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ARTIKEL/1150: Die Krise des Gesundheitswesens (spektrum/Uni Bayreuth)


spektrum 1/2010 - Universität Bayreuth

Die Krise des Gesundheitswesens
Länger gesund leben - wie lassen sich steigende Ausgaben finanzieren?

Von Dr. Volker Ulrich


Ausgangslage

Das deutsche Gesundheitssystem sieht sich mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert, in vielen Publikationen findet sich der Begriff von der Krise des Gesundheitswesens. Zu betonen bleibt aber auch, dass die Lebenserwartung alle 10 Jahre um rund 1 Jahr ansteigt, was im historischen Kontext noch nie dagewesen ist. Gerade für chronisch kranke Menschen wurden spezielle Programme eingeführt. Die gibt es seit 2004 unter anderem für Zucker- und Herzkranke sowie für Patienten mit Asthma. Das ist durchaus ein Erfolg der Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre, denn für die rund fünf Millionen Menschen, die in diesen Programmen eingeschrieben sind, ist die Zahl der Schlaganfälle und Herzinfarkte um ungefähr ein Drittel zurückgegangen.

Länger gesund zu leben scheint daher bereits ansatzweise Realität. Der Begriff von dem drohenden "finanziellen Kollaps des Systems", der "versteckten Rationierung" oder der "Zwei-Klassen-Medizin" suggeriert jedoch, dass wir uns Gesundheit in Zukunft nicht mehr leisten können oder dass im Wesentlichen nur Einkommensstarke oder Privatversicherte von den neuen Möglichkeiten profitieren. Die Frage nach einer tragfähigen Finanzierung der Gesundheitsversorgung wird zu einem Thema heftiger politischer und wissenschaftlicher Kontroversen.

Ein chronisch krankes System?

Neben der prognostizierten demographischen Entwicklung, die durch eine zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung bei einer gleichzeitig rückläufigen Geburtenrate gekennzeichnet ist, führt der medizinisch-technische Fortschritt zu einem wachsenden Finanzierungsbedarf: die moderne Medizin kann zwar immer mehr, es wird aber auch immer teurer. Im Gesundheitswesen dominieren die so genannten Produktinnovationen, die weitgehend additiv zum bestehenden Stand der Technik hinzukommen, während kostengünstige Prozessinnovationen eher seltener vorkommen. Die Jahrestherapiekosten moderner Krebsmedikamenten, in der Transplantationsmedizin oder bei der Behandlung der Hämophilie belaufen sich aktuell auf 50.000 EUR und mehr.

Die erste Krankenkasse, die unter den Regeln des neuen Gesundheitsfonds einen Zusatzbeitrag erheben musste, war die Gemeinsame Betriebskrankenkasse Köln (GBK Köln). Die GKB Köln mit 40.000 Mitgliedern ist in den Jahren 2005 und 2006 durch zwei Versicherte mit seltenen Fällen von Bluter-Erkrankungen in die roten Zahlen geraten. In einem Fall handelt es sich um einen 26 Jahre alten Versicherten, im zweiten um ein damals sechs Jahre altes Kind. Für die Medikamente zur Verhinderung der Blutgerinnung wurden in den beiden Jahren 2005 und 2006 rund 14 Mio. EUR aufgewendet. Da es weltweit nur ein einziges Mittel gibt, ist dies entsprechend teuer. Seit Juli 2009 zahlen Versicherte dort neben dem einheitlichen Beitragssatz 8,00 EUR Zusatzbeitrag im Monat. Heute verlangt die GBK Köln von ihren Mitgliedern sogar den maximalen Zusatzbeitrag in Höhe von bis zu 37,50 EUR. Seit Beginn der Erhebung von Zusatzbeiträgen haben über 250.000 Versicherte ihre Krankenkasse gewechselt, den größten Zulauf erfuhr die Techniker Krankenkasse (TK), die gegenwärtig noch auf die Erhebung von Zusatzbeiträgen verzichten kann und rund 130.000 neue Mitglieder gewonnen hat.

Ökonomen würden in dieser Entwicklung gerne das Funktionieren von Preissignalen sehen, bei näherem Hinschauen ist dies aber keinesfalls so. Da für den Zusatzbeitrag Im Unterschied zum sonstigen Risikostrukturausgleich kein Ausgleich der unterschiedlichen Versichertenstrukturen stattfindet, hängt die Höhe des Zusatzbeitrags zentral von der Versichertenstruktur einer Krankenkasse ab, was eigentlich hätte vermieden werden sollen. Je einkommensschwächer die Mitglieder, desto höher wird der Zusatzbeitrag einer Krankenkasse ausfallen. Unter diesen Anreizen werden die Krankenkassen mit einkommensschwachen Versicherten eher vom Markt ausscheiden, obwohl dies nicht auf Unwirtschaftlichkeit zurückgehen muss. Dadurch wird verhindert, dass sich die Krankenkassen im Wettbewerb vorrangig um die Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung bemühen. Hier beeinträchtigen die Konstruktionsfehler auf der Finanzierungsseite negativ das Geschehen auf der Leistungsseite.

Was ist zu tun?

Um auch in Zukunft die zu erwartenden wachsenden Gesundheitsausgaben und damit auch den Zugang zu Innovationen finanzieren zu können, gilt es Antworten auf folgende zentrale Fragestellungen zu finden: Wie kann ein nachhaltig finanziertes, tragfähiges Krankenversicherungssystem implementiert werden, das es erlaubt, einerseits eine hochwertig qualitative Versorgung der Patienten, andererseits aber auch die langfristige Finanzierbarkeit sicherzustellen? Wie geschildert, zeichnet sich im gegenwärtigen System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eine so genannte Gesundheitslücke ab, da das Finanzvolumen deutlich hinter dem notwendigen Finanzbedarf zurückbleiben wird. Diese Lücke wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen, getrieben von den Wechselwirkungen zwischen dem bevorstehenden demografischen Wandel und den Möglichkeiten des medizinisch-technischen Fortschritts.

Reformszenarien

Das eigentliche Problem des gegenwärtigen Finanzierungssystems besteht darin, dass der Gesundheitsfonds unter Zielaspekten weder Fisch noch Fleisch ist. Zudem hat der Gesundheitsfonds mit seinem Einheitsbeitrag den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen weitgehend zum Erliegen gebracht. Wenn man den Wettbewerb über den pauschalen Zusatzbeitrag stärken möchte - die ursprünglich wichtigste Aufgabe des Fonds - gibt allerdings die Begrenzung des Zusatzbeitrags wenig Sinn. Hier besteht konkreter Handlungs- bzw. Anpassungsbedarf.

Nach dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP bleibt im laufenden Jahr noch alles beim Alten. Erst ab 2011 soll es zu größeren Reformschritten kommen, die im Kern die folgenden zentralen Komponenten beinhalten:

• Einkommensunabhängige Beiträge der Arbeitnehmer, die durch einen steuerfinanzierten Ausgleich sozial abgefedert werden (Einstieg in die so genannte Kopfpauschale);

• Fixierung des Arbeitgeberanteils auf heutigem Niveau, der allerdings einkommensbezogen bleibt;

• stärkere Beteiligung der PKV-Versicherten an der GKV-Finanzierung über die Steuerfinanzierung des sozialen Ausgleichs;

• regionale Differenzierungsmöglichkeiten der Krankenkassen.

Ob über die geplante Kopfpauschale die erhoffte stärkere Abkopplung von den Arbeitskosten gelingt, bleibt allerdings offen und hängt von der konkreten Ausgestaltung des mit der Kopfpauschale zwingend einhergehenden Sozialausgleichs ab. Zu beachten ist dabei, dass die erforderliche Gegenfinanzierung des sozialen Ausgleichs durch Steuern wiederum Verzerrungen hervorruft, so dass ein Teil der Vorteile der einkommensunabhängigen Finanzierung auf der Arbeitnehmerseite wieder verloren geht. Nur pauschale Steuern lösen bei den Betroffenen keine Verhaltensänderungen aus, Einkommensteuern verzerren dagegen die Entscheidung zu arbeiten bzw. Freizeit zu genießen oder schwarz zu arbeiten. Allerdings besteht kein Automatismus mehr zwischen höheren Gesundheitsausgaben und höheren Lohnkosten; nur noch indirekt über höhere Lohnforderungen in den Tarifverhandlungen kann es zu Erhöhungen der Lohnnebenkosten kommen. Die zeitgleiche Verteuerung der Arbeitskosten durch steigende Gesundheitsausgaben, die prinzipiell zu Lasten der Arbeitsplätze geht, wäre durchbrochen.

Der zentrale Vorteil einer stärker einkommensunabhängig finanzierten GKV über die Kopfpauschale liegt jedoch woanders. Der Vorteil ist insbesondere darin zu sehen, dass der von der Politik in vielen Stellungnahmen ausdrücklich erwünschte Wettbewerb zwischen den Krankenkassen stärker als im gegenwärtigen System stattfinden kann und dass das Umverteilungssystem transparenter und damit auch gerechter wird. Um dem Gerechtigkeitsziel Genüge zu tun, sind zur Gegenfinanzierung allerdings Steuererhöhungen bei mittleren und hohen Einkommen erforderlich. Die Gegenfinanzierung bei der Einkommensteuer sollte konkret über Steuererhöhungen oberhalb des Durchschnittseinkommens und bis zur Beitragsbemessungsgrenze erfolgen, d.h. die Besserverdienenden sind an der Finanzierung des sozialen Ausgleichs in einem stärkeren Ausmaß zu beteiligen. Hier ist von der Politik eine größere Klarheit einzufordern. Allgemeine Steuersenkungen auf der einen Seite sollten nicht versprochen werden, wenn zur Finanzierung des Sozialausgleichs Steuermehrbelastungen erforderlich sind und der Abbau der ausufernden Staatsverschuldung Priorität besitzt.

Die Krankenkassen erhalten bei der Einführung einer krankenkassenspezifischen Kopfpauschale einen Teil ihrer durch den einheitlichen Beitragssatz verloren gegangenen Finanzautonomie zurück. Die Vorteile einer partiellen Rückübertragung der Finanzautonomie auf die Krankenkassen liegen vor allem in einer größeren Mittelverantwortung und in den flexibleren Anpassungsmöglichkeiten infolge krankenkassenspezifischer Veränderungen. Weiterhin werden die Versicherten nach ihrem gesamten Haushaltseinkommen und damit gemäß ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung ihres Krankenversicherungsbeitrags herangezogen. Zudem kommt es über den steuerfinanzierten Sozialausgleich insgesamt zu einer stärkeren Beteiligung der Versicherten in der privaten Krankenversicherung (PKV) an der GKV-Finanzierung.

Langfristig wird es interessant sein zu sehen, ob und wie der eingeschlagene Weg weiter gegangen wird. Insgesamt gilt es zu betonen, dass die geschilderten Probleme nicht durch Einzelmaßnahmen zu lösen sind. Erforderlich ist ein durchgängiges Konzept, damit Deutschland sein verlässliches und solidarisches Gesundheitswesen nicht gefährdet. Gesucht ist ein Ansatz in der Gesundheitspolitik, der die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens erhält und gleichzeitig die Finanzierungswege überprüft bzw. wo erforderlich auch ändert. Mit vier Millionen Beschäftigten ist der Gesundheitssektor der mit Abstand größte Wirtschaftssektor mit einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von zehn bis zwölf Prozent. Eine Reform, die für zehn oder zwanzig Jahre jeden Nachsteuerungsbedarf überflüssig macht, gibt es nicht. Die Finanzierungsfrage muss zwar gelöst werden, aber der Fokus der Gesundheitspolitik sollte mindestens genauso auf den Versorgungsfragen liegen. Der "Kampf gegen steigende Gesundheitsausgaben" kann nicht alleine auf der Finanzierungsseite gewonnen werden. Die Notwendigkeit, die Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen auch langfristig zu sichern, erfordert zwingend eine schrittweise Anpassung und Weiterentwicklung der gegenwärtig vorhandenen Versorgungsstrukturen. Erforderlich sind Lösungen, damit die steigende Zahl älterer Menschen medizinisch gut versorgt werden kann. Die Versorgung muss so ausgerichtet sein, dass sie möglichst lange selbständig bleiben und Lebensqualität behalten. Aber auch jungen Menschen müssen gute gesundheitliche Entwicklungschancen eröffnet und erhalten werden. Dazu rechnen auch Bildungschancen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat in seinem aktuellen Gutachten mit dem Titel "Koordination und Integration - Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft" die spezifischen Versorgungsbedarfe im Lebenszyklus der Menschen klar herausgearbeitet. Es bleibt zu hoffen, dass die Gesundheitspolitik die erforderliche Balance findet.

Professor Dr. Volker Ulrich ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre III/Finanzwirtschaft.

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Quelle:
spektrum 1/2010, S. 11-13
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Tel.: 09 21/55-53 23, -53 24, Fax: 09 21/55-53 25
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Internet: www.uni-bayreuth.de
 
"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2010

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