kompetentem Fachpersonal, es herrscht Armut, Korruption und Misswirtschaft. Insgesamt haben wir hier 40 Patienten gesehen, davon 6 operiert. Es fehlte in den Operationssälen richtiges Instrumentarium.

In Afghanistan besteht dringender Bedarf an dem Aufbau einer Verbrennungsstation mit kompetentem Personal und eine Aufklärungskampagne zur Verhinderung von Verbrennungen. Die weiteren Krankenhäuser, die wir in Kabul besuchten, waren das Maiwand-Hospital und die Kinderklinik. In der Kinderklinik behandelten wir zwei Patienten mit Hypospadie. Zuletzt besuchten wir das ehemalige Militärhospital, das von Russen aufgebaut worden ist. Dieses Krankenhaus hat eine sehr gute Ausstattung, jedoch kaum Patienten. Wir durften hier operieren, so dass wir Patienten behandeln konnten, die wir in anderen Kliniken ohne operative Möglichkeiten gesehen hatten. Dies waren Patienten mit Madelung'scher Deformität (angeborene Stellungsanomalie des Handgelenks) und Supinationsstellung des Unterarmes (Auswärtsdrehung). Außer diesen aufwändigen Operationen führten wir auch 2 Operationen am Handwurzelknochen (Carpaltunnel-Syndrom) durch.

Letzte Station unserer diesjährigen Reise war das Karabagh-Hospital ca. 70 km nördlich von Kabul. Unsere Ankunft wurde bereits tags zuvor durch das lokale Radio angekündigt. Daher waren zahlreiche Patienten vor Ort, wir mussten uns durch die Patienten durchschlängeln bis zu den Untersuchungsräumen. In der Hitze und Dunkelheit der Räume untersuchten wir über 30 Patienten, zum Teil schwierige Fälle, Verbrennungen, Osteomyelitiden (Entzündung des Knochenmarks), Kontrakturen (Muskelverkürzung, die zu Gelenkzwangsstellung führt), angeborene Fehlbildungen - die typischen Krankheitsbilder, die alle Interplast-Mitglieder in den Entwicklungsländern vorfinden.

Hier war die Zahl der verbrannten Patienten mit erheblichen Verstümmelungen sehr hoch. Bei meinen vergangenen Einsätzen habe ich nie so viele verbrannte Patienten gesehen wie jetzt, was wohl auf den Kerosin-Schmuggel zurückzuführen ist, auf den Verkauf des Kerosins durch Soldaten sowie auf den Verkauf des schlechten Benzins. Nicht zuletzt auch auf die Lampen und Kochgeräte, die aus den Nachbarländern importiert werden.

In dem Krankenhaus führten wir 6 Operationen durch, darunter auch an einem 5-jährigen Mädchen mit Narbenkontraktur im Gesicht, ein 2-jähriges Kind mit ausgedehnten Verbrennungen am Gesäß und Oberschenkel, eine Volkmann'sche Kontraktur (ischämische Muskelverkürzung) und eine Eiteransammlung mit einem osteolytischen Nidus (Auflösung von Knochensubstanz) am Oberschenkelknochen. In diesem Krankenhaus hat sich gegenüber meinem früheren Besuch einiges zum Schlechteren entwickelt, der bisherige Hauptfinancier des Krankenhauses scheidet aus, so dass die Mitarbeiter sich bereits anderweitig orientieren.

Insgesamt war unsere Reise erfolgreich. Wir haben über 250 Patienten untersucht und davon 60 Patienten in 4 Provinzen und 7 Krankenhäusern unter schwierigen Umständen behandelt. Nach Rücksprache mit den weiterbehandelnden Ärzten befinden sich alle Patienten in gutem Zustand. Wir hatten postoperativ keine wesentlichen Komplikationen. Die Zusammenarbeit gestaltete sich am besten in Laghman, wo auch der Bedarf am größten ist. In den anderen Krankenhäusern war es nicht einfach, wir haben jedoch unseren Einsatz erfolgreich abgeschlossen und waren glücklich zu sehen, wie viel man mit einem kleinen Team erreichen kann."


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Quelle:
IPPNWforum | 117|18 | 09, S. 8-9
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2009