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POLITIK/1727: Das Ende der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 46 vom 19. November 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Das Ende der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung
Historisches Plus für Unternehmer, Privatkassen und Pharmakonzerne

Von Hans-Peter Brenner


Am 11. November wurde das "Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes" im Deutschen Bundestag verabschiedet. Einen Tag später stimmte der Bundestag gegen die Stimmen der parlamentarischen Opposition der seit langem umstrittenen "Reform" der Krankenkassen-Finanzen zu. Beide Gesetze haben eine "historisch" zu nennende Bedeutung. Sie markieren den Bruch mit dem bisherigen System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).


Das Gegenteil von "fair und stabil"

Bundesgesundheitsminister Rösler lobte sich, die Regierung und die vorher nicht gefragten Versicherten in den höchsten Tönen: "Durch die gemeinsame Anstrengung von Beitrags- und Steuerzahlern sowie den Leistungserbringern im Gesundheitswesen wird im nächsten Jahr ein Milliarden-Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung verhindert. Die christlich-liberale Koalition sorgt zudem für ein faires und stabiles Gesundheitssystem, das auch künftigen Generationen eine verlässliche medizinische Versorgung auf hohem Niveau garantiert." Rösler machte gleichwohl deutlich, dass die neue "Reform" mehr sein soll als die x-te Neuauflage von Beitragserhöhungen, Einsparungen und Zusatzzahlungen zu Lasten der Versicherten. Vor allem durch das - wie Rösler sagte - "Umsteuern hin zu einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen" werde ein "Systemwandel" in der Gesetzlichen Krankenversicherung vollzogen.

Rösler meinte die von den Unionsparteien und der FDP und den Unternehmerverbänden schon lange geforderte Loslösung von der alten, im Grundsatz "paritätischen", Finanzierung der Kassenbeiträge durch die lohn- und gehaltsabhängig Beschäftigten und den Unternehmen. Und er meinte den Abschied von der "Solidargemeinschaft" der Versicherten durch die Einführung von Zusatzbeiträgen in Form einer Kopfpauschale, bei denen künftig, wie die "Süddeutsche Zeitung" zu Recht moniert, "ein Abteilungsleiter den gleichen Beitrag zahlt wie seine Sekretärin" (SZ vom 12. 11.). Jede Kasse kann diese "Kopfpauschale" im Übrigen selbst festlegen.


Steigende Kosten für die Versicherten

Mit der Reform würden "die Voraussetzungen für einen funktionsfähigen Wettbewerb geschaffen, der zu mehr Qualität und Effizienz führt und den Versicherten und Patienten zugute kommt." Das Rösler-Ministerium stellt dabei besonders die "Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten" als großen Erfolg heraus.

Zu Beginn kommenden Jahres steigt der Beitragssatz um insgesamt 0,6 von 14,9 auf 15,5 Prozent. Die Beitragslast ist nun aber unterschiedlich verteilt: 8,2 Prozent vom Bruttoeinkommen entfallen auf Arbeit"nehmer" und Rentner; für die Arbeit"geber" sind es nur 7,3 Prozent. Für sie wird der Satz bei diesem Stand ab dann eingefroren, während die Versicherten nicht nur die "Zusatzbeiträge", sondern auch die "normalen" künftigen Beitragserhöhungen allein zu zahlen haben. Im Schnitt soll der Zusatzbeitrag laut Regierung 2012 im einstelligen Euro-Bereich bleiben; 2014 könnte er schon 10 bis 16 Euro pro Monat erreichen.

Die angekündigte Begrenzung der Zusatzbeiträge auf zwei Prozent des Bruttoeinkommens - bislang ein Prozent - und die "soziale Abfederung" darüber hinausgehender Zusatzkosten durch einen steuerfinanzierten Ausgleich ist bislang nur ein vages Versprechen. Dafür stehen zunächst zwei Milliarden Euro zur Verfügung. 2014 muss über Steuerzuschüsse neu entschieden werden.


"Arzneimittelsparpaket"ein Bluff

Im Zusammenhang mit dieser GKV-"Reform" fand gleichzeitig ein propagandistisches Ablenkungsmanöver namens "Arzneimittelsparpaket" statt. Angeblich werde damit die Pharma-Industrie an die kurze Leine genommen und der Preis- und Gewinnexplosion auf dem Medikamentenmarkt ein Ende bereitet, so rühmt das Rösler-Ministerium. Die Pharma-Hersteller sollen künftig ihr "Preismonopol" für patentgeschützte Medikamente verlieren. Schon lange wird von vielen Seiten kritisiert, dass die in Deutschland angebotenen Medikamente im internationalen Vergleich viel teurer sind als in den anderen EU-Staaten.

Die Pharmafirmen müssen künftig den "Nutzen" neuer Arzneimittel nachweisen und den Preis dann binnen eines Jahres mit den Krankenkassen aushandeln. Dies gilt ausdrücklich nur für neue Medikamente. Gibt es keinen "Zusatznutzen", wird ein Festbetrag festgesetzt. Die Kriterien dafür werden aber nicht von dem - zumindest formal von der Pharma-Industrie und ihrer mit dem Gesundheitsministerium fest verzahnten Lobby unabhängigen - "Gemeinsamen Bundesausschuss" (G-BA) festgelegt, in dem Krankenkassen, Ärzte, Krankenhäuser und Patienten vertreten sind, sondern vom Ministerium selbst. Damit ist schon vorprogrammiert, dass es von der Pharma-Industrie gesponserte und selbst organisierte "wissenschaftliche" Untersuchungen sein werden, die über den "Nutzen" neuer Medikamente entscheiden. Alle Pharma-Sparregelungen zusammen sollen die gesetzlichen Kassen bis um 2,2 Milliarden Euro jährlich entlasten. 2009 gaben sie für Arzneien insgesamt mehr als 32 Milliarden Euro aus.


Bonus-Regelung für die "Privaten"

Die gesetzlichen Kassen sind auch als Institutionen von den neuen Regelungen direkt betroffen. Sie sollen 2011 und 2012 insgesamt 600 Millionen Euro bei der Verwaltung einsparen. Um die Einführung der seit Jahren geplanten elektronischen Gesundheitskarte endlich in Gang zu bringen, sollen die Kassen unter Androhung von Strafzahlungen verpflichtet werden, bis Ende 2011 mindestens zehn Prozent ihrer Versicherten mit dieser Karte auszustatten.

Die Privatkassen werden die Nutznießer der neuen gesetzlichen Regelungen sein. Für sie wird es leichter, neue Kunden zu gewinnen. Wer mit seinem Bruttoverdienst über der Versicherungspflichtgrenze von 4125 Euro (2011) liegt, kann bereits nach einem Jahr von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung wechseln. Die Abwerbung der Jüngeren und Besserverdienenden aus dem System der GKV wird sich damit beschleunigen. Bisher gilt eine Wartezeit von drei Jahren. Die Privatkassen profitieren außerdem von Rabattverhandlungen der gesetzlichen Kassen mit Arzneimittelherstellern.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 46,
19. November 2010, Seite 6
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2010