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ARTIKEL/138: Tagung - Kinder mit Dravet-Syndrom müssen ständig überwacht werden (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2015

Dravet-Syndrom
Ständige Überwachung
Dravet-Syndrom ist nur schwer therapierbar und betroffene Kinder müssen ununterbrochen beobachtet werden. Tagung in Hamburg.

von Uwe Groenewold


Mit großem Elan saust der etwa dreijährige Junge auf seinem Bobbycar über den Flur des Werner-Otto-Instituts in Hamburg-Alsterdorf. Er tobt mit den anderen Kindern herum, ist offensichtlich guter Dinge. Ungewöhnlich ist die Brille, die er trägt: Vollständig schwarz und an den Seiten verschlossen, sodass kein ungefiltertes Tageslicht an seine Augen gelangt. "Er leidet wie eine Reihe weiterer Epilepsiekinder an Photosensibilität. Lichtreflexionen können bei ihm einen Anfall auslösen", erläutert Dr. Silke Flege aus dem Vorstand des Vereins Dravet-Syndrom e. V. und Mutter eines siebenjährigen Sohnes. Für viele Kinder mit diesen speziellen Beschwerden sind Zug- oder Autofahrten eine große Herausforderung: Oftmals fixieren sie bei schneller Fahrt unbewusst minutenlang Spiegelungen oder Reflexe und provozieren auf diese Weise einen epileptischen Anfall. Silke Flege: "Das macht Reisen für die betroffenen Familien noch komplizierter."

Dabei ist das Dravet-Syndrom ohnehin schon eine für alle Beteiligten stark belastende Erkrankung. Unzählige Krankenhausaufenthalte, regelmäßige Ambulanzfahrten, die Suche nach einer optimalen medizinischen Betreuung und Therapie, nach Hilfsmitteln, nach dem richtigen Kindergarten, der richtigen Schule sowie die ununterbrochene Überwachung und letztlich die fortwährende Angst um das Kind sind normaler Alltag einer betroffenen Familie.

Besonders groß ist die Angst vor dem plötzlichen Tod bei Epilepsie (sudden unexpected death in epilepsy, kurz SUDEP). "SUDEP ist die häufigste Todesursache Von jungen Dravet-Patienten. Gefährdet sind insbesondere Patienten mit schweren Krankheitsverläufen", erklärt Dr. Sarah von Spiczak, Neuropädiaterin am UKSH in Kiel und leitende Ärztin im Norddeutschen DRK-Epilepsiezentrum Raisdorf (siehe Interview unten). Die Forschung befinde sich hier noch in den Anfängen, bekannt sei jedoch, dass das Sterblichkeitsrisiko nachts sowie unmittelbar nach einem schweren Anfall erhöht ist. "Wünschenswert wäre, solche Anfälle etwa über bestimmte Algorithmen im EEG vorhersagen zu können, um dann gezielt zu intervenieren. Dies ist jedoch noch Zukunftsmusik."

Vom Dravet-Syndrom (severe myoclonic epilepsy of infancy, SMEI) sind doppelt so viele Jungen wie Mädchen betroffen, die Häufigkeit wird auf 1:20.000 bis 1:40.000 geschätzt. Typischerweise kommt es bei einem zunächst gesunden Kind zwischen dem dritten und neunten Lebensmonat zu ersten epileptischen Anfällen, meist in Verbindung mit hohem Fieber. Der erste Anfall kann auch nach einer Impfung auftreten, ist dies doch häufig der erste Anlass im Leben eines Kindes, Fieber zu entwickeln.

Bei Dravet-Kindern treten Anfälle auf, die das ganze Hirn ("generalisiert") beziehungsweise einzelne Areale ("fokal") betreffen. Typisch sind tonisch-klonische Anfälle, die eventuell nur eine Körperhälfte betreffen. Sie dauern meist mehr als 20 Minuten und sind nur schwer zu durchbrechen. Selbst Notfallmedikationen führen nicht immer zum Erfolg, sodass häufig eine notärztliche Intervention erforderlich ist. Nicht-rhythmische Muskelzuckungen (Myoklonien) oder kurze Abwesenheiten (Absencen) begleiten die Erkrankung häufig. Die Diagnose erfolgt in aller Regel nach dem klinischen Bild; das EEG ist nicht wegweisend und ein MRT meist unauffällig. Eine molekulardiagnostische Untersuchung erbringt in vier von fünf Fällen den Nachweis einer genetischen Mutation des SCN1A-Gens.

Häufigster Auslöser für einen Anfall ist bei kleinen Kindern eine rasche Veränderung der Körpertemperatur. Im Gegensatz zu den klassischen Fieberkrämpfen des Kleinkindalters, die meist mit einem deutlichen Temperaturanstieg verbunden sind, können bei Kindern mit Dravet-Syndrom oft schon geringe Temperaturunterschiede, die bei Infekten, aber auch spontan, beim Spielen oder bei sportlicher Betätigung auftreten, einen Anfall provozieren.

Das Spektrum innerhalb des Dravet-Syndroms ist sehr groß, der Verlauf individuell. Die Entwicklung ist bis zum Beginn der Erkrankung normal; danach verlangsamt sich die psychomotorische und kognitive Entwicklung zum Teil deutlich. "Jedes Kind hat im Rahmen seiner Erkrankung einen bestimmten Entwicklungskorridor", erklärt der Hamburger Kinderarzt Dr. Christian Fricke. Mit einer interdisziplinären medizinischen, pädagogischen und therapeutischen Versorgung könne zu einer Funktionsverbesserung (Sprache, Motorik, Gedächtnis) sowie Selbstständigkeits- und Persönlichkeitsentwicklung beigetragen werden.

Besonders schwer und für alle Beteiligten wenig befriedigend ist die medikamentöse Behandlung; die Epilepsie verläuft häufig therapieresistent. Antiepileptika, die durch die Hemmung von Natriumkanälen wirken, können zu einer Verschlechterung führen und Anfälle auslösen. Häufig wird eine Kombinationstherapie von mehreren Medikamenten benötigt, bewährt haben sich die Medikamente Valproat, Stiripentol, Clobazam und Topiramat. Bei allen Beteiligten ist großes Durchhaltevermögen gefragt. Bis die Wirkung eines Medikamentes einsetzt, kann es Wochen, teilweise Monate dauern. Zu den alternativen Therapieansätzen gehören die kohlenhydratlimitierte und fettreiche sogenannte ketogene Diät, die auch bei anderen Epilepsieformen sowie zur Behandlung von Stoffwechselstörungen eingesetzt wird, und die Vagusnervstimulation (VNS), die für die Behandlung therapieresistenter Epilepsien infrage kommt.

Die weitere Prognose ist sehr unterschiedlich. "Es gibt Dravet-Kinder, die gut auf eine Therapie ansprechen und später sogar eine Regelschule besuchen können", sagt Elternvertreterin Flege. Doch solche Kinder seien eher die Ausnahme. In der Mehrzahl der Fälle ist der Verlauf ungünstig mit einer mittleren oder schweren geistigen Behinderung. Vermutet wird, dass nicht nur die epileptische Aktivität, sondern auch genetische und weitere, bisher unbekannte Faktoren für die geistige Entwicklung der Kinder eine Rolle spielen.

Im Erwachsenenalter nimmt die Häufigkeit der Anfälle tendenziell ab - wenngleich es gerade unter den Erwachsenen eine Dunkelziffer an Dravet-Patienten gibt. Bei vielen Patienten wurde aufgrund der häufig fieber-gebundenen Symptomatik fälschlicherweise eine "folgenschwere Meningitis" oder ein "Impfschaden" diagnostiziert. Veränderungen des SCN1A-Gens wurden 2001 erstmals beschrieben, entsprechend wurde bei heute erwachsenen Patienten im Kindesalter keine genetische Diagnostik durchgeführt. Bis heute gibt es nur wenige Untersuchungen, die sich mit der Diagnose und Therapie des Dravet-Syndroms im Erwachsenenalter beschäftigen.

Inzwischen, erläutert von Spiczak, seien Veränderungen auch in anderen Genen, etwa dem SCN1B- oder dem SCN2A-Gen, identifiziert worden; diese treten aber deutlich seltener auf. Auch sei die molekulargenetische Diagnostik dank neuester Sequenziermethoden ungleich erfolgreicher und führe bei bis zu 30 Prozent der Patienten, die bis vor wenigen Jahren genetisch unauffällig geblieben wären, zum Nachweis eines Gendefekts. Im Hinblick auf die individuelle Prognose und Therapie habe dies jedoch noch keine Konsequenzen. "Wir können keinen sicheren Rückschluss von einer Genmutation auf die Schwere des Krankheitsbildes ziehen. Bestimmte Mutationen sind nicht für bestimmte Symptome verantwortlich; es gibt hier keine klare Korrelation. Jeder Krankheitsverlauf ist unabhängig von der genetischen Ausprägung."

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"ENTWICKLUNG NEUER THERAPIEN VORANTREIBEN"

UKSH und DRK-Epilepsiezentrum haben einen Kooperationsvertrag bei der Versorgung junger Epilepsiepatienten geschlossen. Sie sind in beiden Einrichtungen tätig. Wie sieht die Zusammenarbeit aus?

Dr. Sarah von Spiczak: Zwischen der Klinik für Neuropädiatrie und dem Norddeutschen Epilepsiezentrum Raisdorf besteht eine enge Zusammenarbeit. Diese bezieht sich auf den intensiven personellen Austausch (ärztliche Leitung, Ausbildung von Assistenzärzten), auf die gemeinsame Durchführung von Therapiestudien und Forschungsprojekten sowie auf das diagnostische Angebot in der Uniklinik.

Das Dravet-Syndrom ist eine relativ seltene, wenig bekannte Epilepsieform. Wie viele Kinder behandeln Sie pro Jahr?

von Spiczak: Bei uns werden 15 bis 20 Kinder und Jugendliche mit Dravet-Syndrom betreut. Jedes Jahr kommen zwei bis drei neue Kinder dazu, meist wechseln ein bis zwei junge Erwachsene in die Versorgung der Erwachsenenmedizin.

Hat es in den vergangenen Jahren Durchbrüche in Diagnostik oder Therapie gegeben?

von Spiczak: Seit 2001 sind Veränderungen im SCN1A-Gen, das eine Untereinheit eines spannungsabhängigen Natriumkanals kodiert, als Ursache des Dravet-Syndroms bekannt. Diese können entsprechend diagnostisch nachgewiesen werden und ermöglichen heute eine frühzeitige Diagnosestellung bei klinischem Verdacht. Genetische Veränderungen des SCN1A-Gens finden wir bei etwa 80 Prozent der Patienten mit Dravet-Syndrom. Die genetische Forschung, an der wir über die Arbeitsgruppe Pädiatrische Epilepsiegenetik der Klinik für Neuropädiatrie am UKSH Kiel beteiligt sind, sucht aktuell nach genetischen Veränderungen, die für die Erkrankung bei "SCN1A-negativen" Kindern verantwortlich sind; hier konnten in den letzten Jahren einige Fortschritte erzielt werden.

Führen Sie eigene klinische Studien durch oder sind Sie an klinischen Studien beteiligt?

von Spiczak: Das Epilepsiezentrum Raisdorf ist ebenso wie die Universitätskinderklinik bestrebt, an Therapiestudien teilzunehmen, um die Entwicklung neuer Therapien voranzutreiben und den Patienten eine bestmögliche Versorgung anzubieten. In der Vergangenheit sind auch Studien zur Therapie des Dravet-Syndroms durchgeführt worden, aktuell werden weitere geplant. An diesen Planungen sind wir unter anderem durch die Mitarbeit im ärztlichen Beirat des Dravet Elternvereins beteiligt. Weitere Informationen:
www.epilepsiegentik.de und www.drk-epilepsiezentrum.de


Infos

- Das Dravet-Syndrom ist eine seltene Form der Epilepsie, die nur schwer zu kontrollieren ist. Benannt ist sie nach der französischen Kinderepileptologin Dr. Charlotte Dravet.
Die Genetik der Erkrankung wird am UKSH in Kiel erforscht, im Norddeutschen Epilepsiezentrum Raisdorf erfolgt die Therapie.
Auf einer Familienkonferenz im Mai in Hamburg erörterten Fachleute und Angehörige von Betroffenen aktuelle Aspekte der Erkrankung.

- 15-20 Kinder mit Dravet-Syndrom werden jährlich am Norddeutschen Epilespiezentrum in Raisdorf behandelt.

- 1:20.000 bis zu 1:40.000 wird die Häufigkeit des Dravet-Syndroms geschätzt. Jungen sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen.

- 20 Minuten und mehr dauern die beim Dravet-Syndrom typischen tonisch-klonischen Anfälle, die manchmal nur eine Körperhälfte betreffen.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201506/h15064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Dr. Sarah von Spiczak, Neuropädiaterin am UKSH in Kiel und leitende Ärztin im Norddeutschen DRK-Epilepsiezentrum in Raisdorf.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Juni 2015, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2015

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