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ARTIKEL/423: Heimunterbringung - Tagung "Verantwortung übernehmen für 'die Schwierigsten'" (2) (Soz. Psych.)


Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Geschlossene Heimunterbringung - endlich die erforderliche Hilfe

Von Gunther Kruse


Was passieren kann, wenn Hausbewohner auf akut psychotisch erkrankte Wohnungsnachbarn treffen und umgekehrt, und warum Hilfe nicht in kurzfristiger stationärer Behandlung der "Schwierigsten", sondern in langfristigen therapeutischen Settings bestehen muss ... Ein Plädoyer für geschlossene Heimunterbringung, das auf der Kölner Tagung "Verantwortung übernehmen für 'die Schwierigsten'. Brauchen wir dazu die geschlossene Heimunterbringung?" für lebhafte kontroverse Diskussionen sorgte.


Die Veranstalter haben darauf verzichtet, hinter mein Thema ("Geschlossene Heimunterbringung - endlich die erforderliche Hilfe") ein Ausrufezeichen, das wäre in meinem Sinne, oder ein Fragezeichen zu setzen, da gäbe es auch Befürworter, vermute ich. Sie, die Veranstalter, haben auch vorsichtigerweise den harmlosesten meiner Titelvorschläge ausgewählt, die ich Ihnen aber nicht vorenthalten möchte, damit Sie gleich wissen, wohin der Hase läuft bzw. schon jetzt den Vortragssaal verlassen können, bevor Sie sich so etwas zumuten.

In der netten Sozialpsychiatrie neigen wir dazu, schönfärberische Begrifflichkeiten zu erfinden, um unangenehme Aspekte zu verschleiern. Wir sprechen von psychisch Gesundenden, wenn wir chronisch psychisch Kranke meinen. Gestern erfuhr ich aus einem Vortrag, dass wir unser Tun Genesungsbegleitung nennen, und gleich im nächsten Vortrag werde ich von Hilde Schädle-Deininger erfahren, dass Inklusion "an keine Bedingung geknüpfte Zugehörigkeit und Einbezogenheit" bedeutet, während ich mit meiner Schulbildung bei der wörtlichen Übersetzung auf "Einkerkerung, Einschluss, Umzingelung" komme. Das können Sie auch ohne großes Latinum bei Wikipedia nachkontrollieren.

Wenn wir also den kritischen Begriff "geschlossene Unterbringung" durch Inklusion ersetzen, brauchte keiner angesichts dieser sanften Aura des Begriffs den Saal verlassen, Ihr Beifall ist mir jetzt schon sicher!?

Zurück zu meinen ursprünglichen Vorschlägen:

  1. Geschlossene Unterbringung - eine Gnade Gottes (oder Allahs - der kommt auch zunehmend ins Spiel)? Oder neutraler:
  2. Geschlossene Unterbringung - ein Geschenk des Himmels?
  3. Geschlossene Unterbringung - endlich das Ende von rein und raus?
  4. Geschlossene Unterbringung - eine Variante der Forensikvermeidung?
  5. Geschlossene Unterbringung - ein Ende des Martyriums von Gemeinde und Familie

Ein Blick in die Praxis ...

Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einem Mehrfamilienhaus, vor mehreren Monaten ist in der Dachwohnung jemand eingezogen, der beim Einzug - Sie haben das durch die Gardine beobachtet - nur wenige Möbelstücke mitbrachte, der sich bei Ihnen nicht vorstellte, der, wenn Sie ihm im Treppenhaus begegneten, Sie nicht grüßte, Sie starr anschaute, keine Miene verzog oder grimassierte, vor sich hin redete, merkwürdig gestikulierte - diesem Mann begegnen Sie und Ihre Kinder auf engstem Raum. Nachts machte er alle Fenster auf, strahlendes Licht fiel auf die Straße, mit der Zeit wurde die gespielte Musik immer lauter; Sie hörten, dass er an den Wänden herumkratzte, schließlich auch die Heizkörper beklopfte, Sie bekommen deshalb keinen Schlaf; Sie bemerkten, wie er im Keller herumschlich, möglicherweise an den elektrischen Armaturen oder an der Gaszufuhr hantierte, bis es schließlich soweit war, dass er nachts herumschrie, die Polizei geholt werden musste, die Sanitäter kamen, der Notarzt und der nervenärztliche Dienst, und er in die Psychiatrie eingewiesen wurde.

Gewundert haben Sie sich, dass derselbe Bewohner schon vier Wochen später wieder in Ihrem Haus auftauchte und nach kurzer Zeit die gleichen Verhaltensweisen wieder zu beobachten waren, sodass es nach wochenlangen erneuten qualvollen Torturen für alle Beteiligten wieder zur Einweisung kam. Das Ganze wiederholte sich mehrere Male, bis es schließlich so weit war, dass er das Dachgeschoss in die Luft sprengte, ohne dabei selber verletzt zu werden, mit der erfreulichen Folge für die Hausbewohner, dass nun endlich Ruhe einkehrte, weil - statt Heim - die äußerst geschlossene forensische Psychiatrie zuständig geworden war. Das hätte man weiß Gott vermeiden können, Sie wissen, worauf ich hinauswill.

Der beispielhafte Mann - das Ganze beruht im Übrigen auf einer wahren Begebenheit - war vorher immer wieder entlassen worden, weil richterlicherseits die Voraussetzungen für eine Unterbringung nicht mehr gesehen worden waren, da er ja keine unmittelbare und dringende Gefahr der Schädigung für sich oder andere ausstrahlte, es handelte sich ja bloß um Schreierei und ruhestörenden Lärm. Die in der Klinik hoch dosierte und wirksame Neuroleptikamedikation ermöglichte ihm binnen kurzem, bei der richterlichen Anhörung einen Eindruck zu hinterlassen, der nicht zwingend eine Verlängerung der Unterbringung zu erfordern schien. Er wusste, allerdings erst nach neuroleptischer Behandlung, was er sagen musste, um entlassen zu werden. Für die Hausbewohner ging das beängstigende Theater bzw. der Terror wieder von vorne los. Das muss man als gutes Gemeindemitglied hinnehmen, wenn man schon keinen Trialog hinbekommt. Richter wohnten ja nicht im Haus, da wäre, auch das ein praktisches Beispiel, die Angelegenheit anders gelaufen.

"Der Körper dieses Mannes lief zwar scheinbar frei umher, tatsächlich stand er aber unter dem Diktat der Psychose"

Dies ist nicht der einzige Fall, denn am Mittwoch dieser Woche musste ich jemand untersuchen, der innerhalb von vier Jahren 67 Polizeieinsätze ausgelöst hat, im Jahre 2011 vier mal zwei Monate in der Psychiatrie war, im Laufe seines psychotischen Daseins die Bewohner des in seinem Besitz befindlichen Hauses alle vertrieben hat und wegen Mieteinnahmeausfall das Haus per Zwangsversteigerung verlor. Der Körper dieses Mannes lief zwar scheinbar frei umher, tatsächlich stand aber dieser unter dem Diktat der Psychose und fiel mit einem Urgeschrei an der Eingangstür über mich her; hier war weder ein Dialog noch Beziehungsarbeit und erst recht keine Genesungsbegleitung möglich.

Zurück zum ersten Beispiel: Lässt man die Hausbewohner außer Betracht und beguckt nur den psychisch Kranken, hatte sich die Lage für ihn so dargestellt, dass er in das Haus eingezogen war, glaubte, dass man dort schon wisse, dass er bereits vorher mehrere Wohnung zwangsweise hatte verlassen müssen, dass der Empfang von daher nicht freundlich war, dass man gegen ihn eingestellt war, dass man Maßnahmen treffen würde, um ihn aus dem Haus zu vertreiben, all das natürlich hinter seinem Rücken und mit heimtückischen Methoden, gegen die er sich zur Wehr zu setzen hatte mit den Maßnahmen, die er zur Verfügung hatte.


Längere Unterbringung, bessere Behandlung

Sie wissen und spüren, wohin der Hase laufen soll, nämlich in die Argumentation, dass ein verlängerter Aufenthalt in der Psychiatrie und eine Unterbringung gegebenenfalls in einem geschlossenen Heim nicht nur das Dachgeschoss unversehrt gelassen hätte, sondern auch die Hausgemeinschaft weniger geängstigt und gequält haben würde, vor allem aber, dass der Patient nicht seinen quälenden psychotischen Vorstellungen dauerhaft unterworfen gewesen und ihm das Ritual weiterer Zwangseinweisungen erspart geblieben wäre. Auch hätte er sich Megadosen an Neuroleptika erspart, die bei ruhiger Einstellung in der Klinik und dann in einem Heim bedeutend niedriger hätten ausfallen können. Die Forensik war schließlich das Trumpfass, sie brachte die Wende; denn die mehrjährige Unterbringung dort führte dazu, dass er von seinem Wahn sich komplett distanzieren konnte, dass auch nicht der erste Distanzierungsakt schon zur Entlassung führte, sondern dass man dem Frieden nicht traute und ihm langfristig Neuroleptika gab, parallel dazu arbeitstherapeutisch, schließlich schulisch und ausbildungsmäßig ihm angesichts seines neurolepsiebedingt gebesserten Zustands alles das angedeihen lassen konnte, was durch den entsprechenden Zeitraum möglich und sinnvoll war, sodass er auf dem Weg über eine Wohngemeinschaft schließlich in betreutes eigenständiges Wohnen umziehen und den inzwischen erlernten Beruf tatsächlich ergreifen konnte. Das hätte man im Übrigen alles viel billiger im weitesten Sinne haben können, na, durch was wohl? Richtig, Sie wissen es ja, wozu noch der restliche Vortrag bzw. die Tagung. Die Tagungsfrage ist doch geklärt.

Als Prognosegutachter bewundere oder beneide ich oft die Möglichkeiten der forensischen Kliniken: Bedauerlicherweise: Erst nachdem andere zu Schaden gekommen sind, kommt die Forensik zum Zug. Sie hat die Zeit, die vorher in einer psychiatrischen Klinik und anschließend bei einigen wenigen Patienten im Heim erforderlich gewesen wäre, den entsprechenden Patienten so zu behandeln, dass er in seiner Psychopathologie so weit genesen kann, dass man dann auch noch die schrittweise Annäherung an die Gemeinde oder die Gesellschaft einüben kann über Wohngemeinschaften, betreutes Einzelwohnen, strenge Anbindung an die Institutsambulanz, Sicherstellung der Medikation, Kontrolle derselben usw.

Das Bedauerliche daran ist, ich deutete es schon an, dass man nur in die Forensik gelangt, wenn man sich vorher strafrechtlich betätigt. Mitunter habe ich sogar den Eindruck, dass die Patienten selber die Nase voll haben von ihrem unbehandelten Zustand in unserer scheinfreiheitsliebenden Psychiatrie oder Gesellschaft und deshalb zum Äußersten greifen, um endlich einmal eine anständige, auch langfristige und ausreichend kurierende Behandlung zu erhalten.


Wider die Scheinfreiheit

Wenn von Freiheit die Rede ist, die den Patienten nicht genommen werden soll, kann man eigentlich nur die körperliche Freiheit des Menschen meinen, denn gerade und auch weil er nicht geschlossen untergebracht ist, ist der Patient geistig eben nicht frei. Er ist gequält von seinen Wahnvorstellungen. Aberwitzige Gedanken haben ausgerechnet das Organ bis zur Funktionsuntüchtigkeit im Griff, mit dem er beurteilen soll, was für ihn das Richtige ist, ein Aberwitz! Letztlich auch mit Folgen für seinen Körper, denn der steht ja unter dem Diktat eines krankhaften Geistes mit den daraus resultierenden krankhaften Folgezuständen, in der Konsequenz, dass ein Körper - wie bereits gesagt - scheinfrei durch die Gegend irrt.

Das begeisterte Hohe Lied auf die unantastbare Freiheit des Menschen und seine Entscheidung, sich nicht behandeln zu lassen, ist ein kompletter Irrtum. Auch von Ertrinkenden wissen wir, dass sie sich gegen ihre Rettung wehren. Bei der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft lernt man als Erstes, wie man solche Hilfsbedürftigen körperlich bändigt, um nicht selber zu ertrinken. Kein Mensch würde ihren vermeintlichen Wunsch, ertrinken zu wollen, tolerieren. Nur bei Psychotikern kommen welche auf diese Schnapsidee.

"Das begeisterte Hohe Lied auf die unantastbare Freiheit des Menschen und seine Entscheidung, sich nicht behandeln zu lassen, ist ein kompletter Irrtum"

Damit das nicht in Vergessenheit gerät oder unbemerkt bleibt, will ich Sie daran erinnern, dass dies alles Gedankensplitter sein sollen, die für eine geschlossene Heimunterbringung sprechen.

Wenn jemand sich verfolgt fühlt, abgehört wähnt, nicht Herr seiner Gedanken ist, weil andere dazwischenfunken, er glaubt, eine besondere Persönlichkeit zu sein, verhasst zu sein bei den Mitbewohnern des Hauses, glaubt, Objekt internationaler Geheimdienstmachenschaften zu sein, stellt er sich entsprechend auf diese Gegebenheiten ein, was dafür sorgt, dass er keineswegs bei den Mitbewohnern im Hause in irgendeiner Weise freundlich behandelt wird, was natürlich genauestens seinen Erwartungen entspricht, sodass hier ein Circulus vitiosus sich entwickelt, der noch dadurch verschärft wird, dass Patienten dieser Art genau das machen, was ihnen und der Umgebung schadet. Dafür muss er gar nicht die Nachbarin angreifen, sondern es reicht, wenn er nächtelang an den Wänden klopft, die Bohrmaschine anstellt, um zu gucken, ob irgendwelche Gasleitungen in seine Wohnung verlegt wurden, Strom abstellt, im Keller Manipulationen vornimmt an den entsprechenden Gerätschaften. Kurzum, die Hausbewohner leben in Angst und Schrecken, während nach hiesiger Diktion der Mensch, um den es geht, sich - unbehandelt - in Freiheit befindet, eine totale Pseudofreiheit, nicht nur für sich, sondern auch für andere eine Zumutung, oft ein Terrorregime - die Umgebung wird geknutet vom Psychosekranken.


Geschlossene Unterbringung gemeindenah schaffen

Wenn er dann einmal etwas angestellt hat, dass wenigstens nach PsychKG eine Unterbringung möglich wird, bessert sich das möglicherweise in der Klinik durch Medikamenteneinnahme oder auch Soziotherapie, Beschäftigungstherapie und was wir alles noch Gutes auf Lager haben, so weit, dass er in kürzester Zeit keine dringende Gefährdung der Öffentlichkeit darstellt, sodass er entlassen werden muss, mit der Folge, dass, frei wie er ist, die Medikamente wieder weggelassen werden, eine neue bedrohliche Situation entsteht für ihn und die Umgebung, mit erneuter Einweisung in die Klinik, der doppelten Dosierung der Medikamente für den Anfang, um der Akutsymptomatik Herr zu werden, was insgesamt bei sechs oder sieben Aufnahmen im Jahr dazu führt, dass er die dreifache Dosis an Medikamenten bekommt, die er bei sichergestellter angepasster Medikation nehmen müsste. Da will ich mich gar nicht bei Herrn Aderhold[1] einschmeicheln, sondern das ist die Konsequenz dieser kurzfristigen, praktisch abgebrochenen Behandlungen. Selbst wenn es dann einmal längerfristige Unterbringungen geben sollte, weil die Fehlhandlungen so schwerwiegend waren, dass kein Richter sich traut, ihn nach kurzer Zeit wieder vor die Tür zu stellen, gibt es dann Stimmen aus den Krankenkassen, die die weitere Dauer nicht finanzieren wollen.

Kurzum, aus meiner Sicht stellt es sich so dar, dass, schon allein um Unterbringung in der von mir viel gelobten Forensik zu vermeiden, langfristige geschlossene Unterbringungssituationen gemeindenah geschaffen werden müssen, um zum einen zu vermeiden, dass die Patienten exportiert werden, denn wenn ich einmal im Harz unterwegs bin, stoße ich dort auf Patienten in geschlossenen Unterbringungsvarianten, die sich nur deshalb dort aufhalten, weil Bremen, fortschrittlich und freiheitsliebend, solche Angebote nicht feilbietet. Ob es im Ostharz schöner ist als in Bremen, will ich einmal dahingestellt sein lassen, auf jeden Fall würden die Bremer diese Ansicht nicht teilen, trotzdem lassen sie ihre Patienten klammheimlich dorthin entschwinden, wie im Übrigen ja auch in Berlin, wo Herr Reumschüssel-Wienert[2], entsprechende Erkenntnisse von sich gegeben hat.

Im Übrigen ist zur Pro-und-Kontra-Debatte, wie sie neulich in der "Psychiatrischen Praxis"[3] geführt wurde, zu sagen, dass sowohl bei pro als auch bei kontra, allerdings bei kontra noch viel weniger, von den Patienten die Rede war, die ich hier im Auge habe. Halluzinierende Patienten, Stimmenhörer, Herr Crefeld[4], will keiner in geschlossene Heime unterbringen, ich erst recht nicht.

"Geschlossene Unterbringungssituationen müssen gemeindenah geschaffen werden, um zu vermeiden, dass Patienten exportiert werden"

Es geht um die Vorzüge geschlossener Heime; es muss und darf eben gerade nicht das Krankenhaus sein, weil dort nämlich Turbulenzen herrschen, ständige Neuaufnahmen, Entlassungen, Verlegungen stattfinden, sodass das ruhige Fahrwasser, wie es für chronisch psychisch Kranke dringend erforderlich ist, in Krankenhäusern nicht vorhanden ist. Man will und sollte nicht wollen, die Patienten aus der Klinik loszuwerden, sondern sie müssen in eine Atmosphäre gelangen, wo sowohl die sichergestellte möglichst niedrige Dosierung, aber ausreichend, erprobt werden kann, darüber hinaus erkundet werden kann, wohin dieser Patient sich unter sichergestellter Therapie und Medikation entwickelt, und, was natürlich selbstverständlich ist, damit nicht gemeint ist, dass die Patienten lebenslang dort eingesperrt werden sollen. Ich habe manchmal die Vermutung, dass die Gegner geschlossener Heime oder von mir aus auch von Langzeitstationen diese Vorstellung vor sich her tragen.

Natürlich soll der Patient, wenn es so weit gekommen ist, dass die Symptomatik abgeklungen ist, auch mal einige Monate sich seiner selbst sicher werden, spüren, wie er eigentlich ist, nämlich wenn er nicht akut oder latent psychotisch vor sich hin lebt, sondern wahnfrei ist, allenfalls medikamentös beeinträchtigt sein könnte, was ich auch nicht verleugnen will.

Die Gedanken sollten frei sein. Wie heißt es im Lied, das Sie aus Ihrer Jugendherbergszeit, daran wurde ich letzte Nacht in ebendieser Kölner Örtlichkeit erinnert, kennen: Kurzum, die Gedanken sind frei:

Die Gedanken sind frei, / wer kann sie erraten? / Sie fliehen vorbei / wie nächtliche Schatten. / Kein Mensch kann sie wissen, / kein Jäger erschießen / mit Pulver und Blei: / Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei! II Ich denke, was ich will und was mich beglücket, / doch alles in der Still', / und wie es sich schicket. / Mein Wunsch und Begehren / kann niemand verwehren, / es bleibet dabei: / Die Gedanken sind frei! // Und sperrt man mich ein / im finsteren Kerker, / das alles sind rein vergebliche Werke. / Denn meine Gedanken / zerreißen die Schranken / und Mauern entzwei: / Die Gedanken sind frei! (Autor unbekannt)

Jeder psychisch Kranke hat das Recht, das Niveau dieses Liedes zu erlangen, wenn ihm dabei eine längere Behandlung und Unterbringung in einem geschlossenen Heim hilft, so sei es, und unter Ihrer Zeugenschaft können wir für mich per Patientenverfügung oder Behandlungsvereinbarung vereinbaren, dass ich für mich bei jetzt vermutlich klarem Verstand und kühlem Gemüt eine solche Unterbringung verlange, auf dass ich hinterher wieder in das Lied einstimmen kann.


Prof. Dr. med. Gunther Kruse, Psychiater, war bis zu seiner Pensionierung Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Langenhagen und arbeitet heute in freier Praxis.

Sein Artikel ist ebenfalls in der Zeitschrift "Sozialpsychiatrische Informationen" 3/2012 erschienen. Kontakt: Psychiatrie Verlag, E-Mail: si(at)psychiatrie.de


Anmerkungen:

[1] Dr. Volkmar Aderhold, Psychiater, Neuroleptikakritiker, zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema.

[2] Christian Reumschüssel-Wienert, Diplom-Soziologe, ist Leiter des Referats Psychiatrie/Queere Lebensweisen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin e.V. Der Autor bezieht sich auf die Pro-und-Kontra-Debatte zwischen Christian Reumschüssel-Wienert (pro) und Prof Dr. Wolf Crefeld, Psychiater und Hochschullehrer a.D. (kontra), zum Thema "Geschlossene psychiatrische Wohnheime" in der "Psychiatrischen Praxis", 39, 2012, S. 4-6.

[3] Vgl. Anm. 2.

[4] Vgl.Anm.2.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012, Seite 30 - 32
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2012

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