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WIRKSTOFF/586: Antibiotika-Resistenzen - "Großes Optimierungspotenzial" (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 6, Juni 2021

"Großes Optimierungspotenzial"

Dirk Schnack sprach mit der Infektiologin Dr. Anette Friedrichs


ANTIBIOTIKA-RESISTENZEN spielen sektor-, aber auch berufsübergreifend eine immer größere Rolle. Infektiologin Dr. Anette Friedrichs aus dem UKSH im Interview mit Dirk Schnack.

Frau Dr. Friedrichs: Wie häufig werden Antibiotika in Deutschland verordnet, kennen Sie Zahlen?

Dr. Anette Friedrichs: Antibiotika kommen in verschiedenen Sektoren zum Einsatz, in der ambulanten und in der stationären Humanmedizin sowie in der Veterinärmedizin. Man schätzt die Gesamtverordnungsmenge in der Humanmedizin auf 600-700 Tonnen im Jahr, ähnlich viel wird in der Veterinärmedizin verordnet. In der Humanmedizin werden ca. 85 % aller verordneten Antibiotika im ambulanten Sektor verordnet, wohingegen nur 15 % im stationären Sektor verordnet werden.

Die vorliegenden Zahlen erfassen also immer nur Teilbereiche der Gesamtverordnungsmenge an Antibiotika in Deutschland, sodass keine allumfassende Aussage getroffen werden kann.

Im ambulanten Bereich besteht erfreulicherweise eine rückläufige Verordnungstendenz: Nach Veröffentlichung der Versorgungsatlas-Studie (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, ZI) wurden im Jahr 2018 insgesamt 446 Verordnungen über Antibiotika pro 1.000 Versicherte zulasten der GKV ausgestellt. 2010 waren es noch 562 Verordnungen. Das entspricht einem Rückgang von 21 Prozent.

Der durchschnittliche Gesamtverbrauch von antibakteriellen Mitteln für die systemische Anwendung in der EU/im EWR (im ambulanten und Krankenhaussektor zusammen) lag im Jahr 2018 bei 20,1 Definierten Tagesdosen (DDD) pro 1.000 Einwohner pro Tag, Deutschland liegt mit 11,9 DDD eher im niedrigen Bereich, dennoch werden auch in Deutschland noch zu viele Antibiotika verordnet.

Wie oft beobachtet man bei Patienten im UKSH in Kiel eine Antibiotikaresistenz und wie sieht diese Entwicklung im Zeitablauf aus?

Friedrichs: Das lässt sich schwer pauschal beantworten. Wir unterscheiden zwischen intrinsischen Resistenzen von Bakterien gegen eine bestimmte Antibiotikasubstanz und erworbenen Resistenzen. Erstere sind als stabile genetische Eigenschaft eines Bakteriums zu bezeichnen, die chromosomal codiert wird und bei allen Vertretern einer Spezies zu finden sind. Beispielsweise ist Proteus mirabilis intrinsisch resistent gegenüber Imipenem. Die erworbene Resistenz wird, wie der Name schon sagt, durch eine Veränderung des Genoms erworben. Diese erworbenen Resistenzen sind klinisch die relevanteren, weil die Bakterien auch mehrere Resistenzen erwerben können und dann kumulativ weniger Substanzen zur Therapie zur Verfügung stehen. Manche resistenten Bakterien wie z.B. der methicillinresistente S. aureus (MRSA) werden nicht mehr so häufig diagnostiziert wie noch vor einigen Jahren, andere wie z. B. vancomycinresistente Enterokokken (VRE) oder gramnegative Stäbchenbakterien mit Resistenzen gegen drei wichtige Antibiotikaklassen (3-MRGN) nehmen zu.

Welche Therapieoptionen haben Sie in solchen Fällen?

Friedrichs: Im Falle von Antibiotikaresistenzen kann aktuell noch auf andere Antibiotikaklassen und Reserveantibiotika zurückgegriffen werden. Das Mikrobiom des Patienten wird durch ein solches Reserveantibiotikum aber häufig stärker beeinträchtigt, als es ohne eine Resistenz mit einem zielgerichteteren, schmaleren Antibiotikum der Fall gewesen wäre.

Welche Folgen hat die Resistenz für betroffenen Patienten in Einzelfällen?

Friedrichs: Neben der schon erwähnten Schädigung des Mikrobioms durch Breitband- und Reserveantibiotika ist bei einer eingeschränkten Auswahlmöglichkeit von Antibiotika häufig die Wahl von Wirkstoffen mit größerem Nebenwirkungspotenzial erforderlich. Diese haben beispielsweise eine erhöhte Nephrotoxizität oder senken in stärkerem Maße die Krampfschwelle als Antibiotika mit schmalerem Wirkspektrum. In anderen Resistenzfällen ist nur noch die Gabe intravenöser Antibiotika im Rahmen einer stationären Versorgung möglich. Eine verlängerte stationäre Versorgung ist wiederum mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität verbunden.

Warum kommt es überhaupt zu Antibiotikaresistenzen?

Friedrichs: Antibiotikaresistenzen kommen natürlicherweise in Bakterien vor, um sich gegen andere Mikroorganismen wie z. B. Pilze zu schützen. Sie entstehen durch natürliche Mutationen im Erbgut der Bakterien oder durch Aufnahme von Resistenzgenen aus der Umgebung, die Bakterien untereinander wie in einem Netzwerk austauschen und weiterreichen. Bakterien können dabei mehrere Resistenzgene erwerben, sodass sie sich einer Vielzahl von Antibiotika widersetzen können.

Der prophylaktische oder therapeutische Einsatz von Antibiotika bedingt einen Selektionsdruck mit nachfolgender Änderung des Mikrobioms: Bakterienstämme, die eine Resistenz gegenüber dem Antibiotikum besitzen, überleben und breiten sich aus. Dies wird durch eine lange Therapiedauer, eine unsachgemäße Indikationsstellung und Dosierung begünstigt. Resistente Erreger können durch direkten oder indirekten Kontakt zwischen Menschen, zwischen Menschen und Tieren und aus der Umwelt übertragen werden. Bakterien, die viele Resistenzgene aufgenommen haben, die multiresistenten Erreger (MRE), können Patienten ohne Krankheitswert besiedeln, aber auch für schwerwiegende Infektionen verantwortlich sein. Um die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen zu minimieren, ist der sachgemäße und klar indizierte Einsatz von Antibiotika essenziell.

Sind Ärzte über diese Entwicklung ausreichend informiert und was können Ärzte in Praxen und in Kliniken dagegen tun?

Friedrichs: Ärzte wissen um diese Problematik. Ein Problem ist allerdings, dass im Falle der Antibiotikaverordnung nur der aktuell betroffene Patient dem Behandler gegenübersitzt, und zwar mit seinen Beschwerden, welche man lindern, bestenfalls kurieren möchte; aber auch mit seiner Erwartungshaltung. Mit jeder Antibiotikaverordnung wird aber auch das Umfeld, die übrige Gesellschaft, behandelt. Jede einzelne Antibiotikaeinnahme fördert die Ausbreitung von resistenten Erregern. Der Patient, welcher das Antibiotikum eingenommen hat, ist ggf. nicht beeinträchtigt durch einen resistenten Keim, kann diesen aber auf eine andere Person übertragen, die dann unter Umständen erkrankt. Die Entscheidung, ein Antibiotikum nicht zu verschreiben, ist genauso eine ärztliche Maßnahme, ein Handeln, wie eine Verordnung. Dies dem Patienten zu vermitteln bedarf des ausführlichen Aufklärungsgesprächs, damit Patient und Arzt sich auf Augenhöhe treffen und der Patient die Sinnhaftigkeit einer Nicht-Verordnung, welche u. U. initial als ärztliches Unterlassen oder Nicht-Kümmern empfunden wird, mit Verständnis annehmen kann.

Was wünschen Sie sich aus ärztlicher Sicht von anderen Berufsgruppen?

Friedrichs: Der weitere Ausbau und die regelmäßige Aktualisierung von interdisziplinären Leitlinien, um einheitliche Therapieempfehlungen zu gleichen Krankheitsbildern geben zu können, ist wünschenswert. Ich denke dabei z.B. an den Harnwegsinfekt. Eine sogenannte asymptomatische Bakteriurie wird aktuell noch zu häufig antibiotisch behandelt, ohne dass diese von Krankheitsrelevanz ist.

Aber nicht nur in der Humanmedizin, sondern auch und gerade die Verordnung von Antibiotika in der Veterinärmedizin und schließlich auch der Konsument selbst haben großen Einfluss auf die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen. Landwirte und Tierärzte sind häufiger mit resistenten Erregern besiedelt als der Rest der Bevölkerung. Auch ihre Familienmitglieder haben im Verhältnis zur allgemeinen Bevölkerung ein erhöhtes Risiko, mit multiresistenten Erregern wie MRSA besiedelt zu sein.

Wird interprofessionell zusammengearbeitet, um das Problem zu lösen?

Friedrichs: Ja. Die Antibiotic-Stewardship (ABS)-Initiative zur Optimierung des Antiinfektivaeinsatzes ist inzwischen anerkannt und wird von den unterschiedlichsten Fachdisziplinen dankend angenommen und erbeten. Gemäß Leitlinie arbeiten im Rahmen von ABS optimalerweise Infektiologen, Mikrobiologen und Apotheker interdisziplinär zusammen, um die Antibiotikatherapie so patientenoptimiert wie möglich zu gestalten. Zudem werden immer mehr Netzwerke auf regionaler und nationaler Ebene gegründet, um themenfokussiert zusammenzuarbeiten. Viele Landesärztekammern bieten zudem curriculare Fortbildungen an, um dem weiterhin großen Bedarf an ABS-Fortbildungen entgegenzukommen. Trotz aller Bemühungen gibt es aber in den meisten Häusern noch nicht ausreichend ABS-Stellen, um den Bedarf in den einzelnen Kliniken zu decken.

Was muss aus Ihrer Sicht außerdem - z.B. politisch - geschehen, um die Entwicklung positiv zu beeinflussen?

Friedrichs: Weltweit sind in vielen Ländern Antibiotika gar nicht rezeptpflichtig, sodass hier eine wichtige Kontrollinstanz der Antibiotikaverordnung fehlt, was konsekutiv eine bakterielle Resistenzentwicklung fördert. Für den Erwerb von ESBL bildenden Bakterien ist die Relevanz von Auslandsreisen, z. B. nach Asien und auf den indischen Subkontinent, nachgewiesen: Bis zu 30 % der Reiserückkehrer aus Regionen mit hoher ESBL-Prävalenz sind mit ESBL bildenden E. coli kolonisiert.

Da die Kenntnis des rationalen Antibiotikaeinsatzes auch Teil der klinischen Infektiologie ist, ist die gerade vom Deutschen Ärztetag beschlossene Einführung eines Schwerpunktfacharztes für Innere Medizin und Infektiologie wichtig, um die Bedeutung dieses Querschnittsfaches hervorzuheben und Ärzte mit hervorragender Expertise in der Antiinfektivaverordnung ausbilden zu können. Weiteres politisches Engagement für eine Fortführung der bereits bestehenden Förderprogramme für die Ausbildung von Infektiologen und ABS-Experten ist wünschenswert, natürlich auch, um für Krankenhäuser die Hemmschwelle zur Finanzierung dieser Arztstellen abzubauen.

Bisher beschränkt sich ABS vornehmlich auf den stationären Bereich. Da der Hauptanteil der Verordnungen aber im ambulanten Bereich erfolgt, ist die Ausweitung der Maßnahmen und die Einbeziehung der ambulant tätigen Ärzte unbedingt notwendig. Des Weiteren bedarf es eines intensiven Dialogs mit der Veterinärmedizin, um auch in diesem Sektor noch mehr Bewusstsein für die Konsequenzen des Antibiotikaeinsatzes zu schärfen und interdisziplinäre sektorenübergreifende Strategien zu entwickeln.

Jedes mikrobiologische Labor ist verpflichtet, regelmäßig Resistenzstatistiken seinen Einsendern zukommen zu lassen. In der Regel werden aber keine laborübergreifenden regionalen Resistenzstatistiken erstellt, obwohl diese für regionale fachübergreifende Antibiotikatherapieempfehlungen beispielsweise für Harnwegsinfektionen notwendig wären. Hier sehe ich großes Optimierungspotenzial.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Anette Friedrichs ist Fachärztin für Innere Medizin und Infektiologie am UKSH, Campus Kiel. Sie führt regelmäßig Visiten zur Antiinfektiva-Therapieberatung durch.

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Fortbildung 18.08.2021

Antibiotikaresistenzen gehen alle Heilberufe an - deshalb veranstaltet die Interessengemeinschaft der Heilberufe (IDH) in Schleswig-Holstein am 18. August für Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Veterinäre an der Akademie der Ärztekammer Schleswig-Holstein die Fortbildung "Résistance gegen Resistenz - ist NACH der viralen VOR der bakteriellen Pandemie?" Neben Dr. Anette Friedrichs werden Referenten aus allen angesprochenen Professionen sowie aus der Industrie zu den Vortragenden bzw. Diskussionsteilnehmern zählen. Die Anmeldungen erfolgen über die jeweiligen Körperschaften, für Ärzte über die Akademie unter
www.aeksh.de/akademie/fortbildungsangebote/interprofessionelle-fortbildungen
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 6, Juni 2021
74. Jahrgang, Seite 34-35
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 3. August 2021

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