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POLITIK/1737: Gesundheit (6) - Gesundheitliche Ungleichheit. Eine ethnologische Perspektive (APuZ)


APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte
45/2010 - 8. November 2010
Gesundheit

Gesundheitliche Ungleichheit. Plädoyer für eine ethnologische Perspektive

Von Uwe H. Bittlingmayer · Diana Sahrai


Versuche zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit zielen vor allem auf die Veränderung individuellen Verhaltens. Dabei ist eine ergänzende ethnologische Perspektive auf kulturelle Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit notwendig.


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Nachdem in Deutschland im internationalen Vergleich mit Verspätung registriert worden ist, dass es auch hierzulande eine erhebliche sozial bedingte Ungleichheit gesundheitlicher Zustände in der Bevölkerung gibt, lässt sich seit etwa einem Jahrzehnt ein emsiges Sammeln von sozialepidemiologischen Daten beobachten. Diese Daten sollen darüber Auskunft geben, welche Bevölkerungsgruppen aufgrund welcher Merkmale besonders von Krankheiten und vorzeitigem Tod bedroht sind.

Aus der Literatur wissen wir zunächst, dass das verfügbare Einkommen für eine Reihe von Krankheiten und für die Lebenserwartung eine sehr bedeutsame Rolle spielt.(1) Allein auf der Grundlage der Zugehörigkeiten zu Einkommensgruppen ergeben sich Ungleichheiten in der Lebenserwartung zwischen den einkommensärmsten sozialen Gruppen oder unteren sozialen Schichten einerseits und den einkommensreichsten sozialen Gruppen oder den höheren sozialen Schichten andererseits. Auch wenn die errechneten Lebenserwartungsdifferenzen zwischen gut und schlecht gestellten Personen variieren: Eine immer wieder zitierte Studie von Karl Lauterbach und anderen aus dem Jahr 2006 errechnet eine durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen, die ein monatliches Bruttoeinkommen von weniger als 1500 Euro zur Verfügung haben, von 78,4 Jahren, im Gegensatz zu Frauen, die über ein monatliches Bruttoeinkommen von mehr als 4500 Euro verfügen, von 87,2 Jahren. Bei Männern ist die Differenz ebenso ausgeprägt: Männer, die weniger als 1500 Euro Bruttoeinkommen besitzen, leben im Durchschnitt 71,1 Jahre, während Männer, die mehr als 4500 Euro monatliches Bruttoeinkommen aufweisen, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren rechnen können (siehe die Abbildung).(2)


Abbildung: Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung; Alle Erwerbstätigen in Deutschland

Quelle: Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) Köln.

Quelle: Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) Köln.

Auch das Bildungsniveau wird in sozialepidemiologischen Studien immer wieder als besonders relevante Stellgröße für die individuelle Gesundheit hervorgehoben.(3) Je geringer das individuelle Bildungsniveau - so könnte man zunächst ganz allgemein zusammenfassen -, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer ganzen Reihe von Krankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen, Skeletterkranungen oder Depressionen. Einer der bedeutendsten Sozialepidemiologen in Deutschland, der sich um die Diskussion gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland besonders verdient gemacht hat, ist Andreas Mielck. In einer den Forschungsstand gut zusammenfassenden Studie zeigt er auf, dass allein der Erwerb des Abiturs eine deutliche Differenz in der Lebenserwartung markiert (bei Männern von 3,3 Lebensjahren, bei Frauen von 3,9 Lebensjahren).(4)

Das verfügbare Einkommen und das erreichte Bildungsniveau sind aber keineswegs die einzigen gesundheitsrelevanten Ressourcen. Wir wissen ferner, dass sich beispielsweise die berufliche Position, Arbeitslosigkeit oder die Beschaffenheit des sozialen Nah raums - zum Beispiel ein sozial segregierter Wohnort oder eine Hochhaussiedlung, die als sozialer Brennpunkt gilt - ungünstig auf die Gesundheit auswirken. Insbesondere für räumliche Effekte auf die Gesundheit liegen für Deutschland sehr wenige Daten vor. Ein Seitenblick auf die USA offenbart im Hinblick auf gesundheitliche Ungleichheit ein Schreckensszenario: "Research (...) using official data from twenty-three rich and poor areas in the United States found that white women who had reached the age of sixteen and were living in the richest areas could expect to live until they were eighty-six years old, compared to seventy for black women in the poorest areas of New York, Chicago, and Los Angeles - a difference of sixteen years. Similarly, sixteen-year-old white men living in rich areas could expect to live until they were seventy-four or seventy-five, whereas black men in the poorest areas could expect to live to only about fifty-nine. The difference in life expectancy between whites in rich areas and blacks in poor areas of the United States was close to sixteen years for both men and women."(5)

In den Gesundheitswissenschaften und der Sozialepidemiologie liegen mittlerweile eine große Anzahl von Untersuchungen, Studien und Daten vor, mit denen sich das bedrohliche Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit auch für Deutschland abschätzen lässt. Dass es gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland gibt, ist eindeutig. Offen ist im Augenblick, ob sie in den vergangenen Jahren zugenommen hat - wofür einige Anzeichen sprechen - und wie die stetige Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit zu erklären ist.


Sozialepidemiologische Erklärungen

Die Abhängigkeit des individuellen Gesundheitszustands von bestimmten Einflussgrößen kann zunächst einmal nicht überraschen. Das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, ist für einen Tiefbauarbeiter, der dreißig Jahre lang Kaltasphalt auf Straßen aufträgt, höher als für einen Hartz-IV-Case-Manager, selbst wenn beide Raucher sind. Auch ist unmittelbar einsichtig, dass heruntergekommene, nicht sanierte Wohnquartiere durch Schimmelpilzbefall, Feuchtigkeit oder Lärmbelastungen größere Krankheitsrisiken für die Bewohnerinnen und Bewohner mit sich bringen als ein Wohnen in gediegenen, wohlhabenden Vierteln.(6)

Diese mehr oder weniger unmittelbaren Effekte des Zusammenhangs von Arbeits- und Umweltbelastungen einerseits sowie gesundheitlichem Zustand und Krankheitsrisiko andererseits werden dann wesentlich komplexer, wenn die statistisch signifikanten Zusammenhänge zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit, dem erreichten Bildungsniveau und dem verfügbaren Einkommen auf der einen Seite sowie den Krankheitsrisiken und sozial ungleichen Sterblichkeitsraten auf der anderen Seite erklärt werden sollen. Um den Befund zu erklären, dass eine niedrige Schichtzugehörigkeit oder ein geringer Bildungsabschluss mit spezifischen Krankheitsrisiken und vorzeitigem Tod einhergeht, sind eine Reihe von - in der Regel sehr impliziten - Zusatzannahmen notwendig. Denn solche Sozialstrukturindikatoren wie Einkommen, Bildung oder soziale Schicht folgen stets einer Ressourcenlogik: Ein hoher sozialer Status, hohes Einkommen, hohes Bildungsniveau gehen mit vielen Handlungsressourcen, ein geringer Sozialstatus, geringes Einkommen, geringes Bildungsniveau mit entsprechend wenigen Handlungsressourcen einher.

Nun ist die Verfügbarkeit über ein monatliches Bruttoeinkommen von nur 1500 Euro oder ein erreichter Hauptschulabschluss nicht unmittelbar ein gesundheitsgefährdender Tatbestand. Theoretisch lässt sich selbst mit relativ wenig Geld in hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften ebenso ein gesundheitsverträgliches Leben führen wie mit einem Hauptschulabschluss, wenn einmal die durchaus wahrscheinlichen, anhängenden gesundheitsschädigenden Wohn- und Arbeitsbedingungen außer Acht gelassen werden.(7) Der missing link zwischen Schichtzugehörigkeit und den formalen Handlungsressourcen Geld und Bildung sowie den Krankheitsrisiken und Gesundheitseinschränkungen liegt in der Sozialepidemiologie im individuellen Gesundheitsverhalten. Die Differenzen im Gesundheitsverhalten bilden das sozialepidemiologische Erklärungsfundament, auf dem die statistischen Signifikanzen in den Krankheitsrisiken und Lebenserwartungen ruhen. Es erscheint logisch, dass ein gesundheitsabträgliches Verhalten mit überhöhtem bewegungsinaktivem Fernsehkonsum, fettreicher Ernährung und extensivem Alkohol- und Tabakgenuss auf lange Sicht gegenüber einem gesundheitszuträglichem, bewegungsintensivem und ernährungsbewusstem Verhalten zu statistisch erhöhten Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken führt.


Kulturelle und milieuspezifische Differenzen

Was die Sozialepidemiologie nicht oder nur unzureichend zu erklären vermag, ist, warum sich Individuen bzw. nach bestimmten Merkmalen definierte Gruppen von Menschen (statistische Aggregate) so verhalten, wie sie sich eben verhalten - oder mit den Worten des britischen Gesundheitswissenschaftlers Michael Marmots: Wenn individuelles Gesundheitsverhalten die Ursache (cause) für gesundheitliche Ungleichheiten ist, was sind dann die causes of the causes? Wird individuelles Gesundheitsverhalten aus einer Ressourcenlogik heraus erklärt, dann haben die gesundheitlichen Risikogruppen entweder nicht genug Geld, um gesundheitszuträglich zu leben, oder sie sind aufgrund ihres geringen formalen Bildungsniveaus nicht in der Lage, ihr Gesundheitsverhalten mittel- und langfristig einschätzen zu können, und verhalten sich deshalb gesundheitsabträglich. Bisweilen gilt sogar beides.

Solchen (hier in der kritischen Zuspitzung überzeichneten) sozialepidemiologischen Erklärungsansätzen, die soziale Großgruppenkategorien wie Einkommensschwache oder Bildungsferne unmittelbar mit individuellem Verhalten in Verbindung bringen, fehlt eine Dimension, die sich nicht ohne Weiteres in eine messbare Variable übertragen lässt.(8)

Es handelt sich um die kulturelle Dimension von Verhaltensweisen, die nicht unmittelbar deckungsgleich ist mit ihrer materiellen Seite, also mit den verfügbaren Handlungsressourcen. Individuelle Verhaltensweisen sind eingebettet in überindividuelle kulturelle Orientierungen, denn gesellschaftliche Normen und Werte sind nach wie vor die sozialen Motoren für individuelle Verhaltensweisen. Normen und Werte unterscheiden sich aber innerhalb einer Bevölkerung ganz erheblich. Solche normativen und alltagspraktischen Differenzierungslinien verlaufen - um auf einen jüngeren Vorschlag in der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheiten zurückzugreifen - entlang von sozialen Milieus. Der Ungleichheitsforscher Michael Vester, der den Milieuansatz in Deutschland etabliert hat, führt hierzu aus: "Die Lebensführung der Menschen, von der auch ihr Verhältnis zu Gesundheit und Krankheit abhängt, ist nach sozialen Milieus verschieden. (...) Gesundheitsrelevant ist (...) die 'tätige Seite', die Gesamtheit der Lebenspraxis der Milieus und ihrer Teilgruppen. (...) Moralische und materielle Aspekte sind verbunden mit Beziehungszusammenhängen und mit spezifischen körperlichen und geistigen, individuellen und geselligen, belastenden und aufbauenden - immer gesundheitsrelevanten - Tätigkeiten und damit biografischen Strategien, die die Bildungs- und Berufswege anbahnen."(9)

Individuelles Verhalten und individuelle Lebensführung wird im Rahmen eines Ansatzes, der vor allem auf die kulturelle Seite alltäglicher Lebenspraxis schaut, durch die Zugehörigkeit zu sozialen Milieus erklärt. Soziale Milieus sind als kulturelle Verdichtungen traditionsreicher sozialer Gruppen (Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, herrschende Klasse, Subproletariat) mit unterschiedlichen verfügbaren Handlungsressourcen zu verstehen. Erst durch die Zugehörigkeit zu spezifischen sozialen Milieus - so unsere These im Anschluss an die Arbeiten von Vester und anderen - erhalten soziale Praktiken, Alltagsroutinen und Bewertungsmuster von Gesundheit ihren individuellen sowie ihren sozialen Sinn.(10)

Um also - so lässt sich zusammenfassen - die Verhaltensdifferenzen von Menschen befriedigend zu erklären, sind klassenkulturelle, nach sozialen Milieus unterschiedene Wahrnehmungen der sozialen Welt und der Einschätzung und Wertschätzung von individuellen Verhaltensweisen als überindividuelle, Sinn setzende Verhaltensstrukturierungen zu berücksichtigen, mit denen die vorhandenen Unterschiede in den verfügbaren Handlungsressourcen milieuspezifisch interpretiert und symbolisch in Wert gesetzt werden. Diese Perspektive lässt sich als Ethnologie der eigenen Gesellschaft bezeichnen und ist prominent von Irving Goffman und Pierre Bourdieu vertreten worden. Die Einnahme eines solchen ethnologischen Blicks auf die Verhaltensweisen der einheimischen Bevölkerungsgruppen, wie er hier für die Gesundheitswissenschaften und Sozialepidemiologie eingeklagt wird, erlaubt es, die Kontextgebundenheit individuellen Gesundheitsverhaltens präziser zu bestimmen als ausschließlich ressourcenorientierte Ansätze. Die Ethnologie lässt sich hier nutzen als eine spezialisierte Wissenschaft zur Erforschung kultureller Differenzen.


Ethnische Zugehörigkeit

Die milieuspezifischen klassenkulturellen Differenzlinien sind nicht die einzigen kulturellen Differenzen, die in einer hoch entwickelten und modernen Industriegesellschaft auffindbar sind. Das Bild sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit wird noch einmal komplexer, wenn die zweite große kulturelle Differenzierungslinie, die ethnische Zugehörigkeit, ins Blickfeld gerät. Die Sozialepidemiologie hat eine ganze Reihe von zum Teil widersprüchlichen Befunden zusammengetragen, ob Menschen mit anderen ethnischen Zugehörigkeiten als der deutschen beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund (im Folgenden werden diese beiden Bezeichnungen der Lesbarkeit halber synonym verwendet) innerhalb Deutschlands als besondere gesundheitliche Risikogruppe betrachtet werden müssen oder aber - im Gegenteil - sogar einen gegenüber Deutschen besseren durchschnittlichen Gesundheitszustand aufweisen. Für beide Richtungen gibt es ausreichend Befunde.(11)

Besonders auffällig sind Migranten aus einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive dann, wenn sie zwar überproportional in einer niedrigen sozialen Schicht anzutreffen sind, sich daraus aber kein erhöhtes Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko ergibt: "Innerhalb der nicht migrierten Bevölkerungsgruppen ist hinreichend bekannt, dass ein niedrigerer sozialer Status mit erhöhten Risiken für Krankheit und vorzeitigen Tod einhergeht (...). Paradoxerweise haben Migranten aber trotz ihrer sozialen Benachteiligung oftmals eine niedrigere Sterblichkeit als die Allgemeinbevölkerung (...). Dieser Vorteil ist zum Teil ausgeprägt."(12) Die Faustformel, dass ein niedriger sozialer Status und niedrige Bildung mit erhöhten Krankheits- und Sterblichkeitsrisiken verbunden ist, muss also für Menschen mit nicht-deutscher ethnischer Zugehörigkeit zumindest relativiert werden.

Anderseits weisen Menschen mit Migrationshintergrund durchaus auffällige einzelne Gesundheitsbelastungen auf. So sind Tuberkuloseinfektionen bei Migranten gegenüber der deutschen Bevölkerung ebenso signifikant erhöht wie die Säuglingssterblichkeit (in deutschen Krankenhäusern!). Die subjektive Zufriedenheit mit dem eigenen gesundheitlichen Zustand ist bei türkischen Männern ab einem Alter von 44 Lebensjahren gegenüber deutschen Männern, aber auch gegenüber Männern aus anderen Anwerbeländern, deutlich niedriger. Und schließlich ist das Risiko, an Fettleibigkeit zu leiden, bei nichtdeutschen Frauen ab einem Alter von 40 gegenüber deutschen Frauen signifikant erhöht.(13)

Für den vorliegenden Argumentationszusammenhang ist es weniger zentral, ob nun Angehörige von ethnischen Minderheiten positiv oder negativ auffällig sind in Hinblick auf Krankheitsrisiken und Sterblichkeitsraten, sondern dass sie zunächst unabhängig von der Richtung des statistischen Effekts in der Regel (aber nicht immer) eine statistisch signifikante Gruppe bilden. Auch diese Differenzen zwischen Angehörigen ethnischer Minderheiten und der deutschen Mehrheitsgesellschaft werden mit großer Wahrscheinlichkeit durch individuelle Verhaltensunterschiede hervorgerufen. Und ebenso wie bei den milieuspezifischen kulturellen Differenzen ist auch bei den kulturellen Differenzen im Gesundheitszustand entlang ethnischer Differenzierungslinien davon auszugehen, dass es sich hier um alltägliche individuelle Verhaltensunterschiede handelt, die durch überindividuelle Normen und Werte strukturiert sind. Aber anders als bei den klassenkulturellen milieuspezifischen Differenzen liegen die ethnischen Differenzen zunächst einmal quer zu einer ungleichen Ressourcenlogik.

Soziale Ungleichheiten in den durchschnittlich verfügbaren Handlungsressourcen zwischen der Migrationsbevölkerung und der deutschen Mehrheitsgesellschaft spielen eine wichtige Rolle - die (klassen-)kulturell verankerten gesundheitsbezogenen Differenzen zwischen Migranten und Nicht-Migranten gehen aber nicht darin auf. Ebenso bedeutsam für die Gesundheit sind beispielsweise Verhaltensweisen, die aus kulturellen Ernährungs- und Bewegungsvorschriften hervorgehen oder kulturell unterschiedliche Vorstellungen von Krankheitsursachen und Gesundheitskonzepten transportieren.

Diese kulturellen Differenzen werden traditionell von der Medizinethnologie beschrieben. Dabei werden in den klassischen Texten andere als die modernen bio-medizinischen Krankheits- und Gesundheitskonzepte empirisch und kulturvergleichend nachgezeichnet.(14) Das Besondere einer ethnologischen Perspektive ist dabei, von normativen Beurteilungen so weit wie möglich abzusehen. Stattdessen werden fremde Krankheits- und Gesundheitskonzepte zunächst als soziale Tatsachen bestimmt und die Konsequenzen für das Verhalten von Individuen beschrieben. Jüngere Studien weisen über die Bestimmung und Beschreibung kultureller Differenzen hinaus und zeigen die Verschränkungen und Überlappungen von traditionellen und bio-medizinischen Verständnissen von Krankheit und Gesundheit auf. So wird etwa in bestimmten Gebieten Indonesiens oder Indiens ein gebrochener Arm im nächsten Krankenhaus behandelt, während Krankheit gleichzeitig mit einer möglichen De-Sozialisierung des Kranken von der kulturellen Gemeinschaft in Verbindung gebracht wird.(15)

Gerade diese Analysen der Pluralisierung von Krankheitskonzepten und Gesundheitsvorstellungen dürften für multiethnische Industriegesellschaften wie Deutschland in hohem Maße gelten. Der Gesundheitswissenschaft wäre zum besseren Verständnis sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten gerade bei der Migrationsbevölkerung diese ethnologische Perspektive hilfreich, um die Ursachen hinter den Verhaltensdifferenzen sensibel nachzuzeichnen und als soziale Tatsachen, die individuelles Verhalten strukturieren, anzuerkennen. Wird die Erforschung und Thematisierung gesundheitlicher Ungleichheiten um eine ethnologische Perspektive ergänzt, ergeben sich wichtige gesundheitspolitische Konsequenzen, die abschließend skizziert werden sollen.


Gesundheitspolitische Konsequenzen einer ergänzenden ethnologischen Perspektive

Es ist breiter Konsens in den Gesundheitswissenschaften, aber auch in den gesundheitspolitischen Diskussionen, dass die mittlerweile auch für Deutschland empirisch gut beschriebenen bestehenden gesundheitlichen Ungleichheiten reduziert werden sollten. Die aktuellen Versuche zur Reduktion dieser sozialen Ungleichheiten zielen vor allem auf die Änderung gesundheitsschädlichen individuellen Verhaltens ab - mit starkem Fokus auf sozial benachteiligte Gruppen, den so genannten Risikogruppen.

Die hier vorgeschlagene Perspektive einer Verknüpfung von Ungleichheitsforschung und ethnologischer Perspektive, wie sie in den Werken von Pierre Bourdieu und Michael Vester zu finden ist, sollte für das Verständnis und die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten stärker als bislang fruchtbar gemacht werden. Aus einer solchen Perspektive wäre zunächst die aktuelle gesundheitspolitische Strategie zu überdenken. Denn wenn individuelles Verhalten durch überindividuelle kulturelle Kontexte vorstrukturiert wird, dann wird verständlich, warum Versuche, durch Aufklärungskampagnen, allgemeine Gesundheitserziehung und -bildung individuelle Verhaltensänderungen herbeizuführen, so häufig scheitern, selbst wenn für die Individuen unmittelbare Gesundheitsgewinne zu erwarten sind. Ernst zu nehmen wäre einmal mehr das strukturorientierte Motto der Weltgesundheitsorganisation (WHO): "Making the healthier choice the easier choice."

Die meisten Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sind sich darin einig, dass sich die Veränderung gesundheitsabträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse nachhaltiger auf die Verbesserung des gesundheitlichen Zustands der Gesamtbevölkerung auswirkt als Maßnahmen zur Veränderung des individuellen Gesundheitsverhaltens. Das würde auch bedeuten, dass sich die Priorität bei der Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten zu einer umverteilenden Sozialpolitik verschiebt: Aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht ist die Existenz von Armut die wichtigste Ursache gesundheitlicher Ungleichheit. Will Gesundheitspolitik gesundheitliche Ungleichheit ernsthaft reduzieren und die auch in Deutschland markanten Differenzen in der Lebenserwartung unterschiedlicher sozialer Gruppen angleichen, dann sollte sie mit Armutsbekämpfung beginnen.

Auch aus einer ethnologisch ergänzten Perspektive wäre die Reduktion von Ressourcenungleichheiten ein primäres Ziel. Diese Sichtweise geht aber über die Thematisierung von Ressourcenungleichheiten hinaus und nimmt die symbolische Dimension kultureller Differenzen mit in den Blick. Denn soziale Ungleichheiten entfalten sich ebenso entlang von kulturellen Hierarchisierungen. So können zum Beispiel Angehörige von ethnischen Minderheiten oder unterprivilegierter Milieus auf der Grundlage ihrer (klassen-)kulturellen Bezugssysteme über andere Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit und entsprechend andere Verhaltensweisen als die definitionsmächtige einheimische Mittelschicht verfügen. Wenn diese aber durch den in Deutschland durch die Mehrheitsgesellschaft (selbst in seiner klassenkulturellen Differenziertheit) herrschenden Konsens über angemessene Verhaltensweisen oder Einstellungsmuster gegenüber Gesundheit und Krankheit (oder auch Prävention) als illegitime, unangemessene Verhaltensweisen wahrgenommen werden, dann schlagen kulturelle Differenzen um in gesundheitliche Ungleichheiten.

Die Handlungsdimension dieser Form gesundheitlicher Ungleichheit folgt keiner Ressourcenlogik, sondern einer Logik kultureller und symbolischer Abwertung. Gesundheitspolitik müsste sich zur Vermeidung solcher Ungleichheiten eine ethnologische Perspektive aneignen, die darauf abzielen würde, (milieuspezifische oder ethnische) kulturelle Differenzen, zunächst unabhängig davon, ob sie gesundheitszuträgliche oder gesundheitsabträgliche individuelle Verhaltensweisen provozieren, als gleichermaßen individuell handlungsmotivierend und sinnstiftend wahrzunehmen.

Damit wäre ein präziseres Verständnis gesundheitlicher Ungleichheit zu gewinnen. Erst in einem zweiten Schritt wäre dann zu überlegen, wie gesundheitsabträgliche und riskante Elemente kultureller Bezugssysteme - übrigens auch der deutschen Mittelschichtmilieus mit ihrem überzogenen Arbeitsethos - überwunden werden können. Denn aus einer ethnologischen Ergänzung der Gesundheitswissenschaften im Allgemeinen und der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung im Besonderen folgt nicht die unkritische Feier aller kulturellen Differenzen, sondern ein genaueres Verständnis individueller gesundheitsabträglicher Verhaltensweisen.

Die normative Zielperspektive für eine entsprechende Gesundheitspolitik wäre die Kombination aus einer umfassenden Ressourcenumverteilung, der vorrangigen Veränderung gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen in Richtung Gesundheitsförderung und der mittelfristigen Veränderung der kulturellen Bezugssysteme in Richtung Gesundheitszuträglichkeit bei prinzipieller Anerkennung und Akzeptanz kultureller Differenzen. Es lässt sich nicht bestreiten, dass wir im Moment von einer solchen Perspektive und Praxis in der Gesundheitspolitik noch sehr weit entfernt sind - umso dringender ist es, eine Veränderung in der Perspektive auf den Weg zu bringen.


Uwe H. Bittlingmayer
Dr. phil., geb. 1970; Professor für Soziologie am Institut für
Sozialwissenschaften der Pädagogischen Hochschule Freiburg,
Kunzenweg 21, 79117 Freiburg i. Br.
uwe.bittlingmayer@ph-freiburg.de

Diana Sahrai
M.A.; geb. 1973; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät
für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen,
Berliner Platz 6-8, 45117 Essen.
diana.sahrai@uni-due.de


Anmerkungen

(1) Maßgeblich zur Rolle des Einkommens sind die Studien des britischen Sozialepidemiologen Richard Wilkinson und seiner Kollegin Kate Pickett. Vgl. Richard G. Wilkinson/Kate E. Pickett, Das Problem relativer Deprivation. Warum einige Gesellschaften erfolgreicher sind als andere, in: Ullrich Bauer u.(Hrsg.), Health Inequalities. Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit, Wiesbaden 2008, S. 59-86; dies., Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Frankfurt/M. 2009.

(2) Die Abbildung und die Zahlen sind entnommen aus: Karl Lauterbach u. Zum Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung. Studien zu Gesundheit, Medizin und Gesellschaft 2006, Köln 2006, S. 7; eine Lebenserwartungsdifferenz von fünf Jahren für Frauen und von zehn Jahren für Männer findet sich in: Anette Reil-Held, Einkommen und Sterblichkeit in Deutschland: Leben Reiche länger?, Mannheim 2000.

(3) Eine gute Übersicht über die Zusammenhänge liefern John Mirowsky/Catherine Ross, Education, Social Status and Health, New York 2003; für den deutschen Sprachraum sind die Studien von Thomas Abel und Mitarbeitenden zentral, z.B. Thomas Abel u.a., Kulturelles Kapital, kollektive Lebensstile und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit, in: Matthias Richter/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Wiesbaden 2006.

(4) Vgl. Andreas Mielck, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion, Bern 2005, S. 16.

(5) Richard G. Wilkinson, The Impact of Inequality, New York-London 2005, S. 14f.

(6) Vgl. zum Zusammenhang von Gesundheit und Raum z.B. Frank J. van Lenthe u.a., Neighbourhood Unemployment and All Cause Mortality: a Comparison of Six Countries, in: Journal of Epidemiology and Community Health, 59 (2005) 3, S. 231-237; Nico Dragano et al., Neighbourhood Socioeconomic Status and Cardiovascular Risk Factors: a Multilevel Analysis of Nine Cities in the Czech Republic and Germany, in: BMC Public Health, 7 (2007), online: www.biomedcentral.com/1471-2458/7/255 (23.9.2010).

(7) Dieser Satz ist polemisch. Die Realisierung eines gesundheitszuträglichen Lebensstils kostet Geld - von teureren Bio-Lebensmitteln angefangen über Sportvereinsmitgliedschaften bis hin zu kostenintensiver Sportkleidung. Es ist kaum übertrieben festzustellen, dass eine Hartz-IV-Sozialpolitik nicht mit Ideen einer Gesundheitsförderung und Krankheitsreduzierung in Einklang zu bringen ist. Vgl. hierzu z.B. Peter-Ernst Schnabel, Gesundheit fördern und Krankheit prävenieren, Weinheim-München 2006; Gregor Hensen/Peter Hensen (Hrsg.), Gesundheitswesen und Sozialstaat. Gesundheitsförderung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Wiesbaden 2008. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

(8) In der Public-Health-Literatur existieren eine Reihe von fruchtbaren Anknüpfungspunkten für die hier vorgeschlagene Perspektive. Zu nennen ist u.a. Annette Sperlich/Andreas Mielck, Sozialepidemiologische Erklärungsansätze im Spannungsfeld zwischen Schicht- und Lebensstilkonzepten. Plädoyer für eine integrative Betrachtung auf der Grundlage der Bourdieuschen Habitustheorie, in: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften, 11 (2003) 2, S. 165-179.

(9) Michael Vester, Milieuspezifische Lebensführung und Gesundheit, in: Health Inequalities. Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften, Nr. 45, (2009), S. 36-56; hier S. 36 Versuche, den Ansatz sozialer Milieus für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten zu nutzen, finden sich u.a. in Ullrich Bauer, Das Präventionsdilemma. Potenziale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozialer Polarisierung, Wiesbaden 2005, S. 186-196; Ullrich Bauer/Uwe H. Bittlingmayer, Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung, in: Klaus Hurrelmann u.a. (Hrsg.), Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim-München 2006, S. 781-818; Sybille Nideröst, Männer, Körper und Gesundheit. Somatische Kultur und soziale Milieus bei Männern, Bern 2007.

(10) Maßgeblich ist hierzu die Pionierstudie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der statt von sozialen Milieus von Klassenfraktionen spricht. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.

(11) Einen kurzen Überblick über positive und negative Befunde der Migrationsbevölkerung im Gegensatz zur einheimischen Bevölkerung findet sich u.a. in Jacob Spallek/Oliver Razum, Erklärungsmodelle für die gesundheitliche Situation von Migrantinnen und Migranten, in: U. Bauer (Anm. 1), S. 274; Robert Koch-Institut (Hrsg.), Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Berlin 2008; Diana Sahrai, Healthy Migrants oder besondere Risikogruppe? Zur Schwierigkeit des Verhältnisses von Ethnizität, Migration, Sozialstruktur und Gesundheit, in: Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften, Nr. 45, (2009), S. 70-94.

(12) J. Spallek/O. Razum (Anm. 11), S. 274.

(13) Alle aufgeführten Vergleiche in diesem Absatz sind entnommen aus Robert Koch-Institut (Anm. 11), S. 38-40 für Tuberkulose, S. 35 für Säuglingssterblichkeit, S. 50 für subjektive Gesundheit und S. 52 für Übergewicht/Fettleibigkeit.

(14) Eine wichtige klassische Studie ist z.B. Edward E. Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M. 1978.

(15) Siehe für Indonesien Jos D. Platenkamp, Health as a Social Condition, in: Folk, 40 (1998), S. 57-69; für Indien Tina Otten, Heilung durch Rituale. Zum Umgang mit Krankheit bei den Rona im Hochland Orissas, Indien, Münster 2006; Tina Otten/Stefan Ecks, Medizinethnologie Südasiens: Ritus, Pluralismus, Postkolonialismus, in: Curare, 27 (2004) 1+2, S. 129-137.


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Quelle:
APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte 45/2010 -
8. November 2010, S. 25 - 31
Schwerpunktthema: Gesundheit
Herausgeber: Bundeszentrale für politische Bildung
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Redaktion: Dr. Hans-Georg Golz (verantwortlich für diese Ausgabe)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2011