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ARTIKEL/433: Die Psychose Box - Auf der Suche nach neuen Wegen, die Krankheit zu verstehen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 141 - Heft 3, Juli 2013
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Die Psychose-Box

Auf der Suche nach neuen Wegen, die Krankheit zu verstehen

Von Knuth Stamer


Das 'Haus Sandkorn' im mittelhessischen Wetzlar gehört als Psychosoziales Zentrum zur Diakonie Lahn Dill. Neben Beratung, Betreuung und Begleitung psychisch erkrankter Menschen gehören auch Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu den Aufgaben. Und da manchmal ein "Tatort" im Fernsehen ausreicht, die Antistigmaarbeit eines Jahres zunichtezumachen, werden die Bemühungen, Psychiatrie-Betroffene in der Gesellschaft als Menschen "wie du und ich" zu sehen, auch längerfristig bestehen bleiben.


Haben Sie schon mal eine Psychose erlebt?", fragte ich vor einiger Zeit eine langjährig erfahrene Psychiaterin.

"Aufgrund meiner Erfahrung mit psychosekranken Patienten kann ich schon behaupten, einiges über diese Krankheit zu wissen", war die Antwort. "Ja, aber haben Sie so etwas schon einmal erlebt?" - "Nein." Ich übrigens auch nicht. Zum Glück. Oder leider? Profis, die beide Seiten der Krankheit kennen, sind ja immer noch sehr selten anzutreffen. Jedenfalls kann ich bei den Erfahrungen nicht wirklich mitreden, wie es ist, Wahnvorstellungen zu haben, den eigenen Sinnen nicht mehr trauen zu können, Stimmen zu hören, sich verfolgt zu fühlen, eben ver-rückt zu werden. Nicht, dass es unabdingbar wäre, jedes Krankheitsbild selbst erlebt zu haben, um helfen zu können. Mein Interesse daran ist begründet im ehrlichen Verstehenwollen, den Kontext zu begreifen - als Grundvoraussetzung für ein wirkungsvolles Hilfsangebot.

Und stumpfen wir, die wir schon lange mit Psychose- und anders psychisch Erkrankten arbeiten, alle vielleicht irgendwann ab?

Immer wieder beschäftigt uns im 'Haus Sandkorn' die Frage, wie es wäre, wenn andere, wenn ganz "normale" Bürger in unserem Land eine Idee davon bekämen, warum diese oder jene Person sich gerade etwas anders, seltsam oder unerwartet verhält. Ganz abgesehen von den Angehörigen, die oft hautnah, aber eben auch nur durch die Außenperspektive die psychotische Episode miterleben. Ließen sich Stigmata und Vorurteile dann besser überwinden? Und wir wollen natürlich auch auf mögliche Hilfsangebote in der Region aufmerksam machen.

Die Idee

Nach gründlichen Überlegungen hat sich unser Team für die kompakte Version einer "Psychose-Simulation" entschieden: Wir drehten einen Kurzfilm, mit dem der Betrachter in Bild und Ton auf die Reise in ein psychotisches Erleben mitgenommen wird. Wir haben das Ganze "Psychose-Box" genannt, weil es auf Veranstaltungen tatsächlich als Box in der Größe einer Telefonzelle aufgestellt werden kann. Mittels Flachbildschirm und Kopfhörer taucht der Besucher in das Erleben eines Psychose-Erfahrenen ein - eine Welt, der man sich nicht entziehen kann.

In enger Zusammenarbeit mit Betroffenen entstand so eine kurze Alltagsgeschichte.

Frank Wagner(*) war dabei der Hauptideengeber, weil sich die Schilderungen seiner Psychoseerlebnisse am deutlichsten und am besten umsetzbar zeigten. Zu der Idee sagt er: "Ich bin der Meinung, dass mit der Psychose-Box Pionierarbeit geleistet wird, um das Thema Psychose mehr in die Öffentlichkeit zu bringen und um Menschen, die auch unter Psychosen leiden, Mut zu machen, sich damit nicht im Verborgenen zu halten oder sich wie Aussätzige zu fühlen."

Das Thema "Schuld" zieht sich wie ein roter Faden durch seine Wahnvorstellungen und bestimmte in psychotischen Phasen sein ganzes Denken und Handeln: "Es ging zum einen um Schuld, was sich da eben immer so festgesetzt hat; ganz am Anfang bei diesem - ich sag jetzt mal - Anfall habe ich da ein Gesicht vor mir gesehen und das hat mich dann beschimpft und gesagt, ich sei schuld an diversen Dingen. Und dann musste ich mich natürlich bestrafen, und es ging auch immer um Erpressung; diese Stimme hat gefordert, wenn ich mich nicht selbst schlage oder Ähnliches, dass dann jemand sterben wird."

Alltag im Bus

Diese wertvollen detaillierten Berichte aus dem Innenleben eines Psychose-Erkrankten sind in die Geschichte und das Drehbuch für den Film geflossen. Die Rahmenhandlung für die Filmsequenz spielt sich bei einer Fahrt im Stadtbus ab. Wir haben uns dabei ganz bewusst für eine alltägliche Situation entschieden, die jedem Zuschauer mehr oder weniger geläufig ist und ihn im "Normal-sein" abholt. Letzten Endes wurde das Ganze ein Spielfilm, logisch, die Dinge sind ja nicht für einen Außenstehenden erkennbar passiert und mussten somit gespielt werden. Die "Sandkörner", ein Projekt unseres Hauses, in dem Betroffene und Profis zusammen Theater spielen, haben sich bereit erklärt, die geplanten Szenen schauspielerisch umzusetzen. Frank war auch mit dabei und hat quasi in seiner eigenen Psychose mitgespielt. Er sagt dazu: "Das war für mich sehr anstrengend. Man hat ja einiges noch mal wiederholen müssen. Es ist eben so diese Kontinuität, man muss auf so viele Dinge achten. Es war aber, als ich das Ergebnis gesehen habe, schön. Es war aber erst mal beim Aufnehmen anstrengend, auch sich dem Ganzen so auszusetzen."

"Genau so ging es mir!"

Entstanden ist ein Film von sechs Minuten, in dem sich die wahnhaften Wahrnehmungen langsam steigern und verdichten bis zu einem finalen "Ich muss hier raus!", um dem Zuschauer den Ausstieg aus einer Welt der Bedrohung, Angst und Überforderung zu ermöglichen. Wichtig war uns dabei, keinen effektüberladenen Gruselfilm zu produzieren, sondern "realistische Wahnvorstellungen", die eben haarscharf an der Wahrnehmung eines Nichtbetroffenen entlangschlittern und trotzdem oder gerade deswegen das Ausmaß der Belastung der Betroffenen darstellt. Frank Wagner ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden: "Genau so ging es mir in meiner Psychose!

Ich war sehr beeindruckt, weil der Film sehr gut gelungen ist und einen sehr guten Einblick in das Leben oder Empfinden eines Psychotikers gibt. Die Situationen sind sehr realistisch dargestellt. Diese Wahrnehmungen, denen diese Personen da ausgesetzt sind, habe ich auch so erlebt. Auch das mit dem Lachen, mit dieser Reiz- und Geräuschüberflutung, das habe ich natürlich auch alles so erlebt, und es dauert sehr lange, bis man diesen Mechanismus erkennt. Wenn ich zum Beispiel heute noch - das passiert nicht sehr oft, aber manchmal - in die Stadt gehe und da stehen Personengruppen, die unterhalten sich, denke ich auch, die reden über mich, bis sich dann die Realität sozusagen wieder einschaltet und sagt, das kann jetzt nicht sein."

Diese deutliche Rückmeldung von Frank Wagner (und danach auch noch von vielen anderen) macht deutlich, dass der Film die Realitäten Psychose-Erkrankter zumindest in Ausschnitten abbildet. Wenn alles nur ein schöner Gedanke war, eine Idee eines Außenstehenden, dann würde dem Film jede Überzeugungskraft fehlen. Das erste Ziel war damit erreicht: realistische Symptome einer Psychose nachzubilden und vor allem die entstehenden Gefühle für den Zuschauer erlebbar zu machen.

Was kommt an?

Anschließend war natürlich die wichtigste Frage: Wie erleben Nichtbetroffene die Psychose-Box? Als Erstes haben wir Mitarbeiter der Einrichtung unsere Sechs-Minuten-Psychose "erlebt". Was die eingangs erwähnten Abstumpfungsbefürchtungen betrifft, sind wir alle durch den Film neu geeicht worden, durch die deutliche Erinnerung, wie viel Leid, Bedrängnis, Angst und Hilflosigkeit in psychischen Krisen stecken (müssen), die von außen keiner wirklich sehen kann. Und ich habe eine neue Hochachtung entwickelt vor dem Mut und der Energie, mit der Betroffene in dieser ver-rückten Welt versuchen, normal zu bleiben und ihren Alltag zu bewältigen.

Der zweite Schritt, "Normalbürger" mit dem Film zu erreichen, war spannend: Wir wollten die Psychose-Box auf einem Volksfest aufstellen und Menschen einladen, sich auf diese Aktion einzulassen. Mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen gab es eine Kooperation für den "Hessentag", im Juni 2012 in Wetzlar, der eine Woche dauerte und über eine Million Besucher in unsere Stadt brachte. Wie würden Mitglieder unserer Spaßgesellschaft auf das kontrastiert schwere Thema "psychische Erkrankung" im Allgemeinen und das subjektive Leid Einzelner im Speziellen reagieren? Wäre überhaupt jemand bereit, für sechs Minuten aus dem Getöse einer Messehalle auszusteigen, in der ansonsten die Hauptaufgabe darin besteht, Kugelschreiber, Luftballons und andere Goodies abzugreifen? Die Veranstalter haben Mut bewiesen, dieses Experiment zu wagen, und es hat sich gelohnt: Leute haben sich einladen lassen, den Film anzusehen, einen Fragebogen auszufüllen, mit uns ins Gespräch zu kommen und sich zu informieren. Während unserer Anwesenheit am Stand war die Psychose-Box fast immer besetzt, unter anderem auch von Lokal- und Landespolitikern, und wir haben über hundert Rückmeldungen über Fragebögen erhalten. Von "Man kann die Situation des Erkrankten gut nachvollziehen" bis "Ich habe nun eher Verständnis für Menschen in Krisen" haben die Aussagen gezeigt, dass der Film Spuren hinterlassen hat.

Der Wunsch nach Verständnis

Was bleibt nach der Psychose-Box? Sicherlich der Wunsch, weiterhin Veränderung durch Aufklärung bewirken zu können. Frank meint dazu: "Was wünsche ich mir? Gute Frage. Sehr wichtig ist natürlich Verständnis. Verständnis zum einen, aber auch immer wieder das Aufzeigen einer Alternative, d.h., dein Leben muss nicht so weiterlaufen, es wird wieder besser, du musst nicht in den Klauen dieser Krankheit gefangen bleiben. Was ich mir natürlich auch wünsche, dass jemand da ist, der das auch ernst nimmt, der nicht sagt, du spinnst ja jetzt rum oder das ist ja nicht so. Weil ich denke, für denjenigen, der das erlebt, ist es ja eine Form von Realität, und das sollte man schon ernst nehmen und nicht sagen, der hat mal wieder einen Anfall. Ernst nehmen, das wünsche ich auch jedem, der betroffen ist und unter einer Psychose leidet, dass er Menschen hat, die das ernst nehmen und ihn unterstützen können und nicht sagen, guck dir den Verrückten oder diesen Freak an."

Wir leben in einer Erlebnisgesellschaft, alles soll erlebbar sein, begreifbar, mit allen Sinnen erfahrbar. Das beziehen die meisten natürlich auf Spaß und Unterhaltung: Es lebe das Psychose-Event in 3-D! Das ist natürlich absoluter Blödsinn und war nie Sinn und Ziel der Aktion. Mit verschiedensten Ideen einen bestimmten Trend aufgreifen und Menschen in ihren Gewohnheiten abzuholen, um etwas deutlich zu machen, war in der Vergangenheit aber immer wieder hilfreich und hat uns weitergebracht. Genau das erlebe ich über die Jahre immer wieder in unserer Gemeindepsychiatrie. Und das begeistert mich immer noch: Von Psychose-Seminaren über Schulprojekte wie "Verrückt? Na und?" bis zu alternativen Beschäftigungsprojekten haben wir einen kreativen Nährboden für die unterschiedlichsten Projekte. Sie alle haben das Ziel, die Bedingungen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu verbessern. Ver-rückte Menschen brauchen manchmal auch verrückte Maßnahmen. Ich glaube, da ist noch viel Luft. In diesem Sinne: zur Nachahmung empfohlen!

(*) Name geändert.


Knuth Stamer ist Sozialpädagoge des Psychosozialen Zentrums 'Haus Sandkorn' der Diakonie Lahn Dill in Wetzlar.

Kontakt: Haus Sandkorn, Obertorstr. 8-12, 35578 Wetzlar;
Tel.: (064 41) 94 52-0; Fax: (064 41) 94 52-22;
E-Mail: k.stamer@diakonie-lahn-dill.de;
Internet: www.diakonie-lahn-dill.de

Hinweis: Gegen eine Aufwandsentschädigung von 20 Euro können Sie den Film bestellen:
haussandkorn@diakonie-lahn-dill.de

Auf der DGSP-Jahrestagung vom 7. bis 9. November 2013 in Erfurt wird die Psychose-Box auf dem Tagungsgelände der Fachhochschule aufgestellt.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 141 - Heft 3, Juli 2013, Seite 38 - 39
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2014

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