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ARTIKEL/1168: 6. Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Braunschweig, 7.-9.10.2010 (DAlzG)


Deutsche Alzheimer Gesellschaft - 8./12. Oktober 2010

6. Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Braunschweig, 7.-9.10.2010

- Leben mit Demenz - Krankenhaus, Autofahren, Pflegeoase
- Impulse für die Zukunft. Fördergelder für die Forschung


Pressemitteilung vom 8. Oktober 2010
zum zweiten Tag beim Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft

Leben mit Demenz - Krankenhaus, Autofahren, Pflegeoase

Berlin, 08.10.2010. Am zweiten Tag des Kongresses der Deutschen Alzheimer Gesellschaft "Gemeinschaft leben" besuchten 880 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz Deutschland eine Vielzahl von Veranstaltungen. Unter anderem ging es um die folgenden Themen:

Eine der dringendsten Herausforderungen ist momentan die Versorgung Demenzkranker im Akutkrankenhaus. Wenn Menschen mit Demenz wegen eines Knochenbruchs oder einer Operation in ein Allgemeinkrankenhaus müssen, wird daraus für die Kranken häufig eine Krisensituation, die Angst, Verwirrung und Unruhe auslösen kann. Eine angemessene Betreuung wird vor allem dadurch verhindert, dass das Krankheitsbild im geltenden Vergütungssystem der Krankenhäuser kaum berücksichtigt wird. Konzepte zur fachlichen Qualifizierung des Krankenhauspersonals sind vorhanden, werden bisher aber nur in wenigen Krankenhäusern umgesetzt. "Im Krankenhaus beschäftigt man sich meistens nicht ernsthaft damit, die Strukturen und Arbeitsprozesse auf diese wachsende Zielgruppe einzustellen, sondern stempelt demenzkranke Patient/innen als nervige Störenfriede ab" lautete das Fazit von Sabine Kirchen-Peters (Saarbrücken).

Autofahren mit einer Demenzerkrankung ist ein heikles Thema. Im frühen Stadium wollen und können viele Demenzkranke noch fahren. Doch früher oder später gefährden sie sich selbst und andere. Wie schwierig eine zuverlässige Einschätzung der Fahrfähigkeit von Menschen mit Demenz ist, erklärte Dr. H. Elisabeth Philipp-Metzen (Münster). Ein generelles Fahrverbot im frühen Stadium ist allerdings weder aus medizinischer noch aus rechtlicher Sicht erforderlich. Im Einzelfall muss der behandelnde Arzt entscheiden, ob das Autofahren aufgegeben werden sollte. Manchmal, wenn der Patient nicht einsichtig ist, ist er verpflichtet seine Schweigepflicht zu brechen und die Ordnungsbehörde zu informieren, wie Bärbel Schönhof (Bochum) erläuterte.

"Demenz und Spiritualität" ist in Deutschland noch ein relativ neues Thema. Wie Prof. Karin Wilkening (Braunschweig) ausführte, zeigen Studien aus den USA, dass spirituelle bzw. religiöse Faktoren von großer Bedeutung für die Krankheitsbewältigung und das Wohlbefinden auch bei Demenzkranken sind. Die Spiritualität gehöre, so Prof. Klaus Baumann (Freiburg) zum Wesenskern des Menschen, der auch bei einer Demenzerkrankung erhalten bleibe. Bei der Betreuung Demenzkranker sei deshalb auch die Glaubensbiografie zu berücksichtigen, die höchst individuell, persönlich und emotional sein könne. Dies bestätigte Geertje-Froken Bolle (Wandlitz): "Dem einen ist das Abendgebet heilig, der anderen der Kaffee am Morgen".

In der Veranstaltung "Demenz am Lebensende" ging es um "Pflegeoasen", spezielle Bereiche in Pflegeheimen, in denen schwer pflegebedürftige Demenzkranke in der letzten Lebensphase gemeinsam in einem freundlich gestalteten Raum betreut werden. Bemerkenswert ist dabei die ständige Präsenz (mindestens) einer Mitarbeitenden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von unterschiedlichen Pflegeoasen in Deutschland stellten Birgit Schuhmacher (Freiburg) und Christina Kuhn (Stuttgart) vor. In der Diskussion blieb die Frage offen, ob Pflegeoasen flächendeckend eingerichtet werden sollten, oder ob ähnliche Bedingungen auch in ambulant betreuten Wohngemeinschaften und Heim-Wohnbereichen mit Tagesoasen möglich sind.

Die Frontotemporale Demenz (FTD) ist ein Krankheitsbild, das in Deutschland etwa 33.000 Menschen und ihre Familien betrifft. Die meisten Betroffenen stehen bei Krankheitsausbruch noch im Erwerbsleben, haben häufig Kinder im Schulalter oder in der Ausbildung. Die Krankheit zeigt sich zunächst vor allem in auffälligem Verhalten, z.B. in einem völligen Desinteresse an Familie und Freunden, Hobbys und Beruf, in plötzlicher Rigidität, alles muss nach starren Regeln ablaufen, oder auch in seltsamem Essverhalten. Bisher gibt es keine Medikamente, die den Verlauf der Krankheit wirksam beeinflussen könnten. Deshalb sei es wichtig, den richtigen Umgang mit den Verhaltensweisen zu finden, wie Dr. Eike Spruth (Berlin) erläuterte. Spezielle Angehörigengruppen zur FTD, von denen es eine in Berlin gibt, bilden einen guten Rahmen, um dafür geeignete Wege zu entwickeln und für die gegenseitige Unterstützung der Angehörigen, die sich von Freunden und Bekannten oft sehr alleine gelassen fühlen, wie Christa Matter und Angelika Fuls (Berlin) berichteten. Um über das relativ seltene Krankheitsbild zu informieren hat die Deutsche Alzheimer Gesellschaft die DVD "Leben mit FTD" herausgegeben, die von Susanna Saxl und Helga Schneider-Schelte (Berlin) erstmalig vorgestellt wurde.

Auch interessante regionale Initiativen wurden vorgestellt. Die Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen hat ein "Curriculum Demenzkranke im Krankenhaus" entwickelt. Der Fahrdienst Braunschweiger "Dementen-Taxi" wurde von ambet e.V. organisiert. Die Arbeitsgemeinschaft Braunschweiger Alzheimer Tage engagiert sich für eine "Demenzfreundliche Kommune".

Die Schirmherrschaft über den Kongress haben Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, sowie Aygül Özkan, Niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration übernommen.

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Pressemitteilung vom 12. Oktober 2010
zum Abschluss des Kongresses der Deutschen Alzheimer Gesellschaft:

Impulse für die Zukunft. Fördergelder für die Forschung

Berlin, 12.10.2010. Der 6. Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft unter dem Motto "Gemeinschaft leben" wurde am 9. Oktober 2010 mit einer Podiumsdiskussion und der Verleihung der Forschungsförderung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sowie der Vergabe von Förderpreisen abgeschlossen. 880 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Deutschland erlebten einen anregenden Kongress, der auch genug Raum bot, um intensive Gespräche zu führen und interessante Kontakte zu knüpfen.

Die Podiumsdiskussion stand unter dem Motto "Gemeinschaft leben - Perspektiven für die Zukunft". Moderator Burkhard Plemper (Hamburg) fragte Helga Rohra (München), bei der vor vier Jahren eine Demenz vom Typ Lewy-Body diagnostiziert wurde, was sie bewogen habe, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Helga Rohra: "Ich möchte mich für die Rechte von Menschen mit Demenz einsetzen. Gleich nach der Diagnose fand ich zur Alzheimer Gesellschaft München, deren Vorstandsmitglied ich inzwischen bin. Dort erfahre ich menschliche Wärme und fachliche Kompetenz, die mir starken Rückhalt geben".

Heike von Lützau Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft beschrieb die Entwicklung: "Vor 20 Jahren haben Angehörige begonnen, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, heute sind es zunehmend Demenzkranke selbst". Auch in Belgien, so Sabine Henry, Vorsitzende der belgischen Alzheimer Gesellschaft und Vorstandsmitglied von Alzheimer Europe, würden sich immer mehr Betroffene beim Alzheimer-Telefon melden. In Belgien gebe es zahlreiche Alzheimer Cafés, in denen sich Menschen mit und ohne Demenz treffen und offen über die Krankheit sprechen.

Michael Baumgart von der Gerontopsychiatrischen Beratungsstelle Braunschweig sprach von der Erfahrung, dass Demenzkranke im frühen Stadium ein normales Alltagsleben führen möchten. Um das zu ermöglichen, werden in Braunschweig u.a. Schulungen durchgeführt, in denen das Personal von Banken und Supermärkten, Taxifahrer, Polizisten und Feuerwehrleute lernen, Anzeichen einer Demenz zu erkennen und sensibel zu reagieren. Dabei gelte der Grundsatz: "Hilfe anbieten, nicht aufdrängen".

Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer (Göttingen), der sich als Vorsitzender der "Aktion Demenz" für "demenzfreundliche Kommunen" einsetzt, betonte, dass es um eine Gesellschaft gehe, die insgesamt menschenfreundlicher wäre, ein neues Miteinander. Demenzkranke seien ein "Stachel", denn sie fügen sich nicht dem Trend zu Beschleunigung, Rationalisierung, Optimierung. Es sei noch viel zu tun, doch, so Gronemeyer: "Das Thema Demenz ist in den letzten Jahren in der Gesellschaft angekommen".

Heike von Lützau-Hohlbein, die auch Vorsitzende von Alzheimer Europe ist, bestätigte dies für die europäische Ebene. Die Europäische Alzheimer Allianz, der knapp 10 % der Abgeordneten des Europäischen Parlaments angehören, habe durchgesetzt, dass Demenz offiziell zu einer Priorität des Gesundheitswesens erklärt wurde. "Die Europäische Union kann Druck auf die Mitgliedsländer ausüben, doch wir alle müssen dort, wo wir sind, selber etwas tun. Dazu können auch die Medien beitragen, indem sie ein differenziertes Bild des Alterns und der Demenz zeichnen".

Abschließend sagte Helga Rohra: "Es hat mir viel Kraft gegeben, auf diesem Kongress zu sprechen. Das möchte ich an andere weitergeben."

Wibke Bruhns, die Schirmherrin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, übergab die zum 6. Mal vergebene Forschungsförderung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, die aus zweckgebundenen Spenden finanziert wird. Aus 33 Anträgen wählten der Fachliche Beirat und der Vorstand der DAlzG zwei Projekte aus.

Das von Prof. Dr. Sabine Engel, Institut für Psychogerontologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Semra Altinisik, Klinikum Neuperlach, Zentrum für Akutgeriatrie und Frührehabilitation, beantragte Forschungsprojekt "EduKationTÜRKISCH - Entlastung durch Förderung der Kommunikation bei Angehörigen demenzerkrankter türkischer Migrantinnen und Migranten" wird mit rund 68.000 Euro gefördert. Ziel dieses Projekts ist es, ein bereits erprobtes Schulungskonzept entsprechend den Bedürfnissen der Angehörigen Demenzkranker türkischer Herkunft zu modifizieren. Semra Altinisik dankte für die Unterstützung des Vorhabens, das praxisnahe Hilfen für die rasch wachsende Gruppe der betroffenen türkischen Migrantinnen und Migranten ermöglichen soll.

Ferner wird das von Gudrun Ulbrecht, Birgit Eichenseer (Bereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen) und Hans-Dieter Mückschel (Angehörigenberatung e.V. Nürnberg) eingereichte Projekt gefördert: "Verbesserung der Lebensqualität, Motorik, Kognition und Beziehungsqualität bei zuhause lebenden Menschen mit Demenz mittels gezieltem Bewegungstraining, Tanzen oder sensomotorischem Training in Gruppen mit Angehörigen". Hierfür stehen Fördermittel von rund 73.000 Euro zur Verfügung. Die Studie soll Akzeptanz, Nutzen und Nachhaltigkeit von drei unterschiedlichen Aktivierungsprogrammen erforschen: Bewegungstraining, Paartanz, sensomotorisches Training.

Wibke Bruhns hob die hohe wissenschaftliche Qualität der beiden Projekte und den erwartbare praktischen Nutzen für Demenzkranke und ihre Angehörigen hervor.

Den mit 35.000 Euro dotierten Preis der Dr. Karl und Ruth-Schönwald Stiftung erhielt das von Prof. Dr. Stefan Görres und Dr. Martina Stöver, Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen, eingereichte Projektvorhaben "Demenzsensible nicht-medikamentöse Konzepte in Pflegeschulen: Bundesweite Vollerhebung der Vermittlung pflegerischer Kompetenzen in der Ausbildung, die zur nachhaltigen Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Demenz in Akutkliniken beitragen". Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Stiftung, sagte bei der Übergabe, das Projekt könne einen wesentlichen Beitrag zur dringend notwendigen Verbreitung von demenzsensiblen Konzepten in Akutkrankenhäusern leisten.

Das 2007 begonnene Projekt "Selbsthilfegruppen für Menschen mit Demenz im Frühstadium" der Alzheimer Gesellschaft Minden-Lübbecke (Dr. Harriet Heier, Hartmut Emme von der Ahe, Hartmut Schilling) erhielt den mit 10.000 Euro dotierten "Hertie - Preis für Engagement und Selbsthilfe", der gemeinnützigen Hertie-Stiftung, den Dr. Eva Koch überreichte. Dr. Harriet Heier sagte in ihrem Dankwort: "Das Motto unserer Gruppe für Frühbetroffene ist 'Zusammen sind wir nicht allein'. Viele Ehrenamtliche wirken mit. Wir versuchen maßgeschneiderte Angebote für Menschen im frühen Stadium der Demenz zu bieten".

Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft dankte in ihrem Schlusswort allen, die zum Gelingen dieses Kongresses beigetragen haben. Mit Blick auf das Auditorium sagte sie, Demenz sei offenbar immer noch ein weibliches Thema. "Es wäre schön, wenn bei unserem nächsten Kongress 2012 mehr Männer dabei sind." Sie schloss mit den Worten: "Hören Sie, was Demenzkranke zu sagen haben und beziehen Sie sie ein. Demenzkranke sind Teil unserer Gesellschaft. Nur dann leben wir Gemeinschaft".

6. Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft: "Gemeinschaft leben",
Braunschweig, 7. bis 9. Oktober 2010, Stadthalle Braunschweig
Informationen und Programm im Internet: www.kukm.de/alzheimer2010



Hintergrundinformationen

Heute leben in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Ungefähr 60% davon leiden an einer Demenz vom Typ Alzheimer. Ihre Zahl wird bis 2050 auf 2,6 Millionen steigen, sofern kein Durchbruch in der Therapie gelingt.

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz ist der Bundesverband von derzeit 124 regionalen Alzheimer-Gesellschaften, Angehörigengruppen und Landesverbänden. Sie nimmt zentrale Aufgaben wahr, gibt zahlreiche Broschüren heraus, organisiert Tagungen und Kongresse und unterhält das bundesweite Alzheimer-Telefon mit der Service-Nummer 01803 - 171017 (9 Cent pro Minute aus dem deutschen Festnetz) oder 030 / 259 37 95-14 (Festnetztarif).

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Quelle:
Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz
Pressemitteilungen vom 8. und 12. Oktober 2010
Friedrichstraße 236, 10969 Berlin
Telefon: 030/259 37 95-0, Fax: 030/259 37 95-29
E-Mail: info@deutsche-alzheimer.de
Internet: www.deutsche-alzheimer.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2010

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