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KREBS/1151: Methadon gegen Krebs - Unverantwortlich oder Chance? (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2017

Methadon
Unverantwortlich oder Chance?

von Hans-Georg Hoffmann


Hans-Georg Hoffmann aus der Diako Fachambulanz Kiel zur aktuellen Diskussion über Methadon gegen Krebs. Eigene Beobachtung von 45 Einzelfällen - keine Studie.


Die Patienten, denen ich bisher Methadon verordnet habe, sind schwer krebskrank, meist mit vielen Metastasen. Sie haben Operationen, Bestrahlungen, verschiedene Chemotherapien hinter sich. Immer wieder aufkeimende Hoffnungen wurden durch Rezidive und/oder neue Metastasen zunichtegemacht.

Die Patienten selbst oder Verwandte haben in den vergangenen Wochen viele Berichte zum Thema gesehen, informierten sich im Internet und in Foren über Methadon. Sie sehen in Methadon eine Chance nicht unbedingt auf vollständige Heilung, aber auf Verlängerung ihres Überlebens, Verringerung ihrer Schmerzen, ihrer Ängste und auf Verbesserung ihrer Lebensqualität. Nach meinen Erfahrungen gibt es diese Chance.

Einen anderen Eindruck erweckten viele der in den Medien veröffentlichten Berichte. Beispiel eins: In Ausgabe 34 des "Spiegel" war unter der Rubrik "Wissenschaft und Technik" ein Interview mit Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des "industriekritischen Arznei-Telegramms über das angebliche Krebswundermittel Methadon" zu lesen. Er sagt im Interview: "Die wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse sind völlig unzureichend, um eine Anwendung zu rechtfertigen. Es handelt sich lediglich um experimentelle Untersuchungen aus dem Labor, eine nichtssagende Ministudie ohne Kontrollgruppe, sowie anekdotische Erfahrungsberichte ..., man kann noch nicht einmal ausschließen, dass Methadon die Lebenserwartung von Krebspatienten sogar verkürzt ... Es geht um spektakulär klingende, aber wissenschaftlich wertlose Berichte über Leute, die angeblich längst hätten tot sein müssen ..."

Hierzu ist festzustellen: Es werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Patienten mit Methadon behandelt. Dies als "anekdotische Erfahrungsberichte, wissenschaftlich wertlose Berichte über Leute, die angeblich längst tot sein müssten", zu bezeichnen, halte ich für zynisch.

Beispiel zwei: Im "Deutschen Ärzteblatt" 33/34 findet sich unter der Überschrift "Strohhalmfunktion ohne Evidenz" ein Beitrag gegen den Einsatz von Methadon in der Onkologie. Als Autoren werden sechs Professoren aus Jena aufgeführt. Die dort angeführten Argumente gegen Methadon finden sich auch in zahlreichen weiteren Publikationen und Stellungnahmen von Fachgesellschaften. Einiges wirkt nach meinem Eindruck wie voneinander abgeschrieben. Eigene Erfahrungen fließen in die Beiträge nicht ein, es fand auch kein Kontakt zu Medizinern statt, die Erfahrungen haben. In dem Artikel finden sich z. B. drei "Fallberichte mit lebensbedrohlichem und tödlichem Verlauf".

- Im ersten Fall bekam eine Patientin am ersten Tag 14ml = 70mg Polamidon in 8/6ml gesplittet. Zusätzlich 3x30mg Targin (Oxycodon + Naloxon). In der Substitutionsmedizin beginnen wir bei opiattoleranten Patienten am ersten Tag mit maximal 20mg, besser mit 15mg Polamidon, entsprechend mit 30-40mg Methadon. Die 14ml Polamidon + Targin am ersten Tag waren also eine tödliche Überdosis. Das zeigt, dass die Behandlung mit Methadon in erfahrene Hände gehört oder unter Supervision erfahrener Kollegen durchgeführt werden sollte. Die gilt genauso für die Schmerzbehandlung mit Industrie-Opioiden.

Opiatnaive Krebspatienten nehmen am ersten Tag 3-5 Tropfen Methadon, das sind 1,5 bis 2,5mg, tägliche Erhöhung um 2x2 Tropfen, 2x1mg, bis maximal 35 Tropfen = 17,5mg. Bei mit Opioiden Vorbehandelten auch schnellere Aufdosierung, bei Schmerzen auch höhere Dosis.

- Im zweiten Fall fehlen Angaben über die Dauer der Methadonbehandlung und die eingenommene Dosis. Einer meiner Patienten bekam in einer Klinik statt 30 Tropfen Methadon 30ml. Die zwanzigfache Dosis. Seine Ehefrau hat viele Stunden an seinem Bett gesessen, und ihn wachgehalten. Fehler in der Be- und Umrechnung der Dosis kommen auch bei unseren Substituierten nicht selten vor, wenn sie in somatischen Kliniken aufgenommen werden.

- Im dritten Fall bekam ein Patient neben zwölf anderen Medikamenten 2x35 Tropfen Methadon. Es geht aus der Fallbeschreibung nicht hervor, wie lange er schon Methadon nimmt, ob er schon eine gewisse Opiattoleranz entwickeln konnte, wie er es bisher vertragen hat. Die "Schuld" an einer Bewusstlosigkeit wird dem Methadon zugeschoben. Dieser Patient klarte zunehmend auf.

Diese drei Fälle als Beleg für die Gefährlichkeit des Methadons zu nehmen, ist nicht seriös, wissenschaftlich schon gar nicht. Derzeit sind nach meinem Kenntnisstand 89 Ärzte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gelistet, die Methadon verschreiben. Ein Kollege praktiziert in Norwegen. Laut Bundesopiumstelle ist die "Off Label"-Verschreibung von Methadon an onkologische Patienten zulässig.
(www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE).

Zu meinen persönlichen Erfahrungen: Ich verschreibe seit 2015 schwer krebskranken Menschen D/L Methadon. Waren es bis zum April 2017 zehn Patienten, stieg die Nachfrage nach Berichten in verschiedenen Medien steil an. Aktuell verschreibe ich 45 Patienten aus dem norddeutschen Raum Methadon. Darunter sind Patienten mit Glioblastomen, Mamma Ca, Colon Ca, Lungen Ca, Pankreas Ca und andere. Sechs meiner Patienten sind bisher gestorben.

- Zwei nach Angaben der Angehörigen an Entzündungen, wohl als Folge von gravierenden Blutbildveränderungen, v. a. Thrombozytopenien und Leukopenien. Die Glioblastome bzw. Rezidive hatten sich im MRT seit Einnahme des Methadons in Kombination mit Chemotherapie zurückgebildet. Die Angehörigen sagen, Methadon hätte auch ihre Psyche aufgehellt.

- Zwei starben an allgemeinem Organversagen, als Folge der multiplen Metastasierungen und der Blutbildveränderungen. Diese beiden Patienten hatten Methadon abgesetzt, sie waren durch die behandelnden Onkologen verunsichert worden. Sie hatten sich aber weiterhin einer Chemotherapie unterzogen.

- Eine Patientin starb an dem Tag, an dem ich ihr Methadon rezeptiert habe. Sie hatte das Rezept noch nicht einlösen können.

- Eine Patientin war "austherapiert". Als ich sie zu Hause aufsuchte - sie bat mich telefonisch darum - war sie in einem völlig abgemagerten Zustand, bettlägerig, voller Metastasen, mit sehr schlechten Blutwerten. Vier Wochen nach Beginn der Methadon-Einnahme mailten mir die Eltern: "Wir sitzen mit unserer Tochter im Garten, es geht ihr vor allem psychisch sehr gut." Weitere vier Wochen später ist sie friedlich im Kreis ihrer Familie und Freunde eingeschlafen.

Methadon wird, wenn es schrittweise, tropfenweise eindosiert wird, gut vertragen. Rund zehn Prozent der Patienten klagen vorübergehend über Übelkeit, vor allem in Kombination mit einer Chemotherapie. Weitere Nebenwirkungen können Verstopfung, erhöhte Schweißneigung und leichter Schwindel sein.

Bisher ist keiner meiner Patienten durch Methadon zu Schaden gekommen, bei keinem musste Methadon wegen gravierender Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen abgesetzt werden.

Die Patienten werden von mir gebeten, die Methadonbehandlung ihren Onkologen mitzuteilen. Einige haben Angst, dies zu tun; sie haben schlechte Erfahrungen gesammelt, als sie nach Methadon gefragt haben. Sie haben Angst, dass ihr Onkologe die Behandlung dann beendet, dass der Ton sich verändert. Auch in anderen medizinischen Bereichen sind die behandelnden Ärzte nicht über alles informiert, was ihre Patienten so nehmen. Es besteht ständiger Kontakt mit den Patienten, überwiegend über Mail (Zitate im Kasten unten).

Die 89 verschreibenden Ärzte haben versucht, ihre Erfahrungen zu bündeln. Wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, ist ohne wissenschaftlichen Support äußerst schwierig. Methadon wird in der Apotheke angemischt, die Tagestherapiekosten liegen unter 50 Cent. Wäre es ein Fertigarzneimittel, mit dem sich Geld verdienen ließe, gäbe es den Support schon längst, und wahrscheinlich auch schon Studien. Weshalb haben sich also nicht schon mehr Wissenschaftler mit dem Thema befasst?

Methadon wird in der Substitutionsmedizin in Deutschland seit 1995 eingesetzt. 44 Prozent der ca. 70.000 in Deutschland Substituierten nehmen täglich D/L Methadon. Weltweit sind es viele hunderttausend. Rund 180 Patienten der DIAKO Fachambulanz-Kiel werden mit Methadon substituiert. Bei bestimmungsgemäßen Gebrauch, das heißt Einnahme wie verordnet, ist in den 14 Jahren meiner Tätigkeit bisher niemand zu Schaden gekommen, geschweige denn gestorben. Die immer wieder aufgeführte Gefahr durch QT-Verlängerung, schwere Rhythmusstörungen bis zum Herzstillstand konnte in den 14 Jahren nur bei sehr wenigen Patienten vermutet werden. Diese hatten meist wegen der Schwere ihrer Suchterkrankung eine hohe Dosis Methadon/Polamidon und zusätzlich hohe Dosen anderer psychoaktiver Substanzen eingenommen. Überwiegend Alkohol, Benzodiazepine, trizyklische Antidepressiva mit stark dämpfender Wirkung. Meist nahmen sie mehrere dieser Substanzen. Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Patient nur mit der verordneten Dosis Methadon/Polamidon kardiologische Probleme bekommen hätte. In der Behandlung von Krebskranken werden Dosierungen eingesetzt, die einen Bruchteil der Dosierungen von Opioidabhängigen betragen.

Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Methadon in der Krebsbehandlung würde ich an dem Abend, an dem ich eine Krebsdiagnose bekommen würde, fünf Tropfen Methadon nehmen.

Hans-Georg Hoffmann, Arzt für Psychiatrie-Psychotherapie, DIAKO Fachambulanz-Kiel

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ZITATE VON PATIENTEN
Patientin, 50 Jahre

Mamma Ca mit axillären Lymphknotenmetastasen,
ED Juli 2015,
Polychemotherapie, CT April 2017, "weitere Metastasen in Leber und BWK II",
Methadon seit 9. Mai 2017 in ansteigender Dosierung

21. August 2017: "{N]un zum Ergebnis der CT Untersuchung: Als erstes stellte Frau Dr. Meier fest, dass der Tumormarker in den Keller gerutscht ist (Hurra!) und dass nichts Neues zu sehen war. Die zwei Metastasen in der Leber sind nicht gewachsen ... Dr. Meier weiß, dass ich Methadon nehme, und sie sagte: "Es ist mir gleich, ob das gute Ergebnis von der Chemo kommt oder vom Methadon, es ist auf jeden Fall ein freudiges Ergebnis ..."


Patient, 72 Jahre

Lungenkrebs mit Hirn-, Leber-, Milzmetastasen,

ED 11. Juli 2017,

Operation einer Bronchialmetastase am 13. Juli 2017,

Methadon seit dem 26. Juli 2017

21. August 2017, Mail der Tochter: "Wir sind jetzt bei 2x35 Tropfen Methadon angelangt. Es kommt weder zu Unverträglichkeiten noch zu Unwohlsein, im Gegenteil, ihm schmeckt das bittere Zeug sogar! Bemerkenswert ist, dass mein Vater total vital geworden ist. Wie in alten Zeiten gehen wir wieder mit dem Hund spazieren. Auch Treppen bis in den 3. Stock fallen ihm nicht mehr annähernd so schwer wie noch vor ein paar Wochen ... Ich bin fest davon überzeugt, dass das Methadon seine Wirkung entfaltet und ihm neue Energie gibt."


Patientin, 60 Jahre

Glioblastom,
ED 14. Oktober 2014,
Tumorresektion 20. Oktober 2014, danach Chemotherapie,
Methadon seit April 2015, im regelmäßig durchgeführten MRT bisher kein Rezidiv.

16. August 2017: "Ich nehme 2x28 Tropfen, mir geht es gut. Ich bin seit Sonntag mit meinem Mann im Allgäu zum Wandern und Paragliding. Mein nächstes MRT ist am 20.09."

17. August 2017: "Ich fand die PlusMinus-Sendung (16.8.) sehr gut. Die Diskussion scheint nun in Gang zu kommen, und ich hoffe sehr, dass Studien nun wirklich finanziert werden. Bis die Ergebnisse einer Studie in vielleicht 5 Jahren vorliegen, kann ich nicht warten. Ich werde weiter Methadon nehmen."


Info

89
Ärzte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz verschreiben ihren onkologischen Patienten Methadon.

180
Patienten der Diako-Fachambulanz in Kiel werden mit Methadon substituiert. Seit 1995 wird Methadon in der Substitutionsmedizin in Deutschland eingesetzt.


Anmerkung der Redaktion Schattenblick:
Der Autor und Arzt für Psychiatrie-Psychotherapie Hans-Georg Hoffmann kann keine weiteren Patienten mehr aufnehmen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201710/h17104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Oktober 2017, Seite 32 - 33
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2017

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