Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN


ARTIKEL/1170: Rede des Präsidenten der Ärztekammer Schleswig-Holstein am 15.09.2010 (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2010

Rede des Präsidenten auf der Sitzung der Kammerversammlung am 15.09.2010 in Auszügen

Von Dr. Franz-Joseph Bartmann


Es gibt für uns als Kammer im Wesentlichen drei große Handlungsstränge: Der erste besteht darin, sich aktiv einzubringen in den politischen Meinungsbildungsprozess auf der Bundesebene. Dies geschieht sehr formal im Rahmen eines strukturierten zweistufigen Normsetzungsverfahrens in erster Linie bei den großen Komplexen Weiter- und Fortbildung sowie Berufsordnung. Dies ist in der Regel Kärrnerarbeit, die in Gremien und Ausschüssen geleistet wird, von denen Sie meist nur am Rande erfahren und die wenig Platz lässt für kreative Gestaltung im Abstimmungsprozess innerhalb einer Kammerversammlung. Letztendlich geht es in diesem Stadium nur noch um die Bestätigung dessen, was zuvor unter Mitwirkung unter anderem der durch Sie konstituierten Gremien und Ausschüsse erarbeitet worden ist.

Kreativität und Gestaltungswille, und dies ist der zweite Handlungsstrang, ist dagegen umso mehr gefragt, wenn es darum geht, langfristige Entwicklungen innerhalb des Gesundheitswesens und speziell die spezifische Rolle und Verantwortung der Ärzteschaft dabei zu antizipieren und nach zukunftsfähigen Lösungswegen zu suchen. Dies ist tatsächlich anspruchsvoller und subtiler, als es vielleicht im ersten Ansatz erscheinen mag. Ich werde darauf im Folgenden noch etwas ausführlicher eingehen.

Das Dritte ist das Wahrnehmen politischer Verantwortung auf der Landesebene. Zugegebenermaßen gibt es hier weniger Spielräume, aber auch weniger Konfliktstoff für eine Ärztekammer, als das beispielsweise bei der Schwesterkörperschaft "Kassenärztliche Vereinigung" der Fall ist. Anders war das im Frühsommer dieses Jahres, als die Befassung mit der autonomen Entscheidung der Landesregierung, aus rein ökonomischen Gründen das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein oder Teile desselben zu privatisieren und vor allem den Ausbildungsstandort für Medizin in Lübeck komplett aufzulösen, noch einziger vorgesehener oder möglicherweise sogar einziger Tagesordnungspunkt dieser Kammerversammlung überhaupt war. Niemand konnte damals ahnen - und ich persönlich glaube es bis heute nicht -, dass, wie ein begnadeter Rhetoriker und Fraktionsvorsitzender einer der Koalitionsparteien anschließend versichern wollte, dies lediglich eine taktische Finte im Rahmen einer globalen Gesamtstrategie zur finanziellen Beteiligung des Bundes an originären Länderaufgaben gewesen sei. Und erst recht konnte niemand ahnen, dass durch Gerichtsentscheid die Handlungsfähigkeit unserer Landesregierung nicht nur in dieser Hinsicht komplett neutralisiert werden würde.

Ich warne allerdings dringend vor der völlig unbegründeten Hoffnung, dass sich das Thema durch einen Regierungswechsel, in welcher Konstellation er auch immer dann zustande kommt, quasi von allein erledigen könnte. Der gefundene Kompromiss bleibt brüchig, Schleswig-Holstein ist pleite und vom Bund ist in finanzieller Hinsicht auch keine weitere Hilfe zu erwarten. Selbst der jetzt prognostizierte Aufschwung löst keines der global angelegten Probleme aller hoch entwickelten Industrienationen, die ihren Wohlstand auf kontinuierlichem Wachstum gründen.

Und deshalb ist jede gesellschaftliche Gruppierung, die den Anspruch erhebt, im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Kontextes Verantwortung zu übernehmen, aufgerufen, diese dann tatsächlich auch wahrzunehmen. Man kann nicht einerseits, um in unserem Metier zu bleiben, staatliches Handeln einfordern, um im gleichen Atemzug drohende Staatsmedizin zu beklagen.

Nun ist es leider symptomatisch für demokratisch legitimierte Politiker, und ich schließe Berufspolitiker dabei ausdrücklich ein, sich dem jeweiligen Mainstream geschmeidig anzupassen, Stimmungslagen wahrzunehmen und im eigenen Interesse zu verstärken. Man nennt das beschönigend dann häufig auch Populismus. (...)

Kolleginnen und Kollegen, uns allen ist dieses intuitiv mehr oder weniger bewusst und wird auch beklagt, immer wenn es die Anderen, zumal in der großen Politik betrifft. Ähnliches Verhalten und Agieren beobachtet man jedoch auch nicht selten in unserem eigenen Umfeld. Es soll alles besser werden, im Übrigen aber alles bleiben, wie es ist und immer schon war. Wer das verspricht und fordert und dabei noch den richtigen Adressaten, nämlich die ungeliebte Politik, wählt, hat damit fast schon die halbe Miete für eine erfolgreiche berufspolitische Karriere angelegt. Diejenigen, die schon etwas länger dabei sind, kennen aber meine persönliche Devise: "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom."

Und deshalb haben wir uns entschlossen, das Thema "Ausbildung" in der zentralen Position dieser Kammerversammlung zu belassen, auch wenn der konkrete landespolitische Anlass zur Zeit durch die genannten Umstände paralysiert ist, und dieses Thema sogar zu erweitern, um eine grundsätzliche Diskussion über die Zukunft der Medizinerausbildung in Deutschland anzustoßen.

Und wenn wir hierzu einen Vertreter aus der Schweiz eingeladen haben, einem Land, welches nicht zuletzt wegen seiner Erfolge in der Aus-, Weiter- und Fortbildung des Medizinernachwuchses einen derartig starken Fluktuationsreiz vor allem auf unsere jungen Kollegen aus den südlichen Bundesländern ausübt, dass man in der Schweiz selbst schon eine drohende Germanisierung der Schweizer Medizin beklagt, mag das dem einen oder der anderen provokant erscheinen. Denn die Schweiz hat etwas gemacht, was hierzulande mit einem hohen Tabu belegt ist - sie hat den Bologna-Prozess in der Medizinerausbildung umgesetzt. Nun bin ich nicht so naiv zu glauben, und erst recht möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass diese Einladung den Zweck hat, von Schleswig-Holstein aus den Bachelor- und Masterstudiengang in der Medizinerausbildung zu propagieren. Dafür haben sich vom Bundesgesundheitsminister über den Medizinischen Fakultätentag, den Vorstand der Bundesärztekammer bis hin zu etlichen Fachgesellschaften und freien Ärzteorganisationen bereits zu viele zu eindeutig und unwiderruflich dagegen positioniert.

Umso vehementer möchte ich allerdings dafür plädieren, sich grundsätzlich auch in der Medizinerausbildung für neue Ideen zu öffnen und offen zu halten, da das derzeitige System mit dem Einpauken eines immer größeren Fachwissens mit dem sogenannten Hammerexamen am Schluss doch wohl nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Ein Arztbild, wonach am Ende des Studiums der komplette Universalmediziner mit Kompetenzen in allen Gebieten der Medizin zu stehen hat, ist durch die Realität längst eingeholt und weit überholt und vor allem durch die jetzige Form der Ausbildung auch nicht erreichbar. Vom Arzt erwarten Menschen heutzutage in erster Linie, neben medizinischen Fertigkeiten selbstverständlich, Orientierungshilfen in der für Laien schwer verarbeitbaren Informationsflut, integrative und kommunikative Fähigkeiten, also Eigenschaften, die weder in der Aus- noch in der Weiterbildung bewusst vermittelt werden. Stattdessen vergeht kaum ein medizinischer Fachkongress, ohne dass auf den Pressekonferenzen des Vorabends die jeweiligen Vertreter ihres Faches einfordern, noch mehr an spezifischem Fachwissen in die Ausbildung zu integrieren, um den späteren Arzt für speziell dieses Problem zu sensibilisieren. Die Schlagzeile beginnt dann meist mit: Mediziner schlagen Alarm! Die große Zahl derer, die nach einem abgeschlossenen Medizinstudium nicht in die kurative Medizin gehen, ist durchaus nicht nur den tatsächlichen oder gefühlten Unzumutbarkeiten der realen Arbeitsumwelt des Arztes anzulasten, sondern bereits Teil einer von Beginn an kalkulierten Lebensplanung nicht weniger Studierender.

"Das Phänomen Ärztemangel ist also unbestreitbar, dennoch ist Zurückhaltung im Hinblick auf lautsprecherische und kurzfristige Lösungsvorschläge angesagt."

Und ich erinnere daran, dass wir genau dies noch vor zehn Jahren auf einem der letzten Via Medici-Kongresse, die der Bewältigung der prognostizierten Ärzteschwemme dienen sollten, propagiert haben. Ich warne dringend davor, mit dem jetzt im Raume stehenden Schlagwort des "Ärztemangels" ähnlich leichtfertig zu verfahren, wie wir es damals mit der "Ärzteschwemme" getan haben. Ich kann als Zeitzeuge bestätigen, dass dieses Phänomen als mindestens genauso real und bedrohlich und statistisch eindeutig belegbar empfunden wurde wie jetzt der "Ärztemangel". Es gab Taxi fahrende Ärzte, so wie es heute Ärzte gibt, die aus dem Rentendasein wieder in ihre Hausarztpraxen zurückkehren, Chefärzte, die Nachtdienste im Krankenhaus schieben, und Krankenhausabteilungen, die im ärztlichen Bereich an das Sprachengewirr anlässlich des Turmbaus zu Babel erinnern. Das Phänomen ist also unbestreitbar, dennoch ist Zurückhaltung im Hinblick auf lautsprecherische und kurzfristige Lösungsvorschläge angesagt. Ich weiß mich mit der Kassenärztlichen Vereinigung unseres Landes einig, dass dieser Begriff nur benutzt werden sollte auf der Basis einer seriösen, und zwar kleinflächigen und kleinteiligen Erfassung des tatsächlichen Versorgungsbedarfs. Es ist richtig - viele Arztsitze, gerade im ländlichen Raum, finden keinen Nachfolger. Das ist ein Riesenproblem für die Praxisinhaber, die den ideellen und materiellen Wert ihres Arbeitsplatzes als Teil ihrer Altersversorgung fest eingeplant hatten.

"Wir sollten nicht den Anspruch erheben, dass ein Arztsitz in einer 400 Seelen-Gemeinde im Einzugsgebiet einer Großstadt nur deshalb mit allen, vor allem finanziellen Mitteln zu erhalten wäre, weil dort schon immer ein Arzt tätig gewesen ist."

Um dieses Problem muss man sich kümmern. Wir sollten aber nicht den Anspruch erheben, wie ich es gerade aus einem anderen Bundesland wieder publiziert gefunden habe, dass ein Arztsitz in einer 400-Seelen-Gemeinde im Einzugsbereich einer Großstadt nur deshalb mit allen, vor allem finanziellen Mitteln zu erhalten wäre, weil dort schon immer ein Arzt tätig gewesen ist. Menschen gehen dort zum Arzt, wo sie sich tagsüber aufhalten, nämlich in aller Regel an ihrem Arbeitsplatz und nicht dort, wo sie meldemäßig wohnen und schlafen. Die Morbidität der Verbleibenden, auch und gerade, wenn diese besonders krank und möglicherweise multimorbide sind, reicht unter dem derzeitigen Verteilungs- und Vergütungssystem häufig nicht aus, um die berechtigten Einkommenserwartungen einer Ärztin, eines Arztes ökonomisch abzubilden. Dies gelingt vielen Ärzten und Arztgruppen schon heute nur noch durch Einnahmen außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, durch das Angebot außerbudgetärer individueller oder privatärztlich abzurechnender Einzelleistungen.

"Es gibt viele Hinweiszeichen und Symptome dafür, dass die Tage der Vollversicherung durch private Anbieter vermutlich gezählt sind."

Mit letzteren wären wird dann bereits auch bei unserem zweiten großen Thema der Kammerversammlung - der "Novellierung der staatlichen Gebührenordnung für Ärzte". Vermutlich ist den meisten die grundsätzliche Brisanz dieses Prozesses nicht in seiner ganzen Tragweite bewusst. Längst geht es nicht mehr nur um die seit Jahren überfällige Anpassung des Leistungskatalogs und der Honorierungshöhe im System der privaten Vollversicherung. Es gibt viele Hinweiszeichen und Symptome dafür, dass die Tage der Vollversicherung durch private Anbieter vermutlich gezählt sind. Und das liegt in diesem Falle ausnahmsweise nicht nur an der bösen Politik. Die Diskussion über die angeblich entzogene Solidarität der Privatversicherten, die historisch gesehen ohnehin grottenfalsch und unhaltbar war, hat sich längst versachlicht, auch im Zuge einer Änderung des Selbstverständnisses der gesetzlichen Krankenversicherung. Längst haben sich beide Systeme stärker aneinander angenähert, als vielen bewusst ist. Die angedachte Übernahme der Rabattierungsregel für Medikamente in die PKV ist dabei nur ein kleiner Baustein. Nur - der PKV laufen trotz allem seit Jahren die Prämien davon und mit jedem Euro, der aus Steuermitteln unmittelbar oder mittelbar in den Topf der GKV eingespeist wird, geht diese Schere weiter auseinander. Ein progressives Marketing wird unter diesen Bedingungen immer schwieriger, sodass vielen Versicherern die Unlust an diesem Geschäftszweig bereits heute förmlich anzumerken ist. Umso bedeutsamer ist es, die GOÄ als ein objektives Maß für den Wert der ärztlichen Einzelleistung zu gestalten, als Grundlage für eine Neustrukturierung ärztlicher Vergütung, z.B. im Rahmen einer Kostenerstattung. Der einheitliche Bewertungsmaßstab ist hierfür jedenfalls nicht geeignet. Und Fakt ist, dass das Wegbrechen von Einnahmen aus der Privaten Krankenversicherung ohne Kompensation durch eine grundsätzlich neue Vergütungsform Verhältnisse produzieren würde, wie sie im Moment bereits in den neuen Bundesländern ablesbar sind. Ohne Einnahmen aus der Privaten Krankenversicherung sind viele Arztpraxen nicht überlebensfähig.

"Ohne Einnahmen aus der Privaten Krankenversicherung sind viele Arztpraxen nicht überlebensfähig."

Und allein das Hoffen auf individuelle Gesundheitsleistungen stößt neben den ethischen Grundsatzfragen in Randbereichen dieses Phänomens auf Kaufkraftbegrenzungen im gleichen sozialen Umfeld. Deshalb brauchen wir natürlich einen Maßstab für ärztliche Leistungshonorierung, der sich nicht orientiert an den verfügbaren Mitteln, sondern den tatsächlichen Aufwand und das dadurch anfallende Honorar möglichst realistisch abbildet. Mir ist bewusst, dass mein Hinweis auf das mögliche Ende einer privaten Vollversicherung in Arztkreisen derzeit keine hohe Popularität genießen dürfte. Gleichwohl komme ich zurück auf meinen Eingangsappell, sich als Selbstverwaltung rechtzeitig und kreativ antizipierend auf Entwicklungen und Situationen einzustellen.

*

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201010/h10104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Oktober 2010
63. Jahrgang, Seite 24 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2010

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang