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SCHMERZ/807: Migräne - Leidensdruck entscheidet über Wahl der Medikation (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022

Leidensdruck entscheidet über Wahl der Medikation

von Uwe Groenewold


MIGRÄNE. Deutscher Schmerz- und Palliativtag Ende März online mit Kopfschmerz-Curriculum. 33.000 akut Erkrankte täglich nur in Schleswig-Holstein. Prophylaxe kann Lebensqualität wirksam erhöhen.


Ein wesentliches Thema des von der Deutschen Schmerzgesellschaft (DSG) ausgerichteten Kongresses waren Kopfschmerz und Migräne. Erstmals hat die DGS ein Curriculum Kopfschmerz für Haus- und Fachärzte angeboten, um die Versorgung Betroffener zu verbessern. Prof. Hartmut Göbel, Leiter der Schmerzklinik Kiel, hat über den aktuellen Stand der medikamentösen und nicht-medikamentösen Migräneprophylaxe informiert. "Migräne mit seinen 47 Unterformen belegt hinter Karies und Spannungskopfschmerzen Platz drei der häufigsten Erkrankungen weltweit", so Göbel. Jeden Tag seien in Deutschland etwa 900.000 Menschen von akuter Migräne betroffen, 100.000 arbeitsunfähig und bettlägerig - auf Schleswig-Holstein bezogen sind dies über 33.000 akut Erkrankte, 3.700 davon arbeitsunfähig.

Eine Prophylaxe ist bei spätestens sechs Migräneattacken pro Monat, langanhaltenden Beschwerden, Zunahme der Anfallsfrequenz, Therapieversagen sowie bei Einnahme von Schmerz- und Migränemitteln an mehr als zehn Tagen pro Monat erforderlich. "Eine wirksame Vorbeugung kann die Lebensqualität der Betroffenen dramatisch verbessern", erläutert Göbel. Die Prophylaxe kann mit und ohne Medikamente erfolgen. Begleitend zur medikamentösen Therapie oder alternativ bieten sich zahlreiche nicht-medikamentöse Strategien an. Mit Entspannungsverfahren wie der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson lasse sich bei einer Reihe von Patienten eine Reduktion der Migränehäufigkeit erreichen. Auch Biofeedback, kognitive Verhaltenstherapien, Schmerzbewältigung und Stressmanagement seien laut aktueller Therapieleitlinien erfolgversprechend, so Göbel. Ein regelmäßiger Tagesablauf und Ausdauersportarten wie Joggen, Walken, Schwimmen oder Radfahren können die Häufigkeit und Intensität der Attacken ebenfalls reduzieren.

Diese Maßnahmen lassen sich falls erforderlich, durch eine medikamentöse Migräneprophylaxe ergänzen. "Ziel ist es, Migräneattacken seltener, kürzer und/oder leichter zu machen", sagte Göbel. Außerdem könne mit einer Prophylaxe einem Dauerkopfschmerz entgegengewirkt werden, der sich aus dem stetigen Gebrauch von Migränemitteln entwickeln kann. Medikamentöse Prophylaktika lassen sich in vier Klassen gruppieren:

Klasse I:
freiverkäufliche Nahrungsergänzungsmittel wie Magnesium oder Vitamin B2

Klasse II:
rezeptpflichtige orale Migräneprophylaktika wie Metoprolol, Amitriptylin oder Topiramat

Klasse III:
Botulinumtoxin

Klasse IV:
CGRP- und CGRP-Rezeptor-Antikörper wie Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab

"Für alle aufgeführten Substanzen wurde die Wirksamkeit in kontrollierten Studien nachgewiesen, wobei die Studienqualität sehr unterschiedlich ist." Bei jüngeren Migräneprophylaktika sei die Datenlage aussagekräftiger, ältere Therapieoptionen hätten sich dagegen im klinischen Alltag bewährt. "Die Substanzen der Klassen III und IV sind um ein Vielfaches teurer als Substanzen der Klasse II, sie werden daher erst eingesetzt, wenn die anderen Wirkstoffe nicht wirksam, nicht verträglich oder kontraindiziert sind", so der Kieler Schmerzexperte. Zur Therapiebegleitung sowie zur Verlaufs- und Erfolgskontrolle empfiehlt er die Nutzung der Migräne-App, die ohne Rezept kostenlos in den Appstores erhältlich ist.

Wesentliche Kriterien bei der Wahl der geeigneten Substanz seien Wirksamkeit, mögliche Nebenwirkungen und das Gebot der Wirtschaftlichkeit: "Da keine Substanz zur Verfügung steht, die bei allen Patienten zuverlässig, schnell und anhaltend wirkt, gleichzeitig auch bei Langzeiteinnahme unbedenklich ist und diese Eigenschaften dann noch im Vergleich mit anderen Prophylaktika wirtschaftlich günstig realisiert, stellt die Auswahl der individuell optimalen Substanz eine ärztliche Herausforderung dar", erläutert der Migränespezialist. "Letztlich entscheiden der Leidensdruck und die individuelle Akzeptanz der Patienten über die Wahl der Medikation."

Die DGS hat während des Kongresses erneut auf eine Unterversorgung der eigenen Angaben zufolge rund 3,9 Millionen Schmerzkranken in Deutschland verwiesen. Erforderlich wären mindestens 10.000 ausgebildete Schmerzmediziner, aktuell gebe es in Deutschland jedoch lediglich rund 1.321 ambulant tätige Ärzte mit entsprechenden Qualifikationen.

Während des Kongresses hat die DGS auch auf den Krieg in der Ukraine reagiert. Zum einen wurde eine Spendenaktion zugunsten von "Ärzte ohne Grenzen" initiiert, zum anderen ein Symposium "Hilfe für traumatisierte Schmerzpatienten" angeboten, das sich mit den Kriegsfolgen befasste.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022
75. Jahrgang, Seite 35
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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