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STANDPUNKT/002: "Leitbild für gute Medizin" - ethikbasierte Grundlagen einer globalen Gesundheitspolitik (IPPNW)


IPPNW-Regionalgruppe Hamburg und AK Süd-Nord - 23. Juli 2015

"Leitbild für gute Medizin" - ethikbasierte Grundlagen einer globalen Gesundheitspolitik

Mit einleitenden Worten von Manfred Lotze


Unsere Gesundheitsversorgung wird den Regeln des sog. freien Marktes angepasst. Gegen diesen Prozess gibt es Widerstände [1], weil erworbene Sicherheiten wie Solidargemeinschaft, staatliche Garantien und ärztliche Schweigepflicht nicht leicht zu verdrängen sind. Noch zu wenige Bürger merken die persönliche Betroffenheit durch Individualisierung der Risiken, profitorientierte Privatisierungen und Kontrollen mit Datenschutzverletzungen [2]. Der erzwungene Abbau von traditionellen Versorgungsstrukturen in der Dritten Welt erreicht mit erschütternden Ausmaßen schon Europa. Griechenland sollte uns warnen. Alternativen gibt es: das von der Deutschen Plattform für globale Gesundheit DPGG, medico international und IPPNW vorgestellte "Leitbild für gute Medizin" liefert für Forderungen an alle neoliberalen Regierungen die Argumente.

Dieses nachfolgend dokumentierte Leitbild wurde auf dem Zivilklausel-Zukunftskongress "Für eine Wissenschaft und Kultur des Friedens" vom 24. bis 26.10.2014 in Hamburg von der AG Humanmedizin erstellt und vom AK Süd-Nord und der Hamburger Regionalgruppe der IPPNW beschlossen. Es handelt sich dabei um die akzentuierte Fassung der ausführlichen Grundlagen-Erklärung der DPGG "Globale Gesundheitspolitik - für alle Menschen an jedem Ort. Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie für globale Gesundheit" [3].

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Leitbild für gute Medizin

Die deutsche Öffentlichkeit informieren wir hiermit über das dringend erforderliche Engagement für das Recht aller Menschen auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung. Die fatalen Konsequenzen der schon weit fortgeschrittenen Kommerzialisierung unseres Gesundheitswesens, werden noch von einer Mehrheit verdrängt.

Im Bündnis mit der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit (DPGG), die im Juni 2014 Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie für globale Gesundheit veröffentlicht hat [3], bekräftigen wir mit folgender Zusammenfassung die Forderungen für die Transition [4], also für den grundlegenden Wechsel der Organisationsform der Gesundheitsversorgung:


Die Alternative besteht in der Demokratisierung des Gesundheitswesens nach den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, aufgestellt in Alma Ata 1978.

Sie fundiert auf drei Prinzipien:

  1. der Förderung von sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit,
  2. der Sicherung multisektoraler Vorbedingungen für Gesundheit (Trinkwasser, Sanitärsysteme, Wohnung, Ernährung, Gewaltprävention) und
  3. der Partizipation der Betroffenen, die das Expertentum entmystifizieren.

Als Mitglied von People's Health Movement hat medico international fünf Aufgaben einer globalen Gesundheitspolitik vorgestellt:

1. Die Zurückweisung der neoliberalen Ideologie
Der Gesundheitsökonom Gavin Mooney schrieb: "Neoliberalismus tötet" (einige Zeit bevor Papst Franziskus sagte "Diese Wirtschaft tötet"). Wenn man Armut, Ungleichheit, Hunger und Krankheiten bekämpfen wolle, müsse man verstehen, dass der Neoliberalismus die Wurzel des Übels ist.

2. Die Stärkung der öffentlichen Verantwortung
Zahlreiche neue Akteure von Unternehmensstiftungen bis zu großen internationalen NGOs tummeln sich in der Gesundheitspolitik und verfügen häufig über mehr Geld als die lokalen Gesundheitsbehörden [...]. Öffentliche Gesundheitseinrichtungen müssen [...] in die Lage versetzt werden, Gesundheitspolitik zu führen und zu koordinieren.

3. Die Verbesserung des finanziellen Risikoschutzes
Um dem unkalkulierbaren Risiko der fehlenden Kostenerstattung im Krankheitsfall zu entgehen, bedarf es einer solidarischen Risikoabsicherung für alle Mitglieder eines Gemeinwesens. Am effektivsten sind steuerfinanzierte Gesundheitssysteme. Gesetzlich geregelte soziale Krankenversicherungssysteme sind nicht umfassend zugänglich.

4. Die Umverteilung von Reichtum
Um zur Bekämpfung der gesundheitlichen Ungleichheit weltweit eine Erhöhung der öffentlichen Gesundheitsausgaben zu erreichen, muss sich Haushaltspolitik wieder auf Maßnahmen der Umverteilung von Reichtum konzentrieren.

5. Die Einrichtung eines internationalen Finanzausgleichssystems
Die Internationalisierung des Solidaritätsprinzips ist keine Frage fehlender Ressourcen. Es ist eine Frage der Bereitschaft, eine neue institutionelle Norm zu schaffen, die reichere Länder dazu verpflichtet, zweckgebundene Mittel an ärmere Länder zu transferieren, solange deren fiskalische Mittel nicht ausreichen, um Gesundheit für alle zu garantieren.



Unterzeichner:

  • Attac AG soziale Sicherungssysteme
  • Dr. Anja Dieterich, MPH, Diakonie Deutschland - Evangelischer Bundesverband.
  • Health Workers for All
  • Dr. Dr. Jens Holst (Gesundheitswissenschaftler und Berater)
  • Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW)
  • medico international
  • Prof. Dr. med. Oliver Razum, Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld
  • Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Gesamtverbandes
  • Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ)
  • Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP)


Weitere Informationen und Hintergrund:
- Medico international Rundschreiben 04/13
- www.medico.de/themen/aktion/dokumentebeyond-aid/4553
- AttacBasisText 30: medico international - global-gerecht-gesund? VSA-Verlag Hamburg 2008
- DPGG: http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag3/downloads/Globale_Gesundheitspolitik.pdf
- Brutaler Gesundheitsmarkt - Neoliberale Transformation contra demokratische Gesundheitspolitik, Referat von Dr. Manfred Lotze am 25.10.2014 auf dem Zivilklausel-Zukunftskongress in Hamburg
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/gesund/m3sn0019.html



Fußnoten:

[1] Die Aktion stoppt die e-Card hat die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte online, die 2006 vorgesehen war, bisher verhindert. Sie ist der Schlüssel für die totale Kontrolle und Kommerzialisierung der Medizin. Infos bei www.stoppt-die-e-card.de
Von der Vereinigung Demokratischer Ärztinnen und Ärzte VDÄÄ sind vielfältige Veröffentlichungen zu Alternativen zu erhalten:
info@vdaeae.de

[2] Aktuelle Zuspitzung durch das e-Health-Gesetz, nähere Infos unter:
www.stoppt-die-e-card.de

[3] Globale Gesundheitspolitik - für alle Menschen an jedem Ort. Grundlagen für eine künftige ressortübergreifende Strategie für globale Gesundheit
http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag3/downloads/Globale_Gesundheitspolitik.pdf

[4] Transition: Kompletter Wechsel der Organisationsform eines politischen Systems, kürzer: Strukturüberführungen
https://de.wikipedia.org/wiki/Transition_(Politikwissenschaft)

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Quelle:
IPPNW-Regionalgruppe Hamburg und AK Süd-Nord
mit freundlicher Genehmigung von Dr. Manfred Lotze
E-Mail: manfred.lotze[at]web.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2015

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