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ARTIKEL/444: Gespräch - Besuch im Übergangswohnheim für Flüchtlinge in Neuruppin (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Da sind viele Ressourcen ..."
Ein Besuch im Übergangswohnheim für Flüchtlinge in Neuruppin

Gespräch von Dörte Staudt mit zwei Sozialpädagoginnen


Ein Bett, ein Stuhl, eine Tischhälfte, Teller, etwas Kochgeschirr: Das ist die Ausstattung, die in einem leeren Zimmer im Neuruppiner Übergangswohnheim auf neu ankommende Flüchtlinge wartet. Derzeit sind 220 Menschen und damit mehr als ursprünglich geplant in dem schmucklosen Wohnblock untergebracht. Sie werden von den Sozialpädagoginnen Stefanie Kühl und Franziska Seidel betreut. Dörte Staudt sprach im Auftrag der SP mit ihnen über ihren Arbeitsalltag und die Möglichkeit, Menschen psychiatrisch zu versorgen, die mutmaßlich traumatische Erlebnisse zu bewältigen haben.


SP: Wenn die Menschen zu Ihnen kommen, sind sicher alle erst einmal verschüchtert, unsicher, alles ist neu. Spüren Sie dennoch, wer eine besondere - psychiatrische - Unterstützung benötigt?

Kühl: Erst mal ist es so, dass sie aus Eisenhüttenstadt ankommen, der zentralen Erstaufnahme in Brandenburg, Erwartungen haben, auch Wünsche. Erst einmal ist alles neu und die Menschen müssen sich orientieren.

Seidel: Wenn sie ankommen, dann haben sie ein Lächeln auf dem Gesicht und schauen, was gibt es hier für Angebote.

Kühl: Wenn die Flüchtlinge ein halbes Jahr hier sind, wenn sie merken, wo sie sind, dann beginnt ein Denkprozess. Dann kommt auch ein Teil Langeweile dazu, wenn sie auf ihrem Zimmer sitzen. Dazu kommt auch der unklare Aufenthaltsstatus. Dann kommen die ganzen Ängste hoch: "Was ist eigentlich passiert, was habe ich auf der Flucht erlebt?", und dieses Trauma, so ist unsere Erfahrung, setzt eigentlich erst später ein.

Seidel: Sie müssen auch erst einmal Vertrauen fassen und merken, da kann ich hingehen und etwas loswerden.

SP: Aber dieses Vertrauen, das gibt es? Oder herrscht auch ein hoher Druck innerhalb der Peergroup?

Kühl: Wir hatten da einen Fall, einen jungen Mann aus Somalia mit einer Psychose, der war in seiner Peergroup nicht angesehen, hatte auch keine sozialen Kontakte, niemand wollte mit ihm das Zimmer teilen. Er war schon sehr ausgegrenzt. Viele haben auch dieses Gefühl "Ich bin ein Mann, ich muss damit fertig werden". Selbst wenn die Männer weinen und man ihnen anbietet: "Lass uns mal gucken, wer kann da helfen", dann antworten sie: "Ich bin ein Mann, ich muss das aushalten."

Seidel: Gerade in Afrika sind psychische Probleme ein großes Tabu und gelten als ansteckend, aber auch etwa für Albaner, die Angst haben, ihr Gesicht zu Verlieren.

SP: Das ist die erste von vielen Barrieren, um überhaupt psychiatrisch etwas tun zu können.

Kühl: Zuerst müssen die Menschen das selbst wollen und sich ein Stück weit öffnen. Und wenn sie sich dafür entschieden haben, dann beginnt das ganze Prozedere, das sehr schwierig ist. Dann muss man zum Gesundheitsamt, Abteilung Sozialpsychiatrischer Dienst, man muss warten, bis man einen Termin bekommt. Es ist ein großer Kampf, mal jemand in eine geeignete Therapie zu vermitteln. Natürlich ist die Sprachbarriere ein Thema. Die eigentliche Versorgung findet hauptsächlich über die Psychiatrische Institutsambulanz, PIA, der Ruppiner Klinik statt, und dort beschränkt man sich quasi auf Medikamente. Gesprächstherapie oder Psychotherapie zeitnah ist kaum möglich. Weil es zu wenig Ärzte gibt und die wenigen zu viele Patienten haben. Was nach wie vor fehlt, ist eine geregelte Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst. Die tun sich gerade noch schwer hier, regelmäßig Sprechstunden anzubieten, was eigentlich hilfreich wäre.

Seidel: Es sind auch viele Schritte, bis eine Behandlung bewilligt wird. Zuerst muss das Gesundheitsamt eine Einschätzung geben, bevor das Sozialamt die Kostenübernahme erklärt. Und am Ende steht nicht unbedingt eine Psychotherapie, sondern wahrscheinlicher eine medikamentöse Einstellung. Da kennen wir viele, die sagen, das ist mir viel zu viel, dann lass ich mich eben nicht behandeln. Ganz oft erleben wir, dass sie sich wieder auf ihr Zimmer verziehen. Bei zwei Personen haben wir erlebt, dass sie nach Berlin konnten. Ein Mann hatte bei einem Arabisch sprechenden Therapeuten eine Therapie gemacht, ein anderer bei einer Französisch sprechenden Therapeutin. Mehr Personen, die eine adäquate Therapie bekommen haben, sind mir nicht bekannt. Das Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin, das ist so heillos überfüllt, das ist Wahnsinn, so lange können die Leute einfach nicht warten.

Kühl: Natürlich gibt es Notfälle, wenn jemand sagt: "Ich bringe mich um." Oder in einem anderen Fall. Bei ihm haben wir sofort gesehen, da stimmt etwas nicht.

Seidel: Wenn die Leute von Eisenhüttenstadt kommen, dann haben wir erst einmal nur Namen und Alter. Deshalb haben wir erst mal einen Schreck bekommen, weil wir darauf gar nicht vorbereitet sind. Bei ihm hatte man das Gefühl, er sieht andere Leute, er hört Stimmen, er schaut einem nicht in die Augen und ist offensichtlich sehr krank.

SP: Es gab dann eine stationäre Aufnahme?

Kühl: Ja, aber dort hat er es nicht ausgehalten, Wollte auf dem Boden sitzen und essen, mit seinen Landsleuten zusammen sein. Er kam dann zurück. Wir hätten ihn gerne in einer Wohngruppe untergebracht, wir haben uns gewünscht, dass er mit einem jungen Mann, von dem wir dachten, sie seien befreundet, auf ein Zimmer zieht. Aber das gab schnell Probleme. Am Anfang hat er sich mit Stöcken und aus Bettlaken in seinem Zimmer eine Höhle gebaut. Wir haben ihn in seinem Zimmer manchmal nicht gesehen, weil er sich so eingeigelt hat. Er wurde dann in die PIA eingebunden und nimmt starke Medikamente, die er vom Sozialamt bekommt und die ihm zum Glück sehr helfen. Aber er hat auch einen Betreuer, einen Somalier, der schon lange in Deutschland lebt, er geht mit ihm einkaufen und macht mit ihm das Zimmer sauber. Das ist eine große Hilfe.

Seidel: Es hat sich sehr gebessert. Und wenn Aktivitäten sind, ist er immer mit dabei. Auch wenn er Fußball spielt, ist er ein anderer Mensch, dann rennt er so los. Und dadurch wird er auch wieder ein bisschen anerkannt. Am Anfang dachten wir, er braucht eigentlich eine Einzelbetreuung, wie soll das hier funktionieren, da war so eine Hilflosigkeit da.

Kühl: Wir haben auch mit seinem Bruder gesprochen, der lebt in Süddeutschland, aber der erzählte, früher sei er normal gewesen. Es deutet darauf hin, dass auf der Flucht etwas passiert ist.

SP: Aber es ist tatsächlich so, dass nicht jeder ein Trauma entwickelt, der Traumatisches erlebt hat?

Seidel: Jeder geht mit seiner Geschichte anders um, viele sehen auch die positiven Chancen. Bei den Syrern ist das auffällig: Obwohl man doch denkt, die haben so viel gesehen, dass sie wirklich traumatisiert sein müssten. Aber die Syrer haben hier auch gute Chancen.

Kühl: Syrer bekommen gleich ihren Aufenthalt und sind damit so in einem Trott. Denn dann geht es gleich weiter, sie haben so viel zu organisieren, holen ihre Familien nach. Sie haben alle Schlimmes erlebt, aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie sagen: "Das ist unsere Chance, die nutzen wir."

Seidel: Bei den Afrikanern ist es wahrscheinlich eher so, dass sie auf der Flucht Schlimmes erlebt haben, auch in anderen europäischen Ländern katastrophale Bedingungen. Wenn sie nicht mehr neu sind, wenn sich alles gesetzt hat, dann kommen die Flashbacks.

Kühl: Das war ja auch ein Thema, als wir angefangen haben, Sport mit dem Drachenboot anzubieten. Wir haben uns gefragt: "Fangen wir das überhaupt an, setzen sich diese Menschen aus Afrika überhaupt in ein so kleines Boot?" Aber es gab überhaupt keine Berührungsängste. Die haben ihre Schwimmwesten angezogen und dann ging's los.

Seidel: Obwohl viele dabei waren, meist aus Eritrea, die auch erzählt haben, ja, sie haben diesen Weg genommen und sind mit dem Boot gekommen. Die schrecklichen Bedingungen, die sie geschildert haben, sind für uns überhaupt nicht nachvollziehbar. Und trotzdem: Wenn man durch das Haus geht, wird man angelächelt und fröhlich begrüßt. Deshalb ist es für uns so unverständlich, dass vom Sozialamt manchmal solche Fragen kommen: "Wie schätzt ihr das ein, hier will jemand zum Psychologen, dabei wirkt er hier im Sozialamt immer fröhlich?" Nur weil ich traumatisiert bin, sitze ich ja nicht den ganzen Tag da und weine.

Wir haben auch einen ehrenamtlichen Psychologen, der bietet psychologische Beratung an, aber es ist schwer, zu den Menschen Zugang zu finden. Sie wollen sich nicht mit einem Fremden hinsetzen und reden, sondern ihre Fragen klären: Krieg ich einen Aufenthalt, eine Wohnung, eine Arbeit? Besser klappt das manchmal in den Spielgruppen, dass sich die Menschen im Vertrauen an die Ehrenamtlichen wenden, wenn etwas Akutes ist, und gemeinsam kommen sie dann zu uns, um gemeinsam Dinge zu klären.

Kühl: Vielen hilft auch der Sport!

Seidel: Ja, Sport hilft richtig doll. Das merken wir, wenn wir Sport anbieten, dann sind viele direkt dabei. Mit Sport und Deutschkurs und anderen Aktivitäten werden tatsächlich Selbstheilungskräfte geweckt. Es gibt unheimlich viele Ressourcen im System, bei den Menschen selber, aber auch im ehrenamtlichen Umfeld.

SP: Sicher hilft das auch, weil das Warten so schwierig ist. Für manche Asylsuchende kommt das Trauma doch wahrscheinlich mit dem Warten auf wenigstens eine Duldung?

Kühl: Ja, und vor allem mit der Gewissheit, dass der Antrag negativ ausfällt.

Seidel: Viele Menschen, zum Beispiel aus Eritrea, schickt man nicht zurück in ihr Heimatland, sondern nach Spanien oder Italien, dorthin, wo sie zuerst eingereist sind. Davor haben die Leute große Angst, weil es dort keine Zukunft gibt, es gibt nichts zu essen, keine Arbeit, keine gesundheitliche Versorgung, nichts. Die Leute sind sich selbst überlassen. Und das ist das, wo das Trauma oft erst entsteht, wenn sie nicht aus ihren Herkunftsländern vorbelastet sind, dann passiert.es dort.

Kühl: Es herrscht auch eine große Angst, weil viele Bewohner denken, die Abschiebung kommt nachts. Das ist nicht so. Wenn man jemand zurückschickt, dann gibt es eine Vorbereitungszeit.

SP: Haben Sie selbst Supervision, um all diese Geschichten verarbeiten zu können?

Kühl: Seit diesem Jahr haben wir Supervision, aber wir sind auch ein gutes Team, können uns anrufen. Wenn wir einen Notfall haben, gucken wir gemeinsam, wie geht man damit um?

SP: Was ist ein Notfall?

Seidel: Zum Beispiel familiäre Gewalt ist ein schlimmes Thema, das uns sehr berührt, Oder wenn jemand sagt, ich möchte mir das Leben nehmen, was machen wir dann?

Kühl: Ein wichtiges Thema ist Gewalt gegen Frauen. Wenn wir das mitkriegen, sind wir rigoros, das lassen wir nicht zu, dass Frauen geschlagen werden.

Seidel: Aber ich denke auch, es ist gut, dass viele das Vertrauen haben, uns davon zu erzählen.

Kühl: Das ist letztlich auch ein Vorteil, wenn so viele Menschen unter einem Dach leben. Wir können viel effektiver betreuen, als wenn sie verstreut untergebracht wären. Unsere Bürotüren sind immer offen, alle wissen, dass sie jederzeit kommen können. Auf der anderen Seite bringt diese Großunterkunft, mit der Hospitalisierung, Probleme mit sich, die man auch aus der Psychiatrie kennt.

SP: Ich habe gehört, der Ausdruck "Kopf kaputt" fällt oft hier im Haus?

Kühl: Das steht für alles, für Schmerzen, für zu viel Stress, dafür, dass irgendwas im Kopf passiert, was die Betroffenen nicht verstehen. Das ist auch oft die Antwort, wenn ich frage: "Warum gehst du nicht mehr zur Schule?", und soll bedeuten: "Da geht nichts mehr rein."


Stefanie Kühl und Franziska Seidel sind beide Sozialpädagoginnen und 29 Jahre alt. Sie arbeiten für die Ruppiner Kliniken GmbH im Übergangswohnheim für Asylbewerber in Neuruppin-Treskow.
E-Mail: s.kuehl@ruppiner-kliniken.de
franziska.seidel@ruppiner-kliniken.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015, Seite 25 - 27
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2015

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