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FORSCHUNG/643: Arzneimittelforschung soll versteckte Risiken offenlegen (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2010

Keine Wirkung ohne Nebenwirkung
Arzneimittelforschung soll versteckte Risiken offenlegen

Von Edeltraut Garbe und Tania Schink


Prominente Fälle belegen, dass die Sicherheit von Arzneimitteln durch von klinische Tests vor Markteinführung nur unzureichend gewährleistet ist. Das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) erforscht seit einigen Jahren Risiken von Medikamenten auch nach ihrer Markteinführung und greift dafür auf viele Millionen pseudonymisierte Versichertendaten in Deutschland zurück. Nun soll eine internationale Studie Gewissheit über Nebenwirkungen von Schmerzmitteln geben, in der nahezu 35 Millionen Datensätze aus vier europäischen Ländern ausgewertet werden.


Bei Schmerzen greifen wir schnell mal zur Tablette. Dabei verlassen wir uns nicht nur auf die Wirkung, sondern auch auf die Sicherheit der Präparate. Zu den häufigsten Mitteln, mit denen die Deutschen ihre Schmerzen bekämpfen, gehören nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR). Dazu zählen Wirkstoffe wie Diclofenac (bekannt etwa unter dem Handelsnamen Voltaren) oder Ibuprofen (z. B. Dolormin). Allein vom Wirkstoff Diclofenac wurden in Deutschland 2009 etwa 460 Millionen Tagesdosen verordnet.

Die schmerzlindernde Wirkung der NSAR beruht auf der Hemmung des Enzyms Cyclooxygenase, das im Körper die Entzündungsreaktionen steuert. Allerdings schützt die Cyclooxygenase auch die Magenschleimhaut, indem sie die Magensäureproduktion reguliert und die Bildung von Magenschleimhaut schützenden Stoffen steigert. Ein längerfristiger Ausfall dieser Schutzfunktion kann zu schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Magengeschwüren und Magenblutungen führen.

Als vermeintlich sichere Alternative wurden deshalb die selektiven Cyclooxygenase-Hemmer - die sogenannten Coxibe - entwickelt. Diese hemmen nur die bei Verletzungen und Entzündungen auftretende Unterform, die Cyclooxygenase-2, so dass die schmerzlindernde Wirkung erhalten, aber die magenschützende Funktion nicht beeinflusst wird.

Doch seit Markteinführung mehren sich Hinweise, dass die Coxibe wiederum das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen erhöhen. In einer Langzeitstudie (APPROVe: Studie zur adenomatösen Polypenprävention bei VIOXX) zeigte sich nach 18 Monaten ein fast zweifach erhöhtes Risiko für schwere Herz-Kreislauferkrankungen, darunter Herzinfarkt und Schlaganfall, im Vergleich zur Behandlung mit Placebo. Die Studie musste aus diesem Grund vorzeitig abgebrochen werden, der Hersteller nahm daraufhin das Medikament Vioxx im Herbst 2004 vom Markt.


Forschung anhand realer Fälle

Bevor Medikamente auf den Markt kommen, unterliegen sie strengen klinischen Tests zu möglichen Nebenwirkungen. Allerdings werden seltene Risiken eines Arzneimittels aufgrund der eingeschränkten Patientenzahl und der kurzen Untersuchungszeiträume in diesen Studien oft nicht erfasst, sondern zeigen sich erst bei Langzeitanwendung in großen Populationen. Zudem sind in Zulassungsstudien Patienten mit Vor- und Begleiterkrankungen oft unterrepräsentiert und Kinder und Schwangere meist ganz ausgeschlossen. So kommt es - wie bei Vioxx - vor, dass Medikamente nach ihrer Zulassung wieder vom Markt genommen werden, weil Nebenwirkungen erst in der langfristigen Anwendung bekannt werden.

Die vom BIPS eingerichtete pharmakoepidemiologische Forschungsdatenbank mit pseudonymisierten Abrechnungsdaten von mehr als 14 Millionen Versicherten in Deutschland schließt eine Datenlücke für die Untersuchung von Arzneimittelrisiken. Die Forschungsdatenbank spiegelt, anders als klinische Studien, den medizinischen Alltag wider und deckt einen längeren Zeitraum ab (derzeit 2004 bis 2008). Die enthaltenen Versicherten sind repräsentativ für Deutschland, insbesondere sind auch Kinder und Patienten mit mehreren Erkrankungen enthalten.

Durch die große Zahl der Daten können auch seltene Risken aufgedeckt und selten verschriebene Medikamente untersucht werden. Aber selbst die 14 Millionen Versicherten der Forschungsdatenbank reichen nicht aus um das kardiovaskuläre Risikoprofil individueller NSAR, insbesondere auch der nicht selektiven NSAR, den Effekt von Begleitmedikation und Vorerkrankungen sowie den Einfluss von Dosis und Einnahmedauer zu untersuchen.


Die sicherste Therapie für jeden Einzelnen

Da die NSAR durch ihre schmerzstillende und entzündungshemmende Wirkung eine wichtige Medikamentengruppe darstellen, hat die EU im 7. Rahmenprogramm eine Ausschreibung zur Erforschung der gastrointestinalen und kardiovaskulären Sicherheit der NSAR gemacht. Der Zuschlag ging an ein Konsortium europäischer Forscher, an dem das BIPS beteiligt ist.

Zentraler Bestandteil des Forschungsprojektes ist eine Datenbank-Beobachtungsstudie mit Daten von sechs Datenbanken aus vier verschiedenen europäischen Ländern mit insgesamt 34 Millionen Patienten. Die Heterogenität zwischen den Datenbanken und die große Fallzahl ermöglichen die Bestimmung des mit individuellen NSAR assoziierten Risikos von schwerwiegenden kardiovaskulären (Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizenz) und gastrointestinalen Ereignissen wie Magenblutungen.

Auch in Zukunft werden wir auf Schmerzmittel aus der Klasse NSAR nicht verzichten können. Umso wichtiger ist es, verlässliche Aussagen über deren Nebenwirkungen zu haben, aufgrund derer der behandelnde Arzt eine möglichst sichere Therapie für seinen Patienten auswählen kann. Faktoren für die Auswahl eines geeigneten Präparates sind neben Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen des Patienten auch die Dauer und Dosis der Einnahme sowie Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.

Weitere Informationen:
www.bips.uni-bremen.de


Edeltraut Garbe ist seit 2007 Professorin für Klinische Epidemiologie an der Universität Bremen und leitet im BIPS die Abteilung Klinische Epidemiologie. Sie ist Internistin und klinische Pharmakologin mit einem Master of Science Abschluss in Epidemiology and Biostatistics von der McGill University in Montreal, Kanada. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arzneimittelsicherheit, Versorgungsforschung und klinische Epidemiologie.

Tania Schink ist Pharmakoepidemiologin und leitet am BIPS in der Abteilung Klinische Epidemiologie die Fachgruppe Arzneimittelrisikoforschung. Sie studierte Statistik in München, promovierte 2007 an der Charité in Berlin und hat einen Master in Public Health von der Harvard School of Public Health, Boston.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2010, Seite 30-33
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Universitäts-Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2011