Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2019
Opioidtherapie
Opium für alle?
von Jutta Clement
Bei der Fortbildungsveranstaltung "Opium für alle?" für Mediziner und Pharmazeuten standen die Opioide einen halben Tag lang im Zentrum der Diskussionen von Ärzten und Apothekern.
Die Behandlung des Symptoms Schmerz ist eine diffizile ärztliche
Aufgabe und stellt trotz der Verfügbarkeit potenter Wirkstoffe in
modernsten galenischen Formen eine Herausforderung für den Therapeuten
dar. Der Arzt sieht sich bei jedem Patienten mit einem sehr
individuellen Schmerzgeschehen unterschiedlicher Genese konfrontiert
und verfügt gleichzeitig über eine weit gefächerte
Arzneimittelvielfalt. Neben begleitenden Maßnahmen besteht die Kunst
der Schmerzlinderung in der Auswahl des geeigneten Wirkstoffs. Die
Opioide als stark wirksame Schmerzmittel dürfen aber nicht als
Allheilmittel missverstanden werden. Ihr Einsatz stellt eine
Gratwanderung zwischen Wirksamkeit und Risiken dar. Deshalb müssen
neben der richtigen Arzneistoffauswahl Überlegungen zur Arzneiform und
Pharmakokinetik, zur Dosierung und einer eventuellen Co-Medikation
angestellt werden. Praktische Fragestellungen wie das relative
analgetische Verhältnis für den Opioidwechsel und die Berücksichtigung
einer eventuellen Leber- oder Niereninsuffizienz gehören zum
ärztlichen Alltag.
Stellenwert der Opioide in der Analgesie
Prof. Thomas Herdegen, stellvertretender Direktor des Instituts für
experimentelle und klinische Pharmakologie am UKSH in Kiel, eröffnete
die Fortbildung mit einem Bekenntnis zu den Opioiden: "Der Einsatz der
Opioide im niedergelassenen Bereich hat mich seit Beginn meines
wissenschaftlichen Werdegangs als Schmerzphysiologe begleitet. Dass
wir im ärztlichen Alltag in Deutschland seit ca. 25 Jahren die Opioide
endlich als wirksame und hilfreiche Schmerzmittel mit einer gewissen
Normalität für Millionen von Schmerzpatienten verordnen, ist eine der
großen Errungenschaften der Medizin."
Allerdings sind wie bei jedem anderem Medikament auch der bestimmungsgemäße Gebrauch und die Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Das entwicklungsgeschichtlich alte endogene Opioidsystem, das einige Ähnlichkeiten mit dem Endocannabinoidsystem aufweist, ist im Schmerzsystem und den schmerzverarbeitenden Hirnarealen präsent. Primäres Therapieziel aller Opioide ist die Aktivierung des µ-Opioidrezeptors (MOR), der neben der erwünschten Analgesie auch die zahlreichen bekannten psychosomatischen Nebenwirkungen vermittelt. Bis heute ist es nicht möglich, eine Analgesie ohne unerwünschte MOR-Effekte zu erzielen - "Der Rezeptor macht's." Ausgehend von Morphin als Goldstandard mit seinen Vor- und Nachteilen stellte Herdegen die pharmakotherapeutischen Unterschiede der relevanten schwächeren und stärkeren Opioide dar (Herdegen: "Das WHO-Stufenschema ist aus vielerlei Gründen obsolet und führt höchstens zu falschen Therapieentscheidungen.") Herdegen unterlegte seine Übersicht mit praxisrelevanten Hinweisen, die sich v. a. aus der Pharmakokinetik ableiten. So gab er zu bedenken: "Opioidpflaster bei Patienten ohne subkutanes Fett bzw. Fettdepot werden als falsch interpretierte Wirkungslosigkeit immer höher dosiert, und schließlich erfolgt die Umstellung auf eine viel zu hohe orale Opioiddosis." Und: "Medizinische Cannabinoide können einer Opioid-Toleranz entgegenwirken." Er schloss mit der Aufforderung, genauer die somatisch-analgetischen Effekte ("Der Schmerz ist weniger") von den psychotropen Wirkungen ("Es geht mir besser") zu unterscheiden.
Schmerztherapie bedeutet multimodale Therapie
Bei Schmerzen durch schwere Tumorerkrankungen zählt der Einsatz von
Opioiden unbestritten zur Standardbehandlung. Auch beim
nichttumorbedingten Schmerz (CNTS) können sie ein wichtiger
Bestandteil der medikamentösen Schmerztherapie sein. Die
Interpretation der Datenlage zur Effektivität bei den verschiedenen
CNTS-Indikationen ist jedoch umstritten. Das betonte im weiteren
Verlauf der Veranstaltung Prof. Jost Steinhäuser, Lübeck.
Steinhäuser verwies auf die klinische Leitlinie "Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen". Danach weisen die Zahlen deutscher Krankenkassen auf einen Anstieg von Einzel- und Langzeitverordnungen opioidhaltiger Analgetika bei CNTS-Patienten hin. Insbesondere die Langzeitanwendung werde mit Blick auf die Diskrepanz zwischen klinischer Anwendung, Evidenz und Nutzen-Risiko-Abschätzung national und international kritisch diskutiert.
Der Allgemeinmediziner zeigte, dass opioidhaltige Analgetika leitliniengemäß eine medikamentöse Therapieoption in der kurzfristigen, sprich vier- bis zwölfwöchigen Behandlung chronischer Schmerzen entsprechender Intensität zum Beispiel bei Arthrose, diabetischer Polyneuropathie, Postzosterneuralgie oder chronischen Rückenschmerzen sein können. Eine Langzeittherapie (≥ drei Monate) sollte bei diesen Erkrankungen nur bei Therapie-Respondern durchgeführt werden.
Bei weiteren Krankheitsbildern wie etwa Polyneuropathie anderer Ätiologie als Diabetes mellitus sowie bei chronischen sekundären Kopfschmerzen bzw. chronischen Schmerzen bei manifester Osteoporose, nach Operationen, bei Dekubitus Grad 3 und 4, bei ischämischen und entzündlichen arteriellen Verschlusskrankheiten oder fixierten Kontrakturen bei pflegebedürftigen Patienten sei eine kurz- und langfristige Therapie mit opioidhaltigen Analgetika als individueller Therapieversuch zu bewerten. Kontraindikationen sind zum Beispiel primäre Kopfschmerzen und Fibromyalgie.
Wege aus dem Teufelskreis
"Schmerz ist nicht nur eine Bedrohung der somatischen, sondern auch
der emotionalen und sozialen Integrität": Das unterstrich in einem
weiteren Vortrag Dr. Friedrich von Velsen-Zerweck, Anästhesiologe aus
Flensburg. "Der vom Patienten wahrgenommene Schmerz ist ein Resultat
der Modulation einer Vielzahl von Gründen und Einflüssen sowie der
Schmerzgeschichte und des Schmerzverhaltens", so der
Palliativmediziner. Mögliche Ursachen seien oftmals in ungelösten
psychosozialen Konflikten zu finden.
"Das Gehirn verarbeitet die wahrgenommene, nicht die physikalische Realität. Wie in jedem Wahrnehmungsprozess steuert die Haltung das Empfinden." In Anerkennung dieser Tatsache, so von Velsen-Zerweck, müssen neben einer effektiven medikamentösen Schmerztherapie multimodale psychosomatische Therapiekonzepte zum Einsatz kommen, die es dem Patienten ermöglichen, die Bezüge zwischen Ursachen und Wirkungen zu verstehen.
"Angst, Depressionen und Hoffnungslosigkeit führen zu einer negativen Erwartungshaltung, die die Schmerzwahrnehmung studiengemäß verstärkt. Mangelndes Vertrauen in die Schmerztherapie kann die analgetischen Effekte einer Schmerztherapie reduzieren", so der Referent. Es sei Aufgabe von Ärzten und Apothekern, den Patienten durch professionelle Kommunikation und Wissensvermittlung mögliche psychosoziale Zusammenhänge aufzuzeigen und so konstruktive Wege aus dem Teufelskreis zu weisen.
Auf die große Bedeutung der Beratung in der Apotheke verwies auch Grit Spading, Eckernförde. Interaktionen, Anwendung, Dosierung, Behandlungsdauer: "Der Apotheker ist mitverantwortlich für den therapeutisch effizienten und sicheren Gebrauch der abgegebenen Arzneimittel und damit für den Therapieerfolg." Die Referentin hob hervor, dass professionelle Kommunikation, also Zuwendung, patientengerechte Aufklärung und Überzeugungsarbeit essenzielle Komponenten der pharmazeutischen Betreuung sind.
Enge Zusammenarbeit pflegen
"Zwar beginnt die Opioidtherapie in der Arztpraxis mit einer
fundierten Diagnose und der richtigen Auswahl des Wirkstoffs. Aber
sie endet eben nicht an der Praxistür, sondern erfordert auch in der
Apotheke eine auf den Patienten abgestimmte Betreuung und
Beratung", hatte zuvor der Präsident der Apothekerkammer, Dr. Kai
Christiansen, bei der Begrüßung gesagt.
Die Kooperation zwischen den beiden Heilberufen vor Ort sei zum größten Teil vertrauensvoll und kollegial. "Je enger Arzt und Apotheker zusammenarbeiten, desto mehr profitiert der Patient", konstatierte er. Ärzte und Apotheker sollten versuchen, ihre Zusammenarbeit zum Wohl des Patienten in jeder Hinsicht weiter auszubauen. Das gelte auch für die Begleitung von Menschen, die eine Opioid-Therapie erhalten.
Auch die Vizepräsidentin der Ärztekammer Schleswig-Holstein, Dr. Gisa Andresen, zeigte sich erfreut über das schon traditionelle interdisziplinäre Veranstaltungsformat. Sie betonte, dass im Gegensatz zu den unter einer "Opioid-Epidemie" leidenden USA in Deutschland vielfach eine "Opioid-Phobie" zu beklagen sei.
"So werden Opioide zum Beispiel schwer erkrankten Krebspatienten oft vorenthalten", kritisierte sie. "Andererseits werden diese nur zu oft bei Diagnosen verschrieben, bei denen ihr Einsatz nachweislich sinnlos und schädlich ist", äußerte die Anästhesistin ihre Bedenken. Die Situation sei vielfach verworren. Gemeinsam müssten Ärzte und. Apotheker der in diesem Sektor vielfach herrschenden Verunsicherung entgegenwirken, sagte Andresen.
Info
Gemäß der Schlüsselempfehlungen zu Maßnahmen vor einer Opioid-Therapie
besteht starker Konsens, dass bei partizipativer Entscheiungsfindung
mit dem Patienten möglicher Profit und Schaden der Therapie besprochen
werden muss. Die Wahl der Pharmakotherapie muss laut Prof. Jost
Steinhäuser unter Berücksichtigung von Begleiterkrankungen und
Patientenpräferenzen erfolgen. Die Leitlinie spricht sich gegen eine
Monotherapie mit opioidhaltigen Analgetika bei chronischen
Schmerzsyndromen aus.
Info
Die Abgabe von Betäubungsmitteln in Apotheken darf nur auf Grundlage
der von Ärzten korrekt ausgestellten BtM-Rezepte erfolgen. Die Bt-MVV
schreibt zwingend vor, was es zu beachten gilt. Name, Anschrift
einschließlich Telefonnummer sowie Berufs- oder Facharztbezeichnung
des verschreibenden Arztes plus eigenhändiger Unterschrift und im
Vertretungsfall zusätzlich der Vermerk "i. V." dürfen nicht
fehlen. Die Belieferung durch die Apotheke ist nach Auskunft von
Referentin Grit Spading anderenfalls unzulässig. Spading verwies in
diesem Zusammenhang auf die Homepage der Bundesopiumstelle als
Herausgeber der Rezeptformulare und Anforderungsscheine.
Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2019
im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201902/h19024a.htm
Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Februar 2019, Seite 34 - 35
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2019
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