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ARTIKEL/447: Die Macht der Zuversicht - Das Placebo-Phänomen (Securvital)


Securvital 1/2012 - Januar-März
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Die Macht der Zuversicht
Das Placebo-Phänomen

Von Norbert Schnorbach


Lange Zeit wurde es als pure Einbildung belächelt, dass Scheinmedikamente Schmerzen lindern, ohne einen Wirkstoff zu enthalten. Die Erforschung dieses Phänomens führt zu überraschenden Erkenntnissen über die Wirkung von Zuversicht, Vertrauen und Kommunikation. Ärzte und Patienten könnten den Placebo-Effekt noch viel besser nutzen.


Während des Zweiten Weltkrieges gingen dem amerikanischen Arzt Henry Beecher die Schmerz stillenden Medikamente aus. Es gab kein Morphium mehr für die verwundeten Soldaten. In seiner Not griff Beecher zu einem Trick und gab den Verwundeten Spritzen, die nichts anderes als Salzwasser enthielten. Die Wirkung war verblüffend: Viele Patienten waren dankbar und fühlten, wie die Schmerzen nachließen. Sie glaubten, dass sie eine Dosis Morphium erhielten.

Zehn Jahre nach dem Krieg veröffentlichte Beecher unter dem Titel "The Powerful Placebo" die erste wissenschaftliche Arbeit über seine Beobachtung. Damit löste er eine Welle von Forschungen über den Placebo-Effekt aus. Mit ausgeklügelten Tests und Studien untersuchen die Forscher seitdem, was die Medizin im Prinzip schon seit den Zeiten von Hippokrates und Platon weiß: Nicht der Arzt allein heilt den Patienten, sondern dessen Psyche hilft mit.


Selbstheilungskräfte

Ein Drittel oder sogar die Hälfte aller medizinischen Wirkungen, so schätzen Ärzte, werden allein durch den Placebo-Effekt bewirkt. Spritzen können Schmerzen lindern, auch wenn sie keinen Wirkstoff enthalten. Tabletten helfen dem Kranken, auch wenn sie nur aus Zucker bestehen. Scheinoperationen erfüllen denselben Zweck wie echte Operationen. Allein die Zuversicht des Patienten und das Vertrauen in den Arzt können offensichtlich ungeahnte Selbstheilungskräfte stimulieren und tatsächlich gesund machen. Dabei geht es nicht etwa um eine "eingebildete", sondern um tatsächliche Wirkungen.

"Der Placebo-Effekt ist eine der faszinierendsten und am wenigsten genutzten Kräfte"

Bis zu 70 Prozent der Kranken sprechen auf Placebos an, berichtet der Dr. Karl Broich, Vizepräsident des BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte). Das sei bei bestimmten Indikationen wie etwa Depressionen oder Schmerztherapie in klinischen Prüfungen beobachtet worden. Bei dieser hohen Prozentzahl sei allerdings zu berücksichtigen, dass es sich um Symptombesserungen und nicht um Heilung handele. Welche Vorgänge beim Placebo-Effekt im Kopf und in den Nervenbahnen der Patienten aktiv werden, ist für Neurobiologen ein hoch interessantes Feld, auf dem noch viele Entdeckungen zu machen sind (siehe dazu auch Seite 12/13). In der medizinischen Praxis spielt der Effekt längst eine wichtige Rolle und kann einiges dazu beitragen, die zwischenmenschlichen und persönlichen Aspekte der Heilkunst zu stärken. "Die Placebo-Forschung zeigt, dass man viele Symptome auf psychologischem Weg beeinflussen kann", sagt Dr. Karin Meißner, Leiterin der Psychosomatik- und Placebo-Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. "Das könnte ein Wegweiser für die Zukunft sein."

Das Prinzip ist allen Eltern von kleinen Kindern aus eigener Erfahrung bekannt: Wenn ein Kind sich den Kopf gestoßen hat oder aufs Knie gefallen ist, helfen Trost und Zuwendung. Nicht Aspirin oder Paracetamol, sondern Streicheln, Pusten und "Heile, heile Segen" lassen den Schmerz an schnellsten wieder verschwinden. Bei Erwachsenen funktioniert es gar nicht so viel anders, zumindest in vielen Fällen und bei vielen Beschwerden. Bei chronischen Schmerzen, zum Beispiel Rückenleiden, Arthritis, Rheuma und Kopfschmerzen, ist der Placebo-Effekt besonders groß. Auch bei Angstzuständen, Asthma, Allergien und Neurodermitis erfahren erstaunlich viele Patienten durch Placebos eine deutliche Linderung.

"Bis zu 70 Prozent der Kranken sprechen auf Placebos an"

Eigentlich müssten Placebo-Pillen das am besten untersuchte Mittel der Welt sein, denn bei fast allen Pharmastudien spielen sie eine wichtige Rolle. Bei Medikamententests gehört es zum wissenschaftlichen Standard, zwei Patientengruppen zu vergleichen, von denen eine das zu testende Medikament mit Wirkstoff erhält, die andere als Vergleichsgruppe nur ein Scheinpräparat. Zu prüfen ist dabei, ob ein Arzneimittel hilfreicher ist als ein Placebo. Wie groß die reine Placebo-Wirkung an sich schon ist, bleibt oft ungewiss und wird selten erforscht. Kritische Mediziner schätzen den Placebo-Effekt so hoch ein, dass die darüber hinaus gehende chemische Wirkung bei vielen Medikamenten relativ gering erscheint.

Immer wieder tritt bei neuen Studien zu Tage, dass die vermeintliche Wirkung mancher medizinischen Mittel allein auf dem Placebo-Effekt beruht. So sorgten Versuche für Schlagzeilen, die belegten, dass häufig verschriebene Antidepressiva gegen leichte und mittelschwere Depressionen nicht besser wirkten als Zuckerpillen. Ähnlich bei Operationen gegen Arthrose im Kniegelenk: Ob aufwändige Operationen oder nur kleine Schein-Schnitte in die Haut am Knie - in beiden Fällen hat es den Patienten gleich gut geholfen. "Bei manchen Operationen müssen wir davon ausgehen, dass sie fast nur auf Placebo-Effekten beruhen", urteilt Dr. Harald Walach, Professor für Naturheilkunde.


Besser als Schmerzmittel

Es gibt sogar Beispiele dafür, dass Placebo-Behandlungen wirksamer sind als übliche medizinische Verfahren. Bei Schmerztests zeigte sich, dass ein mit großen Gesten verabreichtes Placebo besser wirkte als ein unbemerkt gegebenes "echtes" Schmerzmittel. Getestet wurde dies bei Schmerzpatienten mit Infusionsschläuchen. Wenn ihnen angekündigt wurde: "Sie bekommen jetzt etwas, das Ihnen sicher hilft!", dann ließen die Schmerzen nach. Weniger stark war die Wirkung, wenn den Patienten unbemerkt ein echtes Schmerzmittel verabreicht wurde. Auch mehrere große Studien zur Akupunktur bei chronischen Schmerzen zeigten, dass nicht nur die richtige Akupunktur, sondern auch eine Placebo-Behandlung weitaus besser gegen die Schmerzen wirkte als die übliche Behandlung mit Physiotherapie, Fango und Medikamenten. Um den Placebo-Effekt bei der Akupunktur zu untersuchen, wurden mehrere Methoden angewandt: Behandlung mit echten Nadeln, aber an falschen Körperpunkten, oder auch mit speziell präparierten Nadeln, die gar nicht in die Haut eindringen. "Der Placebo-Effekt ist eine der faszinierendsten und am wenigsten genutzten Kräfte", meint der amerikanische Psychologe Prof. Dan Arely.

Wie bedeutsam die menschliche Psyche, die Erwartungshaltung von Patienten und ihre Selbstheilungskräfte für die medizinische Praxis sind, wird erst nach und nach deutlich. So haben Placebo-Forscher bestimmte Abstufungen gefunden. Placebo-Tabletten wirken umso stärker, je größer und farbiger sie sind. Der Effekt steigt, wenn die Patienten sie viermal am Tag statt nur zweimal nehmen. Wird den Patienten gesagt, dass diese Tabletten teuer sind, wirken sie besser, als wenn sie als billig dargestellt werden. Besser noch als Placebos in Pillenform wirken Injektionen. Wenn ein Chefarzt sie verabreicht, scheint das mehr zu bewirken, als wenn es ein Pfleger tut. Und wenn der Arzt oder die Ärztin noch zusätzlich mit Worten, Ritualen und Mitgefühl den Patienten ermutigt, zeigt das die allerbesten Ergebnisse.

"Placebos wirken stärker und sehr viel komplexer als bisher angenommen"

Die umgekehrte Wirkung wird ebenfalls beobachtet: Fürchtet sich ein Kranker vor einer Behandlung, dann können selbst starke Schmerzmittel versagen. Wenn Patienten beim Arzt nicht zu Wort kommen und nicht ausreichend über ihre Beschwerden sprechen dürfen, fühlen sich viele schlecht behandelt und mutlos. Wer dem Arzt misstraut, erwartet keine Hilfe - und erlebt sie oft auch nicht. Wer den Beipackzettel eines Arzneimittels studiert und vor einer langen Liste von Nebenwirkungen erschrickt, fürchtet sich vor dem Medikament. Die innerliche Distanz wird zum negativen Placebo. Das sind alltägliche Beispiele für Nocebo-Wirkung, das Gegenteil von Placebos.

Die Macht der Erwartung kann darüber entscheiden, ob sich eine medizinische Behandlung beim Patienten zum Guten oder zum Schlechten hin auswirkt. Die Wissenschaft hat bei diesem Thema die Erfahrungen aus der Praxis noch längst nicht aufgearbeitet. Im ärztlichen Alltag sind Placebos schon längst ein häufig angewandtes Hilfs- und Heilmittel. Bei Umfragen geben 50 bis 70 Prozent der Hausärzte an, regelmäßig oder zumindest hin und wieder auf Placebos zurückzugreifen, um ihren Patienten zu helfen. Oft werden völlig harmlose Mittelchen empfohlen oder verschrieben, die dann mit der nötigen Überzeugungskraft eine heilende Wirkung entfalten. Aber das Wissen um die psychosozialen Aspekte von ärztlichen Behandlungen ist in der medizinischen Praxis erst teilweise angekommen.

Schon vor über 50 Jahren schrieb der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint, dass für den Therapieerfolg nicht nur Tabletten und Therapeutika wichtig sind, sondern auch "die ganze Atmosphäre, in welcher die Medizin verabreicht und genommen wird". Die Gesprächsführung des Therapeuten, seine Körpersprache und Überzeugungskraft, ausreichend Zeit, um einen Patienten genauer kennen zu lernen - das alles sind mitentscheidende Faktoren für den Behandlungserfolg.

"Manche Operationen beruhen fast nur auf Placebo-Effekten"

Wenn die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient die Genesung stark beeinflusst, dann müsste die Medizin diesem Aspekt eine noch viel größere Aufmerksamkeit schenken. Die Bundesärztekammer hat das Thema aufgegriffen. Sie rief einen Arbeitskreis ins Leben, der sich für eine intensive Untersuchung des Placebo-Phänomens einsetzte. Im Frühjahr 2011 legte dann der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer eine ausführliche Stellungnahme in Buchform vor ("Placebo in der Medizin - mehr als nur Einbildung").

Die vollständige Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirats ist im Internet auf www.bundesaerztekammer.de dokumentiert. Sie dient dem Ziel, den Ärztinnen und Ärzten bewusst zu machen, welchen Stellenwert der Placebo-Effekt in der täglichen Behandlung von Patienten hat: "Nutzen Sie die tiefer gehenden Kenntnisse der Placebo-Forschung, um erwünschte Arzneimittelwirkungen zu maximieren, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten zu verringern und Kosten im Gesundheitswesen zu sparen."


Nachholbedarf

Die Initiative der Ärztekammer war ein wichtiger Schritt, um die Lücke zwischen Forschung und Praxis zu überbrücken. "Placebos wirken stärker und sehr viel komplexer als bisher angenommen", meint Prof. Christoph Fuchs, ehemaliger Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer. Deshalb sind Placebos nach seinen Worten "von großer Bedeutung" für die ärztliche Praxis.

Besonders wichtig, das zeigt sich immer deutlicher, ist die Kommunikation zwischen Mediziner und Patient. Die Vorstellung, dass der Arzt selbst wie ein Arzneimittel wirkt, ist noch ungewohnt. Prof. Manfred Schedlowski vom Universitätsklinikum Essen hat sich das Ziel gesetzt, den Medizinern beizubringen, dass sie "mit mehr Zeit und Einfühlung den Patienten mehr helfen, als wenn sie ihnen irgendwelche Antidepressiva oder Bluthochdruckmittel auf den Tisch knallen". Die enorme Wirksamkeit von Zuwendung und Fürsorge gehört zu den wichtigen Lehren, die aus der Placebo-Forschung in den ärztlichen Alltag übernommen werden sollte. Es gibt auf diesem Gebiet großen Nachholbedarf.


Weitere Informationen

Bundesärztekammer (Hrsg.): Placebo in der Medizin.
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2011, 29,95 €

Tobias Esch: Die Neurobiologie des Glücks: Wie die
Positive Psychologie die Medizin verändert.
Thieme Stuttgart 2011, 34,99 €

Hildegard Tischler: Heilende Einbildung.
Verlagshaus der Ärzte, Wien 2009, 14,90 €

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 8-9:
Klinische Placebo-Forschung: Bei einer Heuschnupfenstudie wissen zunächst weder die Patienten noch die Forscher, wer ein neues Arzneimittel und wer ein Placobo erhält.

Abb. S. 9:
Auch bei Akupunktur ist die Scheinbehandlung wirksam.

Abb. S. 10:
Trost und Zuversicht wirken Wunder, in jedem Lebensalter.

Abb. S. 10-11:
Empfehlung für Kliniken und Ärzte: Mehr Zuwendung statt mehr Pharma.

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Quelle:
Securvital 1/2012 - Januar-März, Seite 6 - 11
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte
Redaktion: Norbert Schnorbach (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2012

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