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ARTIKEL/1138: 113. Deutscher Ärztetag 2010 - Eröffnungsrede Prof. Dr. Hoppe (BÄK)


Bundesärztekammer - Mai 2010

Vertrauen durch Dialog

Rede des Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, zur Eröffnung des 113. Deutschen Ärztetages in Dresden am 11. Mai 2010

Es gilt das gesprochene Wort.


Meine sehr verehrten Damen und Herren,

über Jahre haben wir gekämpft, um mit unseren Sorgen und Problemen gehört zu werden. Wir haben um Gesprächstermine nachgesucht, wir haben protestiert, wir haben demonstriert. Das war ein mühevolles, das war ein hartes Geschäft. Heute müssen wir nicht mehr kämpfen, um uns Gehör zu verschaffen. Heute sitzt hier jemand mit einem offenen Ohr für die tatsächlichen Probleme im Gesundheitswesen. Und endlich einmal müssen wir uns nicht mit einem Vorschaltgesetz zur Kostendämpfung auseinandersetzen.


Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, während der Eröffnung des 113. Deutschen Ärztetages 2010 in Dresden
© 2010 by Bundesärztekammer


Ich begrüße noch einmal ganz herzlich Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler.

Wir haben in der Vergangenheit immer wieder den Dialog angemahnt, weil wir der festen Überzeugung sind, dass wir nur miteinander wirklich sinnvoll gestalten können. Dass nur aus der Erfahrung der Ärzte, Pfleger und der vielen anderen Gesundheitsberufe heraus Politik Verständnis und damit auch Lösungskompetenz für die Herausforderungen unseres Gesundheitswesens entwickeln kann. Deshalb auch haben wir die Versorgungsforschung angestoßen. Über fünf Jahre lang haben wir Projekte gefördert, um wissenschaftlich analytisch, um empirisch sicher aufzeigen zu können, wie medizinische Versorgung auf der sogenannten letzten Meile tatsächlich aussieht. Denn darum geht es doch in der Gesundheitspolitik, Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass jeder Patient am Ende eine gute Medizin erhält.

Es muss wieder um den Menschen und nicht um Macht, es muss wieder um den Patienten und nicht nur um Politik gehen. Wir haben deshalb hoffnungsvoll zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag eine neue Dialogkultur für das Gesundheitswesen angekündigt wurde. Nach einem halben Jahr der Zusammenarbeit kann ich nur bestätigen, Herr Minister Rösler, dass Sie Ihre Ankündigung wahr gemacht haben und dass wir die Probleme gemeinsam angehen. Zu allen wichtigen Themen gibt es kontinuierliche Gespräche. Wir reden wieder miteinander und das ist auch gut so.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen aus Ihrer täglichen Arbeit, dass das Vertrauen in der Patienten-Arzt-Beziehung etwas Grundlegendes ist. Aber dieses Vertrauen will erarbeitet sein. Deshalb auch ist das Gespräch mit den Patienten so außerordentlich wichtig. Wir müssen nicht nur hören, wir müssen auch zuhören. Diese wechselseitige Bereitschaft des Verstehens erst ermöglicht uns die Empathie, die wir brauchen, um die Welt des anderen zu verstehen. Nicht anders verhält es sich in der Politik. Auch hier gilt: Vertrauen durch Dialog.

Fast möchte man all den Dogmatikern der letzten Jahre mit Ferdinand Lassalle zurufen:

"Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist - und beginnt damit.
Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist."

Wie nun sieht es tatsächlich aus in Deutschlands Kliniken und Praxen? Was erwarten die Patienten? Und was sind die Sorgen der Ärztinnen und Ärzte?

Ich muss nicht noch einmal ausführen, wie überbordene Bürokratie die tägliche Arbeit erschwert, wie Arbeitsbedingungen und Überstunden jungen Ärztinnen und Ärzten, die sich auch noch um ihre Familie kümmern wollen, den Einstieg in die kurative Medizin erschweren. Und auch wie das wirtschaftliche Risiko und die zunehmende Bedeutung von Haftungsfragen den Weg in die Niederlassung versperren. Wir haben früh auf diese Defizite aufmerksam gemacht, haben davor gewarnt, dass der Verlust an Attraktivität des Arztberufes sich ganz konkret auf das Niveau der Versorgung auswirken wird. Nun, da die Probleme nicht mehr verschwiegen und auch nicht mehr bemäntelt werden können, jetzt, wo der Ärztemangel in vielerlei Regionen offensichtlich geworden ist, gibt es endlich einen Wettbewerb um Ideen. Und, meine Damen und Herren, es ist auch allerhöchste Zeit, die Hütte brennt!

Minister Rösler hat es gesagt: Wir haben 5000 offene Stellen in den Krankenhäusern. Die Zahl der jungen Ärzte nimmt dramatisch ab, von 5, 1 Prozent im Jahre 2008 auf jetzt 4,5 Prozent. Den über 60-jährigen Kollegen, die mittlerweile mehr als 21 Prozent ausmachen, fehlt der Nachwuchs. Und da hilft es auch nicht, auf die gestiegene Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte zu verweisen, wenn die tatsächlich zur Verfügung stehenden Arztarbeitsstunden sinken. Denn - einmal abgesehen von Arbeitszeitvorschriften - die nachrückende Ärztegeneration hat Lebensentwürfe, die mit den bisherigen Marathondiensten im Krankenhaus oder der Selbstausbeutung in freier Praxis nicht mehr vereinbar sind.

Meine Damen und Herren, wir können nur dann attraktivere Arbeitsbedingungen schaffen, wenn wir genau über die Sorgen und Nöte der jungen Ärztinnen und Ärzte bescheid wissen. Wir haben deshalb Ärzte in Weiterbildung und deren Weiterbildungsbefugte konkret über deren Arbeitssituation und die Qualität der Weiterbildung befragt. Geantwortet haben uns fast 30.000 Ärztinnen und Ärzte. Im Ergebnis sind die Weiterzubildenden deutschlandweit grundsätzlich mit ihrer Weiterbildungssituation in Klinik und Praxis zufrieden. Sie gaben ihrer Weiterbildung insgesamt die Note 2,5. Mit Gut bewerten die Weiterzubildenden auch die Betriebskultur. Grundsätzlich zufrieden sind sie mit der Vermittlung von Fachkompetenz, mit der Entscheidungs-, Führungs- und Lernkultur an den Weiterbildungsstätten.

Aber die Umfrage hat auch gezeigt, dass der ökonomische Druck im Arbeitsalltag der jungen Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung zu einer enormen Belastung geworden ist. Leistungsverdichtung bei verkürzten Liegezeiten und bei einer Reduzierung der Stellen im ärztlichen Dienst führen zu extrem hoher Arbeitsbelastung. Es ist schon erstaunlich, dass die Personalkosten unserer Krankenhäuser von 65,2 % im Jahr 2002 auf 60,5 Prozent im Jahr 2008 zurückgegangen sind. Zunehmend auch werden gerade junge Ärztinnen und Ärzte durch den ausufernden Bürokratismus immer stärker mit nicht-ärztlichen, organisatorischen administrativen Tätigkeiten beansprucht. Diese Zeit fehlt dann in der medizinischen Versorgung und das spüren die Ärzte, die Weiterbilder, vor allem die Patientinnen und Patienten.

Wir werden die Daten dieser Befragungsrunde genau analysieren und die Studie wiederholen. Die Ergebnisse dieser ersten Umfrage sind aber schon jetzt ein klares Signal auch an die Politik, die Rahmenbedingungen der ärztlichen Arbeit in Deutschland schnell und spürbar zu verbessern.

Meine Damen und Herren, die Befragung hat einmal mehr deutlich gemacht, dass wir ein neues Denken für die Organisation ärztlicher Arbeit brauchen. Und da sind die Klinikträger ebenso aufgerufen, wie die Kassenärztlichen Vereinigungen. Wir müssen die alten Strukturen in Frage stellen und neue Modelle entwickeln. Wir müssen die Arbeitsbedingungen der Lebenswelt der jungen Ärzte und vor allem der jungen Ärztinnen anpassen. Deshalb auch haben wir Herrn Minister Rösler vorgeschlagen, einen bundesweiten Gipfel zu Arbeitszeitmodellen mit allen Beteiligten zu organisieren. Wir müssen über diese Probleme reden - nur dann können wir gemeinsam handeln.

Aber meine Damen und Herren, wir haben nicht nur Probleme beim Übergang vom Studium in die kurative Medizin, wir müssen auch das Medizinstudium selbst durchlüften. Das Studium der Medizin muss endlich praxistauglich werden. Der Patient darf nicht länger eine theoretische Größe sein. Die angehenden Ärztinnen und Ärzte müssen näher und früher an die Patienten herangeführt werden. Sie müssen sehen, was es heißt, später als Arzt zu arbeiten und sie müssen erleben, wie erfüllend es ist, Patienten zu helfen und zu heilen. Und das nicht nur mit hochspezialisierten Methoden, sondern auch und gerade mit denen der hausärztlichen Versorgung durch die Allgemeinmedizin. Dann, mein Damen und Herren, bin ich sicher, werden wir auch mehr Absolventen des Medizinstudiums bewegen können, später als Ärztin, bzw. als Arzt in der Patientenversorgung zu arbeiten.

Und natürlich müssen wir auch darüber nachdenken, die Zulassungskriterien zum Medizinstudium mehr auf die persönliche, soziale Eignung hin zu definieren. Seit Jahren plädieren wir dafür, den Notendurchschnitt nicht überzubewerten, sondern persönliche Motivation und soziales Engagement gleichwertig zu berücksichtigen. Dann heißt es immer, der Notendurchschnitt sei nur für 20 Prozent des Zugangs entscheidend. 60 Prozent könnten die Hochschulen nach eigenen Kriterien auswählen. Aber da muss man ganz ehrlich sein: Die deutschen Hochschulen nutzen diese Möglichkeit leider nur unzureichend. Da brauchen wir endlich frischen Wind an Deutschlands Universitäten.

Meine Damen und Herren, mit den bisherigen Rezepten können wir das Gesundheitswesen nicht kurieren. Wir brauchen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Wir müssen endlich die Lebenswirklichkeit in der Problemanalyse abbilden und nicht umgekehrt. Deshalb ist es so wichtig, dass die, die beteiligt und betroffen sind, Gehör finden.

Zu all diesen wichtigen Themen haben wir mit dem Bundesgesundheitsministerium Arbeitsgruppen gebildet, in denen wir gemeinsam, sachgerecht und zügig Lösungsvorschläge erarbeiten wollen. Und, Herr Minister Rösler, diesmal habe ich die Zuversicht, dass wir einen großen Schritt vorankommen.

Nun ist es nicht so, meine Damen und Herren, dass wir nicht auch verschiedener Meinung wären. Zwei Ärzte, eine Meinung, das kann es nicht immer geben.

Und Sie ahnen schon um welches Thema es geht. Es ist das Thema Rationierung und Priorisierung. Dass es zu Rationierung in der medizinischen Versorgung kommt, ist mittlerweile wohl unbestritten. Längst ist die sogenannte heimliche Rationierung öffentlich geworden. Aber wie wollen wir damit umgehen? Seit Jahr und Tag liegt der Anteil der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt konstant bei etwas über sechs Prozent, im Vergleich zu anderen in der OECD organisierten Staaten mit einem Durchschnittswert von mindestens acht Prozent. In den letzten zehn Jahren waren wir Deutschen sogar die Sparsamsten. Die Gesundheitskosten pro Kopf wachsen in Deutschland seit 10 Jahren nur noch um 1,7 Prozent im Jahr - unter den 31 Industrieländern der OECD ist das der 30. Platz. Das ist weit unter dem durchschnittlichen OECD-Wachstum von 4,1 Prozent.

Zugleich aber stehen wir vor der Herausforderung einer demografischen Entwicklung, die uns eine Gesellschaft des langen Lebens beschert, die aber auch zu Multimorbidität und zu einer erhöhten Zahl chronisch Kranker führt. Mehr denn je haben wir Möglichkeiten der medizinischen Diagnostik und Therapie. Aber die Schere zwischen dem, was wir leisten können und dem, was wir bezahlen können, klafft immer weiter auseinander. Und so auch zwischem dem, was das Sozialrecht bietet und dem, was das Haftungsrecht fordert. Und deshalb müssen wir darüber reden, wie wir trotz begrenzter Ressourcen eine gerechte Versorgung gestalten können.

Im derzeitigen System sehe ich nur einen Weg aus der Rationierung, nämlich die Diskussion um die Priorisierung. Und da darf ich noch einmal wiederholen, was Jan Schulze am Anfang gesagt hat, es ist ethisch nicht mehr vertretbar, diese Diskussion nicht zu führen. Auch über solch extrem schwierige Fragen, Herr Minister Rösler, müssen wir reden. Nicht nur wir beide, sondern im gesellschaftlichen Diskurs. Deshalb haben wir einen Gesundheitsrat vorgeschlagen, mit Philosophen, Theologen, Juristen, Patientenvertretern, Ärzten und Gesundheitsberufen, der diese Fragen im vorpolitischen Raum eingehend diskutiert. Auch hier gilt mehr denn je: Dialog schafft Vertrauen. Wir wollen die Menschen mitnehmen, wollen sie in die Entscheidungsprozesse einbinden. Sie müssen verstehen können, um was es geht - nur dann auch werden sie Verständnis für die Entscheidungen haben.

Meine Damen und Herren, Chancengleichheit im Zugang zu guter medizinischer Versorgung kann nur dann gewährleistet werden, wenn sie auf der Basis gesellschaftlich konsentierter Kriterien basiert und auch individuell einklagbar ist. Gerade dieses letzte Kriterium, dieser individuelle, rechtlich verankerte Anspruch des Patienten auf eine angemessene, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung ist es, was die Patientenrechte in Deutschland zu den stärksten der Welt macht. Wenn wir nun über ein Patientenrechtegesetz diskutieren, wie es im Koalitionsvertrag angekündigt wurde und wie es der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller, bis zum Ende des Jahres in Eckpunkten beschreiben möchte, dann kann es zunächst nur darum gehen, diese individuellen Patientenrechte, wie wir sie aus dem Behandlungsvertrag, aus dem SGB V und vielfältiger Richterrechtssprechung kennen, zu kodifizieren. Dann allerdings müssen wir darüber nachdenken, wie wir die kollektiven Patientenrechte, das heißt, die Rechte der Versicherten und Patienten gegenüber Staat und Gesellschaft, stärken. Das wird schwierig, ich weiß das, aber es ist wichtig, gerade vor dem Hintergrund von Rationierung und Mangelversorgung.

Der Bundesgerichtshof hat zuerst 1993 festgestellt, dass der Patient einen Anspruch hat, nach Facharztstandard behandelt zu werden. Das ist so eines dieser Patientenrechte durch Richterrechtsprechung. Und es ist ein wichtiges, meine Damen und Herren. Denn es gewährt den Patienten das Recht auf eine qualitativ hochwertige Versorgung und schützt ihn vor einer Deprofessionalisierung des Arztberufes. Und wann immer wir über die Grenzen von Delegation und Substitution diskutieren, dürfen wir dieses Schutzniveau für den Patienten nicht vergessen. Delegation bedeutet arztunterstützende und arztentlastende Maßnahmen unter originär ärztlicher Verantwortung. Substitution hingegen würde das Recht des Patienten auf Facharztstandard unterlaufen.

Wenn wir diese Grundsätze beachten, dann können wir die bisherigen Konzepte der Patientenversorgung gemeinsam weiterentwickeln. Und diese Zusammenarbeit brauchen wir auch. Denn moderne Medizin ist komplex und kann nur in arbeitsteiliger Kooperation zu guten Ergebnissen führen. Vor dem Hintergrund der therapeutischen Gesamtverantwortung des Arztes zielen wir auf ein synergetisches Zusammenwirken der verschiedenen Qualifikationen und Kompetenzen der Gesundheitsberufe, statt konkurrierende Parallelstrukturen aufzubauen.

Ein Großteil der Gesellschaft wird in absehbarer Zeit behandlungs- und pflegebedürftig, aber wir haben zu wenig Ärzte in der Behandlung und zu wenig Pflegepersonal in der Betreuung. Die familiären Strukturen sind brüchig geworden, soziale Verbandsstrukturen kaum noch tragend. Wir sind auf dem Weg in die Singlegesellschaft, aber der Single ist nicht nur der lebensfrohe Jungdynamiker, sondern mehr und mehr der alte einsame Mensch. Auch hier brauchen wir ein grundsätzlich neues Denken, müssen kreativ am Aufbau neuer Sozialstrukturen arbeiten, müssen gemeinsam Pilotprojekte fördern. Gesellschaft kann sich nicht mehr nur im Anspruch des Einzelnen an den Staat definieren, wir brauchen wieder mehr Rückbesinnung auf Gemeinwohl und gesellschaftliches Engagement. Die Gesundheitsberufe allein können diese Aufgabe nicht mehr stemmen. Wir brauchen die Hilfe aus der Mitte der Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft definiert sich auch immer aus dem Umgang mit ihren Randgruppen. Schwerkranke, zumal am Ende ihres Lebens, sind eine solche Randgruppe in Deutschland. Sterben und Tod sind in den Konsumgesellschaften der Moderne tabuisiert. Macht und Materialismus werden glorifiziert. Wer diesem Zeitgeist nicht mehr folgen kann, der wird ausgegrenzt, ist allein und empfindet sich - zumal im Alter - oft als Belastung. Es ist einfach so, dass viele - etwa 95 Prozent - derer, die vorzeitig aus dem Leben scheiden wollen, an starken Depressionen leiden. Deshalb müssen wir uns um diese Erkrankten kümmern, nicht aber einem Suizid den Weg bereiten. Es ist so leichtfertig, populistisch und gefällig nach einer Legalisierung der Sterbehilfe zu rufen. Das viel zitierte Selbstbestimmungsrecht wird doch zur Farce, wenn es durch gesellschaftliche Ausgrenzung und depressive Erkrankungen fremdbestimmt ist. Deshalb müssen gerade wir Ärzte den Patienten in der Gesamtheit seiner Lebenssituation sehen. Wir müssen, da, wo wir nicht mehr heilen können, helfen - auch helfen in Würde zu sterben. Und deshalb bleibt es bei unserem ethischen Gebot, helfen im Sterben, nicht helfen zu sterben. Töten darf keine Option im therapeutischen Instrumentarium des Arztes sein.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns einfach nur mehr um die unheilbar kranken Menschen kümmern. Wir müssen ihnen qualifizierte Schmerztherapie und bestmögliche Pflege bieten; sie müssen menschliche Nähe und Zuwendung spüren.

Dazu brauchen wir palliativmedizinische Versorgungsstrukturen im gesamten Land. Wenn wir diese Strukturen flächendeckend aufgebaut haben und die Menschen mehr über die Möglichkeiten der Schmerztherapie informieren, dann wird auch der Ruf nach aktiver Sterbehilfe verhallen. Sterben in Würde und ohne Schmerzen ist möglich.

Meine Damen und Herren, Sterben ist ein Teil des Lebens. Wir Ärzte sind dem Leben und dem Patienten verpflichtet, nicht dem Zeitgeist, der nach Tod ohne Sterben schreit.

Sterben ist nicht normierbar. Krankheitsverläufe sind immer individuell und lassen sich in Gesetzen - auch dem zur Patientenverfügung - nicht wirklich abbilden. Nun ist das neue Betreuungsrechtsänderungsgesetz zwar in Kraft, aber ob es wirklich hilfreich ist, ist zweifelhaft. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesärztekammer nun gemeinsam mit der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer die Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung überarbeitet. In unseren Empfehlungen geben wir den Ärztinnen und Ärzten, aber auch den Patienten eine grundlegende Orientierung im Umgang mit vorsorglichen Willensbekundungen. Zwar kann der Arzt dem Patienten die oftmals schwierige und als belastend empfundene Entscheidung über das Ob und Wie einer vorsorglichen Willensbekundung nicht abnehmen, wohl aber Informationen für das Abwägen der Entscheidung. Der Arzt kann über die medizinisch möglichen und indizierten Behandlungsmaßnahmen informieren, auf die mit Prognosen verbundenen Unsicherheiten aufmerksam machen und über seine Erfahrungen mit Patienten berichten, die sich in vergleichbaren Situationen befunden haben.

Meine Damen und Herren, es ist aber absolut illusorisch anzunehmen, dass man alle denkbaren Fälle mit einer Patientenverfügung erfassen kann. Deshalb ist und bleibt das Gespräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen entscheidend. Auch hier müssen wir Ärztinnen und Ärzte noch vieles lernen, aber diese Sozialkompetenz ist wesentlicher Bestandteil der ärztlichen Kunst.

Soziale Kompetenz und soziale Verantwortung sind für mich die entscheidenden Determinanten einer gesellschaftlichen Entwicklung. Wir Ärzte können zwar nicht die Gesellschaft in toto analysieren, geschweige denn verändern, aber wir sehen die einzelnen Menschen mit ihren Nöten, mit ihren Sorgen, mit ihren Krankheiten. Wir sehen die Symptome, wenn die Gesellschaft erkrankt. Wir sehen, wie Mangelernährung unter Kindern und Alkohol- und Drogenkonsum unter Jugendlichen zunimmt. Wir sehen die psychische Belastung alleinerziehender Mütter, die Zunahme von Burnout am Arbeitsplatz und die Einsamkeit alter Menschen. Wir können viele Faktoren erkennen, die zu Krankheit führen. Aber uns fehlen die Mitmenschen, die uns beim Heilen helfen. Das Soziale droht in unserer wachsenden Singlegesellschaft verloren zu gehen. Und das können wir weder als Ärzte kompensieren, noch können das Politiker durch Gesetze administrieren.

Eine Gesellschaft des langen Lebens erfordert neues Denken, erfordert ein Zusammenwirken all ihrer Kräfte für ein größeres soziales Engagement der Menschen untereinander. Eine Gesellschaft ist mehr als nur die sie umgebende Staatsform. Eine Gesellschaft wird maßgeblich geprägt durch ihre Kultur, durch den Umgang der Menschen miteinander. Gesundheit kann die große Frage des 21. Jahrhunderts werden und die Antwort liegt gewiss nicht allein bei Ärzten und Pflegern. Eine Gesellschaft des langen Lebens erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Wir können unsere Zukunft nur menschenwürdig gestalten, wenn wir uns rückbesinnen auf den Menschen als soziales Wesen. Wir brauchen endlich ein neues Signal aus der Mitte der Gesellschaft, wir brauchen einen Sozialpakt für die Zukunft. Wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind bereit, unseren Beitrag zu leisten.

*

Quelle:
Bundesärztekammer
Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern
Herbert-Lewin-Platz 1 (Wegelystraße), 10623 Berlin
Postfach 120 864, 10589 Berlin
Telefon: 030 / 40 04 56-0
E-Mail: info@baek.de
Internet: http://baek.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2010

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