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ARTIKEL/1161: Gesundheitsgerecht ... Finanzierung und Versorgungsqualität (spw)


spw - Ausgabe 4/2010 - Heft 179
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Finanzierung und Versorgungsqualität

Von Karl Lauterbach und Markus Lüngen


In der Diskussion um eine Gesundheitsreform drängt sich der Eindruck auf, dass es nur um politische Befindlichkeiten geht. Dies ist jedoch falsch. Die politische Diskussion hat einen harten Kern, die Entscheidung zwischen Kopfpauschale und Bürgerversicherung.

Diese Ausgestaltung der Finanzierung hat nicht nur Verteilungswirkungen für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Sie wirkt darüber hinaus auch auf die Qualität der Versorgung und den Zugang zu Leistungen. Es geht um mehr als Parteipolitik und Wählerinteressen.

Der Zusammenhang zwischen Tarifgestaltung und Qualität wurde in der Diskussion um Kopfpauschalen, Zusatzbeiträge und Sparpakete bisher in den Hintergrund gedrängt. Jedem Bürger präsent ist der Zusammenhang zwischen dem Tarif der Krankenkassen und der Belastung des einzelnen Mitglieds: Eine Kopfpauschale belastet Geringverdiener stärker, ein prozentualer Beitrag belastet den Gutverdiener stärker, zumindest bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Weit weniger bekannt ist, dass die Art, wie das Geld ins Gesundheitssystem kommt, auch massiv dessen Qualität beeinflusst. Kopfpauschalen sind verknüpft damit, dass es bei unterschiedlichen Vergütungssystemen, unterschiedlichen Vertragsgestaltungen und Risikoselektion gegenüber den Versicherten bleibt. Alle drei Missstände sorgen dafür, dass Ärzte und Krankenhäuser einige Patienten systematisch umwerben und andere systematisch Nachteile in der Versorgung hinnehmen müssen.

Unterschiedliche Vergütungssysteme

Im Kopfpauschalensystem werden die heute höheren Vergütungen für die privatvertragliche Behandlung nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) nicht angetastet. Dies hat zur Folge, dass Arztpraxen und Krankenhäuser zwangsläufig ihre Patienten klassifizieren. Dies betrifft nicht nur privat Versicherte, sondern auch Selbstzahler. Der einzige Ausweg ist, dass identische Leistungen auch identisch vergütet werden. Nicht wirksame Leistungen sollen zudem (im idealen Fall) überhaupt nicht von den Kassen vergütet werden.

Dies betrifft nicht nur die Vergütung pro Leistung, sondern auch die Leistungsmenge. Oft wird beklagt, dass Arztpraxen am Ende eines Quartals kein "Budget" mehr für gesetzlich Versicherte haben. Die Ärzte arbeiten nach dieser Argumentation einen Teil ihrer Arbeitszeit praktisch umsonst. Hingegen können privat Versicherte oder Selbstzahler auch am Quartalsende ohne Budgetbegrenzung noch Leistungen in Anspruch nehmen, die ohne Abschlag vergütet werden. Dies führt dazu, dass privat Versicherte nicht nur in der Arztpraxis bevorzugt werden, sondern auch noch mehr Leistungen bekommen. Dies muss nicht immer zu ihrem Vorteil sein, denn jede Leistung birgt auch ein Risiko. Jede Überversorgung verbraucht Ressourcen, die jemand anders nicht mehr in Anspruch nehmen kann.

Daher muss die Vergütung, unabhängig vom Versicherungsstatus, angepasst werden, um ein möglichst hohes Qualitätsniveau erreichen zu können. Die Bürgerversicherung sieht vor, dass vor dem Arzt alle Patienten gleich sind.

Unterschiedliche Vertragsgestaltung

Die Bürgerversicherung bietet allen Bürgerinnen und Bürgern einkommensbezogene und paritätische Beiträge, Kontrahierungszwang für die Krankenversicherungen, Anspruch auf einen gesetzlichen Leistungskatalog und die Fortführung des Sachleistungsprinzips. In diesem Rahmen können sich alle Krankenversicherungen um Mitglieder bemühen. Bürgerinnen und Bürger wählen ihre Versicherung und haben Anspruch auf wirksame und effiziente Leistungen. Ob die Krankenversicherung zuvor dem Lager der gesetzlichen Krankenkassen oder der privaten Krankenversicherung zuzurechnen war, ist dabei unerheblich. Es gilt ein einheitlicher und fairer Versicherungsmarkt.

Das Kopfpauschalensystem der Ministeriumsvorschläge hingegen beinhaltet, dass es weiterhin möglich ist, aus der gesetzlichen Krankenkasse in die private Versicherung zu wechseln. Im Kern bleiben parallele Versicherungsmärkte bestehen.

Dies hat deutliche Auswirkungen auf die Qualität. Ihre Vertragsbedingungen führen dazu, dass privat Versicherte beispielsweise Krankenhausärzte aufsuchen können für eine reguläre, ambulante fachärztliche Behandlung, etwa im Rahmen der Einholung einer Zweitmeinung oder auch therapeutischen Abklärung. Der behandelnde Arzt liquidiert die Behandlung über eine Privatabrechnung und der Patient reicht diese anschließend bei seiner Versicherung ein. Es entsteht somit ein unmittelbares Rechtsverhältnis zwischen dem Arzt und dem Patienten, welches in der GKV aus guten Gründen nicht eingeführt wurde. Dort gilt das Sachleistungsprinzip.

Die abweichenden Gestaltungen führen jedoch dazu, dass der Zugang zu Leistungen sich in einem Maß unterscheidet, der sich nicht mehr auf Behandlungsnotwendigkeiten oder Angemessenheit zurückführen lässt. Der Grundsatz, dass sich die Behandlung nach der medizinische Notwendigkeit richtet, wird verletzt. Zwar können auch gesetzlich Versicherte zunehmend Krankenhausärzte für ambulante Behandlungen in Anspruch nehmen, doch ist dies punktuell und nicht konsistent an Behandlungsnotwendigkeiten und der erreichbaren Qualität ausgerichtet.

Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Versicherungsstatus darüber entscheidet, welche Versorgung ein Patient erhält. Entweder ist eine Behandlung sinnvoll, dann sollten alle Patienten sie in Anspruch nehmen können. Oder sie ist nicht sinnvoll, dann sollte der Zugang für alle Krankenversicherungen sanktioniert sein. Denn wenn ein Spezialist seine Arbeitszeit mit einer objektiv überflüssigen Behandlung verbringt, fehlt die Zeit für andere Patienten, die sinnvoll behandelt werden können.

Eine weitere unmittelbare Auswirkung auf die Qualität ergibt sich durch die Entscheidung der Ärzte, wo sie sich niederlassen. Es wird oft beklagt, dass zu wenige Ärzte in ländlichen Regionen verfügbar sind, vor allem in Ostdeutschland. Dabei wird argumentiert, dass in ländlichen Räumen die Praxis- und Lebenshaltungskosten oftmals geringer seien. Bei gleicher Vergütung könnte der Arzt daher in der Landarztpraxis bei gleichen Leistungen mehr Profit erzielen. Die Ballung von Ärzten in Städten scheint daher zunächst ökonomisch widersinnig.

Dies trifft jedoch nicht zu und die Ursache für die lohnende Praxis in der Stadt resultiert aus der möglichen Abrechnung privater Leistungen bei Patienten. Für den Arzt lukrative Privatpatienten drängen sich nicht in ländlichen Regionen, sondern in Städten - und dort oft in wenigen Stadtteilen. In diesem Umfeld wird sich der finanziell rational handelnde Arzt niederlassen. Diesen eher gut betuchten Patienten kann der Arzt nicht nur Leistungen auf private Abrechnung anbieten, er kann zudem auch die Individuellen Gesundheitsleistungen ausbauen (IGeL), die entweder medizinisch nicht sinnhaft sind oder die aus anderen Gründen nicht von der Krankenkasse erstattet werden (etwa Entfernungen von Tätowierungen). Über der Hälfte der Patienten wurden bereits Leistungen aus dem Katalog IGeL angeboten. Der Umfang richtet sich nach Fachrichtungen, etwa von 61,7 Prozent der Besucher beim Augenarzt bis zu nur 14,5 Prozent der Besucher beim Hausarzt, welche laut Umfragen bereits IGeL Leistungen angeboten bekamen oder in Anspruch nahmen. Wesentliche Umsatzanteile der Ärzte hängen nicht nur davon ab, welche Fachrichtung sie gewählt haben, sondern auch von der regionalen Lage ihrer Praxis. Der für die Versorgung grundlegende Arzttypus, der oftmals verklärte Landarzt, hat dabei im System die schlechtesten Aussichten. Besonders begünstigt sind Ärzte, welche viele privat Versicherte behandeln können und zudem ein Zusatzgeschäft mit zweifelhafter Wirksamkeit aufbauen. Patienten mit überdurchschnittlicher Bildung und höherem Einkommen bekommen daher IGeL deutlich häufiger angeboten. Das bedeutet nicht zwangsläufig bessere Versorgung. Qualitativ hoch stehende Versorgung wird durch eine Wellnesskultur bereits auf ärztlicher Ebene verdrängt.

So entsteht Überversorgung in Städten und Unterversorgung auf dem Land. Diese Auswirkungen sind strukturell bedingt und würden durch eine Bürgerversicherung bekämpft.

Risikoselektion

Eine weitere unmittelbare Auswirkung eines Kopfpauschalensystems betrifft die Anreize zur Risikoselektion. Weil für Patienten- oder Versichertengruppen Risiken für zukünftige Ausgaben bekannt sind, können Krankenkassen oder Krankenhäuser sich entscheiden, sie nicht zu umwerben und Schwerpunkte nicht in unprofitablen Bereichen zu setzen. In Deutschland müssen gesetzliche Krankenkassen jeden Versicherten aufnehmen. Diese Errungenschaft ist hoch einzuschätzen und zu schützen. Doch wird noch immer manipuliert. So wird Werbung gezielt dort gestreut, wo finanziell lohnende Mitgliedergruppen wohnen oder sich informieren (etwa in Fitnesszeitschriften, entsprechenden Internetforen, neben Studierendenbüros etc.) Zudem können Satzungsleistungen, wie z.B. Präventionsangebote, so geschneidert sein, dass sie die interessanten Zielgruppen ansprechen, etwa körperlich bereits aktive Menschen. Um die Risikoselektion zu mindern, wurde der Risikostrukturausgleich eingeführt, der im Gesundheitsfonds ab 2009 verfeinert wurde. Demnach erhalten Krankenkassen um so mehr Geld zugewiesen, um so höher die Morbidität (Krankheitslast) ihrer Versicherten ist.

Die Kopfpauschale wird die Risikoselektion wieder verschärfen. Sofern Krankenkassen neben dem regulären Beitrag von 14,9 Prozent einen Zusatzbeitrag erheben müssen, wird dieser allein vom Versicherten getragen und ist bisher begrenzt auf maximal 1 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens. Dies dient dem Schutz vor finanzieller Überlastung. Das Kopfpauschalenmodell sieht nun vor, die Zusatzbeiträge erheblich auszudehnen. Sie sollen die wesentliche Last kommender Kostenentwicklungen übernehmen. Dies führt jedoch dazu, dass Krankenkassen bei Beziehern geringer Einkommen einen niedrigeren Eurobetrag als Zusatzbeitrag erheben können als bei Beziehern hoher Einkommen. Damit werden Bezieher hoher Einkommen für Krankenkassen sehr viel interessanter, da die Überlastungsregel bei diesen später greift. Somit entscheidet nicht die Effizienz einer Krankenkasse darüber, ob sie besteht, sondern die Einkommenshöhe ihrer Mitglieder.

Dies führt dazu, dass Krankenkassen diese Gruppen mit hohen Einkommen stärker umwerben. Die Präventionskurse, die Einrichtung von Geschäftsstellen in attraktiven Wohngebieten etc. gehören dazu. Das Kopfpauschalenmodell mit einer höheren Bedeutung von Zusatzbeiträgen wird diesen Trend verschärfen.

Die Bürgerversicherung hingegen begegnet Risikoselektion in mehrfacher Hinsicht. Kommen Krankenkassen nicht mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds aus, werden weitere Mittel als prozentualer Anteil bei den Mitgliedern erhoben und nicht als Kopfpauschalen. Zusätzlich werden diese Mittel so austariert, dass eine Krankenkasse keinen Vorteil davon hat, dass sie Hochverdiener versichert. Haben die Mitglieder einer Kasse sehr niedrige beitragspflichtige Einkommen, wird der tatsächliche Betrag für die Krankenkasse aufgestockt, hat eine andere Kasse Mitglieder mit überdurchschnittlich hohen Einkommen, wird der geschöpfte Betrag abgesenkt. Dies führt dazu, dass Krankenkassen allen Mitgliedern beste Versorgungsqualität bereit stellen werden, denn der Wettbewerb richtet sich nicht auf "gute Risiken", sondern auf eine wirksame Versorgung.

Zusammenfassung

Einnahmensystem und Qualität müssen zusammen betrachtet werden. Das deutsche System ist derzeit nicht optimal. Kopfpauschalen verschlechtern es. Zu nennen sind Verzerrungen für Leistungserbringung durch die Beibehaltung der GOÄ, die ungleiche regionale Verteilung von Ärzten, die Bevorzugung von Facharztgruppen, und schließlich die Bevorzugung von Mitgliedern mit hohen Einkommen. Kopfpauschalen sehen nicht vor, dass die PKV in das Wettbewerbssystem der GKV eingegliedert wird. Um in Deutschland ein höheres Qualitätsniveau zu erreichen, bedarf es faireren Wettbewerbs und angemessenen Zugangs. Dies sieht die Bürgerversicherung vor.

Prof. Dr. med. Dr. Sc. (Harvard) Karl Lauterbach ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD-Bundestagsfraktion.

PD Dr. rer. pol. Markus Lüngen ist Leiter des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2010, Heft 179, Seite 35-38
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2010

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