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DIABETES/2110: Einfluss von Lebensstilfaktoren auf die Entstehung - Interview mit Prof. Dr. Henriette Kirchner (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 7/8, Juli/August 2021


"Schaltfehler im Erbgut"

Uwe Groenewold sprach mit der Genetikerin Prof. Dr. Henriette Kirchner

INTERVIEW. Die Ernährungswissenschaftlerin und Genetikerin Prof. Henriette Kirchner untersucht mit ihrem Team am Center of Brain, Behavior and Metabolism der Universität Lübeck, welchen Einfluss Lebensstilfaktoren auf die Entstehung von Diabetes haben. Unser Autor Uwe Groenewold befragte sie.


Frau Prof. Kirchner, warum erkrankt eine Person an Diabetes? Sind es die Gene oder trägt eher die ungesunde Lebensweise zur Entstehung bei?

Prof. Henriette Kirchner: Im Fall des Typ-2-Diabetes, also des nicht insulinpflichtigen und am weitesten verbreiteten Diabetes, lautet die Antwort: sowohl als auch. Die genetische Prädisposition liegt für Typ-2-Diabetes zwischen 30 und 50 Prozent. Somit hat man eine bis zu 50-prozentige Chance, einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, wenn ein Elternteil ebenfalls betroffen ist. Allerdings wurden bislang noch keine Gene identifiziert, die einen großen Effekt auf die genetische Vererbung des Typ-2-Diabetes haben.


Aber es gibt aktuelle Erkenntnisse aus der Genetik?

Kirchner: Neueste genomweite Assoziationsstudien zeigen, dass ungefähr 450 genetische Positionen mit Typ-2-Diabetes assoziiert sind. Einige davon beeinflussen besonders die Genexpression in den insulinproduzierenden Beta-Zellen und vermindern somit deren Funktionsfähigkeit. Andere genetische Risikovarianten verringern direkt die Insulinproduktion, indem sie die Expression des Gens für Insulin und wichtige Co-Faktoren beeinträchtigen.


Genetik ist die eine Seite, Epigenetik die andere. Bitte erklären Sie kurz den Zusammenhang.

Kirchner: Es gibt eine Vererbung des Diabetesrisikos, die epigenetisch vermittelt ist. Epigenetik beeinflusst die Genexpression, also ob ein Gen verstärkt an- oder ausgeschaltet wird. Epigenetische Mechanismen stellen das Bindeglied zwischen Genen und Umwelt dar, weil sie je nach Art der aktuellen Umwelteinflüsse die Genaktivität beeinflussen können. Epigenetische Veränderungen, die Typ-2-Diabetes auslösen können, finden wir bei Personen mit Diabetes in allen Organen, die stoffwechselrelevant sind - im Muskel, im Fettgewebe, in der Leber, in der Bauchspeicheldrüse.


Was hat das mit unserer Lebensweise zu tun?

Kirchner: Die menschlichen Gene haben sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert. Epigenetik wiederum ist flexibel und dynamisch und reagiert schnell auf Umwelteinflüsse und den individuellen Lebensstil. Deswegen spielt die Lebensweise, also wie wir uns ernähren und bewegen, eine große Rolle bei der Diabetesentstehung.


Und welchen Einfluss hat das Verhalten der Eltern auf die Nachkommen?

Kirchner: Eltern sollte klar sein, dass sich ihr Lebensstil auf die kommende Generation auswirkt; epigenetische Muster können über Mutter oder Vater weitergegeben werden. In diesem Forschungsgebiet wurden in den vergangenen Jahren viele Erkenntnisse gewonnen, die generationsübergreifende epigenetische Vererbung könnte erklären, warum die globale Inzidenz für Diabetes so stark zunimmt, ohne dass sich die Gene verändert haben.


Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Kirchner: Auswirkungen verschiedener Hungersnöte sind gut dokumentiert, etwa die aus dem Hungerwinter 1944 in den Niederlanden. Durch die proteinarme Mangelernährung, der schwangere Frauen damals ausgesetzt waren, hatten die Nachkommen ein höheres Risiko für Typ-2-Diabetes und koronare Herzerkrankungen. Bei ungesundem Lebensstil geben diese ein wiederum schlechteres epigenetisches Profil an ihre Nachkommen weiter - ein Teufelskreis und wahrscheinlich ein wichtiger Grund für die Epidemie an Typ-2-Diabetes und Übergewicht.


Ist es auch möglich, dass Genetik und Epigenetik zusammentreffen?

Kirchner: Dazu gibt es inzwischen erste Erkenntnisse. So wurde vor Kurzem ein komplexes Netzwerk identifiziert, das die Genexpression eines wichtigen Bestandteils des Insulinrezeptors in der Leber über einen genetischen Polymorphismus herunterreguliert. Diabetes, so viel scheint klar, ist eine Art Schaltfehler im Erbgut. Natürlich können Genetik und Epigenetik allein nicht vollständig erklären, wie oder warum Diabetes entsteht; aber sie tragen einen großen Teil dazu bei.


Gibt es abschließend auch gute Nachrichten?

Kirchner: Epigenetische Veränderungen können rückgängig gemacht werden, das ist durch Studien in Zellkulturen und Mausmodellen gut belegt. Ein diätetischer Gewichtsverlust verändert das epigenetische Muster, eine Bewegungstherapie wirkt sich auf den Muskel aus und wirkt damit der Insulinresistenz entgegen.


Vielen Dank für das Gespräch.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 7/8, Juli/August 2021
74. Jahrgang, Seite 11
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 24. August 2021

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