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ARTIKEL/1074: Gesundheitskompetenz und Gesundheitsversorgung im Jahr 2020 (idw)


Max-Planck-Institut für Bildungsforschung - 04.11.2009

Better Doctors, Better Patients, Better Decisions - Envisioning Health Care 2020


Es scheint so selbstverständlich, dass Ärzte am besten wissen, was sie für ihre Patienten tun müssen, basierend auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Berufserfahrung. Aber diese einfache Annahme ist leider häufig falsch - es mangelt an Gesundheitskompetenz bei Ärzten, Patienten und den Leistungserbringern im Gesundheitswesen, so dass eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung erschwert wird.

Wissenschaftliche Leitung:
Gerd Gigerenzer
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Berlin Sir Muir Gray
National Health Service
Oxford, U.K.

Vom 25. bis 31. Oktober 2009 hat das Ernst Strüngmann Forum 40 internationale Experten aus Medizin, Psychologie, Wirtschaft, Gesundheits- und Versicherungswesen sowie Industrie in Frankfurt am Main zusammen gebracht, um zu analysieren, wie sich Gesundheitskompetenz und damit die Gesundheitsversorgung verbessern lassen. Hier sind die zentralen Ergebnisse:

- Die Demokratisierung der Gesundheitsversorgung im Jahr 2020

Leistungserbringer im Gesundheitswesen und deren Patienten müssen zusammenarbeiten, um die besten medizinischen Maßnahmen zu bestimmen. Diese Zusammenarbeit muss durch vollständige und leicht verständliche Information über die Vorteile und Risiken von Behandlungen, Tests und Screening geprägt sein. Auf diese Weise werden Patienten die Möglichkeit erhalten, selbst zu entscheiden, was am wichtigsten im Hinblick auf ihre eigene Gesundheit ist.

- Herkunft ist Schicksal: Der Wohnort entscheidet über die Behandlung

Ärzten ist in der Regel nicht bewusst, wie stark die Häufigkeit von Behandlungen von einer Region zur anderen variiert. Stärker, als dies durch Unterschiede in der Bevölkerung zu erklären wäre. Bereits im Jahr 1938 zeigte Alison Glover, dass in England und Wales der Anteil der Schulkinder, denen die Mandeln entfernt werden, um das Zehnfache zwischen Regionen variierte. Er demonstrierte auch, dass die Sterblichkeitsrate bei Kindern, die operativ behandelt wurden, achtfach höher war. Glover bestätigt ein früheres Ergebnis des Medical Research Council, dass es "eine Tendenz gibt, dass Operationen ohne besonderen Grund und ohne besondere Ergebnisse durchgeführt werden." Und dies sieht heute in Deutschland, den USA oder in anderen Ländern nicht besser aus. Oft treibt das Angebot an Technologien und Therapiemöglichkeiten die Nachfrage an, was vor allem die Kosten in die Höhe treibt, ohne dass daraus ein zusätzlicher Nutzen für die Bevölkerung entstünde. Die zwei Pfeiler einer modernen Gesundheitsversorgung sollten medizinische Evidenz und die Werte der Patienten sein - beide kommen heute immer noch zu kurz. Die ethische Notwendigkeit für einen Wandel ist daher klar, allerdings hat dieser bisher nicht stattgefunden, wie Ergebnisse von John Wennberg und anderen belegen. Trotz dieser eindrücklichen Dokumentation, wie wenig medizinische Entscheidungen häufig auf Evidenz und Vernunft beruhen, ist dieses Problem für die Bürger, Ärzte und Politiker nicht sichtbar. Und das, obwohl es einen immensen Einfluss auf den Wohlstand einer Nation und auf die Gesundheit der Bevölkerung hat.

- Viele Ärzte und Patienten schätzen den Nutzen medizinischer Maßnahmen falsch ein

In seinem Buch "World Brain" von 1938 spricht H.G. Wells davon, dass für die Existenz einer gebildeten Bürgerschaft in einer modernen Demokratie das statistische Denken ebenso wichtig sei wie Lesen und Schreiben. Verbesserte statistische Kompetenz ist erforderlich, um die medizinische Wissenschaft zu verstehen und mit Patienten zu kommunizieren. Nehmen wir das Beispiel Mammographie: Dieses Verfahren produziert viele falsche Ergebnisse. Es ist daher für jeden Arzt notwendig, erklären zu können, dass ein positives Testergebnis nicht automatisch bedeutet, dass die Patientin mit Sicherheit Brustkrebs hat - nur 1 von 10 Frauen in dieser Situation hat Brustkrebs. Unter Testbedingungen jedoch wurde festgestellt, dass etwa 80% der Gynäkologen diese einfache Tatsache nicht wissen (Gigerenzer et al. 2007). Die meisten Gynäkologen dachten, dass 8 oder 9 von zehn Frauen, die positiv getestet wurden, auch wirklich Krebs haben. Solch ein Mangel an Verständnis von Ergebnissen führt zu unnötiger Angst und Panik. Die mangelnde Ausbildung der Ärzte im statistischen Denken ist heute der Öffentlichkeit kaum bekannt.

Umso schwerer ist es für die Bevölkerung, gut informiert zu sein: Der Nutzen von Mammographie wurde von 92% der Frauen und der Nutzen von PSA-gestützter Prostatakrebsfrüherkennung von 89% der Männer in 9 europäischen Ländern um mindestens das zehnfache überschätzt oder als unbekannt angegeben (Gigerenzer et al. 2009). Häufigere Arztbesuche und Lektüre von Gesundheitsbroschüren machten dies leider nicht besser, sondern gingen - am stärksten in Deutschland - mit einer höheren Überschätzung des Nutzens einher.

Was bleibt zu tun?

Das Forum empfiehlt nachdrücklich, dass die Gesundheitsversorgung demokratisiert wird, so dass Patienten und Ärzte Entscheidungen auf Grundlage von nützlichen Informationen über die medizinischen Vorteile und Risiken gemeinsam treffen können. Um diesen Prozess zu beginnen, sind folgende Schritte erforderlich:

* Gesundheitserziehung von der Wiege bis zum Grab: Wir müssen anfangen, Gesundheitskompetenz in der ersten Klasse zu unterrichten und ein Leben lang weiter zu führen.

* Ebenso muss die Ausbildung der zukünftigen Angestellten im Gesundheitswesen verbessert werden. Das heißt, dass der Umgang mit Risiken sowie die Bewertung von Forschungsergebnissen in der Ausbildung und der medizinischen Weiterbildung zum Standard werden sollen.

* Medienberichte über Gesundheitsthemen erfreuen sich großer Beliebtheit. Daher brauchen auch Wissenschaftsjournalisten eine entsprechende Ausbildung, um ausgewogen und transparent berichten zu können.

* Es sollten mehr Forschungsthemen entwickelt und finanziert werden, die für die Belange der Patienten relevant sind.

* Weltweit müssen die politischen Entscheidungsträger eine Rechtsvorschrift zur vollständigen und transparenten Berichterstattung über alle Forschungsergebnisse verabschieden.

* Das derzeitige Konzept der direkten Verbraucherwerbung ist nicht förderlich für die Gesundheitskompetenz, obwohl sie ein effektiver Partner sein könnte. Um das Potenzial zu erreichen, sollte eine transparente und vollständige Berichterstattung über die Vor-und Nachteile (einschließlich vergleichender Wirksamkeit) gefordert und durchgesetzt werden.

* Das Internet bietet die Chance, um die Gesundheitskompetenz sowohl der Bürger als auch der Fachleute zu verbessern, zum Beispiel durch sich selbst korrigierende soziale Netzwerke oder durch leicht zugängliche und verständliche Informationsangebote, die man der Überschwemmung mit fraglichen Gesundheitsinhalten entgegensetzen kann.

* Persönliche Patientendaten welche durch die Patienten kontrolliert und adäquat mit professionellen medizinischen Daten verlinkt sind, sollten unterstützt werden, da sie eine wesentliche Kraft in der Demokratisierung der Gesundheitsversorgung darstellen.


Das Ernst Strüngmann Forum widmet sich der interdisziplinären Forschung und unterstützt den dafür notwendigen wissenschaftlichen Austausch. Die Ergebnisse erscheinen in Zusammenarbeit mit MIT Press. Das Ernst Strüngmann Forum wurde durch die großartige Unterstützung der Ernst Strüngmann Stiftung ermöglicht, eingeweiht von Andreas und Thomas Strüngmann.

Für weitere Informationen besuchen Sie bitte unsere Webseite
http://fias.unifrankfurt.de/esforum
oder wenden Sie sich an
Andrea Schoepski: esforum@fias.uni-frankfurt.de

Weitere Informationen finden Sie unter
http://fias.unifrankfurt.de/esforum
http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/presse/2009/strueng09.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution654

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Dr. Petra Fox-Kuchenbecker, 04.11.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2009

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