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ARTIKEL/442: Interview - Grundrecht auf medizinische Gleichbehandlung auch für Flüchtlinge! (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Grundrecht auf medizinische Gleichbehandlung auch für Flüchtlinge!

Michaela Hoffmann sprach mit Dr. Ute Merkel


Dr. Ute Merkel ist niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Meißen. Zunehmend suchen Menschen in ihrer Praxis Hilfe, die auf der Flucht vor Kriegverfolgung oder extremer wirtschaftlicher Not aus ihrer Heimat fliehen mussten. Michaela Hoffmann hat sie für "Soziale Psychiatrie" nach ihren Erfahrungen gefragt.


SP: Woher wissen die Flüchtlinge, dass sie in Ihrer Praxis Hilfe erfahren können?

Merkel: In unserer Region sind inzwischen drei Sozialarbeiterinnen der Diakonie in Aufnahmeheimen und auch bei den dezentral untergebrachten Menschen tätig. Die meisten Patienten werden über sie angemeldet. Andere bekommen die Praxisadresse über ehrenamtliche, z.B. das "Bündnis Buntes Radebeul"*, oder private Helfer, die beispielsweise Partnerschaften übernommen haben. Auch gab es Einzelanfragen von Rechtsanwälten. Seit Beginn dieses Jahres sind ungefähr dreißig Flüchtlinge zu uns in die Praxis gekommen. Es hat sich offensichtlich herumgesprochen, dass ich bereit bin, Behandlungen zu übernehmen.

SP: Mit welchen Symptomen kommen die Menschen zu Ihnen? Sind die Beschwerden eher psychischer oder körperlich-neurologischer Art?

Merkel: Ich behandele hier in der Praxis das ganze "nervenärztliche Spektrum", meist sind es kombinierte Erkrankungen, wir sagen auch Doppeldiagnosen. Bei Hausbesuchen habe ich zum Beispiel eine querschnittsgelähmte junge Frau und eine mit spastischer Cerebralparese behandelt. Dann kamen Patienten nach schweren Schädel-Hirn-Verletzungen mit hirnorganischen Psychosyndromen (nach Unfällen und Kriegsverletzungen), auch ein kleiner autistischer Junge, andere hatten Psychosen, Angst- und Panikstörungen verbunden mit Depressionen, vor allem aber posttraumatischen Belastungsstörungen, PTBS. Problematisch sind auch Alkohol- und Drogenkonsum, in deren Folge es zu Aggressionen, zum Teil auch zu Selbst- und Fremdverletzung kommt.

SP: Flüchtlinge haben bisher in der Regel ja keinen regulären Krankenversicherungsschutz. Wer kommt für die Behandlungskosten auf?

Merkel: Fast alle kommen mit Behandlungsscheinen des Sozialamtes bzw. der Ausländerbehörde zur Erstbehandlung. Von der Kassenärztlichen Vereinigung sind wir darüber informiert worden, dass es sich nur um Notfallbehandlungen handeln kann. Da das für psychiatrisch-neurologische Behandlungen schwer zu definieren ist, habe ich schon im Oktober/November 2014 Kontakt zum hiesigen Gesundheitsamt aufgenommen, um diesen Punkt zu klären. Mit dem Ergebnis, dass man dort "das Problem nicht sehen konnte" (wollte). Ich schicke jetzt in Zweifelsfällen Mitteilungen sowohl an die Ausländerbehörde (Behandlungsberichte mit medizinischen Diagnosen!) als auch an das Gesundheitsamt. Immerhin ist jetzt zum Beispiel - nach acht Wochen(!) - eine Genehmigung zur physiotherapeutischen Behandlung der erwähnten querschnittsgelähmten Frau erteilt worden. Behandlungsscheine zu bekommen ist aktuell nicht das Problem, vielmehr sind es die Einschränkungen, z.B. dass Dolmetschereinsätze nicht vergütet werden oder Rezepte nicht eingelöst werden können.

So genannte Illegale hatte ich hier in der Praxis noch nicht, weiß aber, dass ich sie im Zweifelsfall auch an das Medinetz** (Ärzte behandeln hier alle Flüchtlinge anonym und kostenfrei) verweisen kann, oder aber auch selbst behandeln würde. Ich glaube, ich muss hier nicht ausdrücklich an den hippokratischen Eid erinnern, den wir Ärzte abgelegt haben. Leider gibt es aus meiner Sicht und Kenntnis aber noch viel zu viele ärztliche Kollegen, die zuallererst die zu klärenden Kostenfragen sehen.

SP: Nach Angaben von Hilfsorganisationen leiden etwa 40 Prozent der Flüchtlinge an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Können Sie hier Hilfen, auch psychotherapeutische, anbieten?

Merkel: Ich führe vor allem Erstbehandlungen durch, aber ich dokumentiere auch die gesundheitlichen Einschränkungen, die die Abschiebehindernisse gegenüber der Ausländerbehörde begründen. Dabei agiere ich im Kontakt mit den Betroffenen natürlich auch psychotherapeutisch. Auch hier befinden sich die meisten noch in einem Not-Zustand, haben vor allem Angst vor Wiederabschiebung nach dem Dublin-Abkommen.

Die PTBS-Symptome, vor allem Schlafstörungen und Angstzustände, kann ich zum Teil durch Psychopharmaka symptomatisch behandeln, also lindern. Ich kann aber nicht ursächlich therapieren. Was die Menschen vor allem aber brauchen, ist das Gefühl von Sicherheit und Schutz. Ich versuche deshalb insbesondere, für sie eine dezentrale Unterbringung und tragfähige hilfreiche Beziehungen, z.B. über die oben genannten Initiativen, zu organisieren.

Die in unserer Praxis zur Behandlung kommenden Frauen haben aus meiner Sicht besondere Not. Sie sind nicht selten allein oder mit ihren Kindern unterwegs. Sie haben auch große Scham, sich vor männlichen Dolmetschern zu artikulieren. Da haben wir uns mit anonymen schriftlichen Übersetzungen ihrer Lebensgeschichte oder Übersetzungen am Handy beholfen.

Überhaupt denke ich, dass es neben der Bereitschaft, diesen Menschen zu helfen, besonders der Kreativität aller Helfer bedarf, um hilfreich zu sein.

Froh bin ich, dass es engagierte Anwältinnen und Anwälte gibt, die sich zum Teil auch von sich aus an uns wenden, um sich für diese Klienten einzusetzen.

SP: Es ist bekannt, dass nicht nur die im Herkunftsland und auf der Flucht erlittenen traumatischen Erlebnisse zu psychischen Störungen führen, sondern die Bedingungen im Aufnahmeland diese oft noch verstärken. Wie sind da Ihre Erfahrungen?

Merkel: Die Aufnahmebedingungen hier in Deutschland, so bestätigen es die Flüchtlinge immer wieder, sind bis auf die oft schlimmen Bedingungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und die häufigen erzwungenen Ortswechsel relativ gut. Jedenfalls verglichen mit den oft katastrophalen Bedingungen in Erstankunftsländern wie Italien, Bulgarien, Griechenland und der Türkei. Hier entstehen auch oft Retraumatisierungen durch körperliche und sexuelle Gewalt, Trennungen von Angehörigen und anderes mehr.

SP: Welche besonderen Probleme haben minderjährige unbegleitete Flüchtlinge?

Merkel: Ich hatte bisher zu allein reisenden Kindern und Jugendlichen keinen Kontakt, weiß aber, dass die Hilfen im Rahmen der Jugendhilfe andernorts relativ gut sind, aber nur bis zur Volljährigkeit greifen. Wir haben uns hier in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft um die Integration der Kinder in Kitas und Schulen gekümmert.

SP: Stichwort Abschiebung: Kommt es vor, dass trotz diagnostizierter psychischer Erkrankung eine Abschiebung droht und eingeleitet wird? Welche Möglichkeiten gibt es aus ärztlicher Sicht, das zu verhindern?

Merkel: Ja, das kommt vor. Den gravierendsten Fall habe ich Anfang des Jahres erlebt. Neben der Ignoranz der medizinischen Vorbefunde kam es zu einer Zwangsbehandlung und danach zu unterlassener Hilfeleistung nach erfolgtem und offensichtlich auch diagnostiziertem Suizidversuch. Ich schicke regelmäßig Schreiben an Behörden, Gerichte und andere zuständigen Stellen, um Abschiebungen möglichst zu verhindern.

SP: In der Unterstützungsszene für Asylsuchende gibt es die 'Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer', die an vielen Orten aktiv sind. Aber auch die Psychiatrie ist in der Verantwortung. Aus Sicht der niedergelassenen Ärztin: Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst oder den Einrichtungen der Gemeindepsychiatrie und der Klinik aus?

Merkel: Ich kenne die Problematik schon seit vielen Jahren. Damals, vor mehr als fünfzehn Jahren, habe ich schon mit dem Zentrum für Folteropfer in Berlin zusammengearbeitet. Außerdem bin ich Mitglied der IPPNW***. Der Verband beschäftigt sich auch schon seit Jahren mit der Abschiebepraxis und Behandlungssituation von Flüchtlingen.

Zu den Problemen mit dem regional zuständigen Gesundheitsamt und den Versorgungskliniken will ich mich hier aktuell nicht äußern. Ich fürchte eine Verschlechterung der jetzt schon aus meiner Sicht sehr unbefriedigenden Situation und Zusammenarbeit. Wie so oft in den letzten Jahren erlebe ich da eine Zeitreise, wenn ich meine Arbeit in Sachsen mit meinen Berliner Vorerfahrungen vergleiche. Es gibt aber zum Glück viele, die sich auch außerhalb von Institution und Klinik engagieren, und da freue ich mich über eine gute Zusammenarbeit.

SP: Was muss sich Ihrer Erfahrung nach unbedingt ändern?

Merkel: Die beste Lösung wäre eine Krankenversicherungskarte für alle Asylsuchenden und Flüchtlinge. So wäre das Grundrecht auf medizinische Gleichbehandlung verwirklicht. Zudem wäre die Unsicherheit bei den Kollegen hinsichtlich der Finanzierung von Diagnostik und Therapie beendet. Anzuregen wäre darüber hinaus auch ein regionales Netzwerk ehrenamtlicher Dolmetscher, und natürlich brauchen wir mehr Privatpersonen, die individuelle Patenschaften übernehmen. Letzteres wird hier in Sachsen zunehmend aktiv umgesetzt. Dann braucht es Sprechstunden vor Ort, dort, wo die Menschen wohnen und leben - ich habe mir das für meinen Ruhestand vorgenommen. Dazu braucht es ein "Dranbleiben" und ein gegenseitiges Ermutigen aller Beteiligten und ein Weiterreichen von positiven Erfahrungen!


Dr. med. Ute Merkel ist niedergelassene Psychiaterin, Psychotherapeutin und Sprecherin des Fachausschusses Psychotherapie der DGSP.
E-Mail: praxismerkel@t-online.de


* wwwbuntes-radebeul.de/pages/verein.html
** medinetzdresden@gmx.de
*** Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015, Seite 18 - 19
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
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Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2015

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