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POLITIK/098: Einfluß der Pharmaindustrie auf die Psychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 165 - Heft 03/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Pharmaeinfluss in der Psychiatrie

Von Sabine Hensold


Der Beitrag beschreibt die vielfältigen Verflechtungen zwischen Medizin und Pharmaindustrie, die zu Interessenkonflikten führen, die sich in der ärztlichen Verschreibungspraxis, auch in der Psychiatrie, niederschlagen. Die Initiative MEZIS engagiert sich gegen die Beeinflussungen durch die Pharmaindustrie, für Transparenz bei Zuwendungen im Gesundheitswesen und für die Unabhängigkeit der Ärztinnen und Ärzte, u.a. in der ärztlichen Fortbildung.


Der Einfluss der Pharmaindustrie auf Medizin und Psychiatrie ist enorm. Lobbyismus in der ärztlichen Praxis ist alltäglich und durchdringt sämtliche Bereiche. Werbung für meist neue und teure, aber nicht bessere Medikamente ersetzt seriöse unabhängige Information. Honorare für Anwendungsbeobachtungen, massiv überhöhte Referentenhonorare, bezahlte Fortbildungs- und Reisekosten sowie Essenseinladungen beeinflussen ärztliches Verschreibungsverhalten.(1) Dies reicht bis zur Verschreibung von teureren scheininnovativen Produkten, die Patienten und Patientinnen nicht mehr nutzen als das bewährte Vorgängerpräparat - manchmal sogar schaden. Hinzu kommt die Ausweitung psychiatrischer Diagnosen, um den Markt für Arzneimittel auszudehnen. Die Verflechtungen zwischen Psychiatrie und Arzneimittelindustrie bedrohen die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Psychiatrie als Institution und als Wissenschaft.

Die Verordnung von Medikamenten gegen psychische Beeinträchtigungen und Beschwerden hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Der Anstieg verschreibungspflichtiger Medikamente ist zunächst auf die Ausweitung der Grenzen gut bekannter Störungen wie der Depression oder Psychose zurückzuführen. Ein weiterer Faktor ist die starke Bewerbung von weniger bekannten Störungen wie der Panikstörung und der sozialen Phobie. Schließlich drang die Medikamentenbehandlung zunehmend in Bereiche wie Substanzmittelmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen vor, in denen zuvor eine solche als nicht indiziert galt.

Dabei zeigt sich: Psychiatrie und pharmazeutische Industrie sind eine massive Verbindung eingegangen. Die Pharmaindustrie übt ihren Einfluss auf vielen Ebenen aus.

Einfluss durch Pharmareferenten

Jedes Jahr besuchen über 15.000 Pharmavertreter und -vertreterinnen rund 20 Mio. Mal Arztpraxen und Krankenhäuser. Sie bewerben scheininnovative Arzneimittel ohne Beleg für einen Zusatznutzen durch Scheininformation, Geschenke, Muster oder Anwendungsbeobachtungen. Lehnen Psychiater den Empfang von Pharmareferenten ab, so wird oftmals versucht, andere Teammitglieder zur Annahme von Geschenken zu bewegen. Die Überreichung kleiner Geschenke wie Becher, Kugelschreiber, Bücher und Terminkalender ist üblich. Firmenlogos von Pharmaunternehmen zieren die Praxen vieler Psychiater und finden sich überall in psychiatrischen Krankenhäusern und auf den Stationen. Die Folge ist eine nachhaltige Beeinflussung des ärztlichen Verordnungsverhaltens.

Von den knapp 1.600 neuen chemischen Stoffen, die zwischen 1974 und 2004 weltweit auf den Markt kamen, boten nur zehn Prozent einen therapeutischen klinischen Fortschritt, bei weiteren 15 Prozent war dies vielleicht der Fall, die restlichen 75 Prozent waren im besten Fall nutzlose, überteuerte Scheininnovationen.(2) Im Gegensatz zu echten Innovationen, die wirklich einen therapeutischen Fortschritt für Patientinnen und Patienten bringen, sind Schein- oder Pseudoinnovationen nicht besser als die Vorgängerpräparate. Sie haben vielfach keinen Nutzen, kosten jedoch das Vielfache - und das zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Einfluss auf ärztliche Fortbildungen ...

Viele ärztliche Fortbildungsveranstaltungen und Kongresse erhalten beträchtliche Zuwendungen von kommerzieller Seite. Pharmaunternehmen sponsern nach Schätzung von MEZIS ca. 80 Prozent der ärztlichen Fortbildungen. Dadurch sorgen sie für die »richtigen« Themen. Die Veranstalter bezahlen Vortragende oft mit überzogenen Honoraren und bestücken sie gleich noch mit den »richtigen« Präsentationen. Das Verschreibungsverhalten der Ärzte und Ärztinnen wird durch die Teilnahme an industriegesponserten Veranstaltungen beeinflusst.

... auf medizinische Studien

Außerdem üben Pharmaunternehmen Einfluss auf alle Phasen medizinischer Studien aus: Studien, die im Auftrag der pharmazeutischen Industrie durchgeführt werden, werden oft gar nicht oder nicht vollständig veröffentlicht. Führt eine Pharmafirma eine Studie selbst durch, muss sie diese zwar in der Datenbank der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder der amerikanischen Zulassungsbehörde U.S. Food and Drug Administration (FDA) melden.(3) Jedoch gilt dies nicht für Studien, die eine Contract Research Organisation (CRO) durchführt. Tatsächlich lagern Pharmaunternehmen viele Studien gezielt in CROs aus, die ihren Sitz oft in Schwellenländern haben. Das macht es insgesamt schwierig bis unmöglich, diese Studien aufzufinden.

Ein besonders gravierendes Problem sind außerdem die sogenannten Anwendungsbeobachtungen (AWBs), die Pharmafirmen durchführen. Hierbei werden finanzielle Anreize gesetzt, um eine Ärztin oder einen Arzt zu stimulieren, ein bestimmtes Medikament zu verschreiben. Meist stehen Entlohnung und Arbeitsaufwand in keinem angemessenen Verhältnis. Im Durchschnitt werden 200 Euro pro Patientin oder Patient gezahlt. Die Ärztin oder der Arzt erstellt offiziell einen Bericht, der dann in die Auswertung der Anwendungsbeobachtung einfließt. Fakt ist aber, dass der Bericht meist von der Pharmafirma vorgefertigt ist und dass Anwendungsbeobachtungen häufig nicht ausgewertet werden. Auch erhalten die betroffenen Patientinnen und Patienten keine Information darüber, dass sie Teil einer Anwendungsbeobachtung sind. Anwendungsbeobachtungen sind somit in der Regel Marketinginstrumente zur Erhöhung der Umsätze bestimmter (meist hochpreisiger) Medikamente, aber keine Studien mit wissenschaftlicher Aussagekraft. Der Erkenntnisgewinn bezüglich des Nutzens eines Medikaments ist meist gering.

... auf Behandlungsleitlinien

Ärzte benötigen Leitlinien, um ihre Patienten nach der besten wissenschaftlichen Evidenz zu behandeln. Daher dürfen diese nicht von den kommerziellen Motiven der Arzneimittelfirmen beeinflusst werden. Doch leider ist oft das Gegenteil der Fall: Ärztliche Autoren und Autorinnen sind nicht selten durch Beraterverträge, Vortragshonorare und industriefinanzierte Studien mit der Industrie verflochten. Mit anderen Worten, sie haben bedeutende Interessenskonflikte. Die Auswirkungen sind zum Schaden der Patienten und Patientinnen.

Fakt ist: Lobbyismus zeigt Wirkung

Nachforschungen dokumentieren einen Zusammenhang zwischen der Annahme von Angeboten der Pharmaindustrie und der Verschreibung teurer Originalpräparate.(4) Dennoch leugnet ein Großteil der mit der Pharmaindustrie kooperierenden Ärzteschaft eine Beeinflussung. Nur sechs Prozent der Ärzte und Ärztinnen empfinden sich selbst als beeinflusst, 21 Prozent halten allerdings ihre Kollegen für beeinflusst.(5) Für sich selbst geben sie an, unabhängige Entscheidungen zu treffen.(6)

Tatsächlich zeigen die beschriebenen Werbemaßnahmen und der alltägliche Lobbyismus, der die Grenzen zwischen Werbung und Information mehr und mehr verschwimmen lässt, ihre Wirkung und zahlen sich für die Industrie in barer Münze aus: Sie sorgen dafür, dass Pseudoinnovationen ohne therapeutischen Fortschritt verordnet werden. Claudill und Kollegen (1996) zeigen auf, dass der Gebrauch von durch Pharmareferenten zur Verfügung gestellten »Informationen« zu deutlich erhöhten Verschreibungskosten führt.(7) All dies ist lohnenswert für die Pharmafirmen, die schließlich als Wirtschaftsunternehmen agieren und deren primäres Interesse Gewinnmaximierung und nicht das Wohl der Patienten und Patientinnen ist.

MEZIS setzt dagegen

Doch es gibt andere Wege, wie die Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte MEZIS e.V. - »Mein Essen zahl ich selbst« zeigt. Als Vorbild und Inspiration diente die US-Bewegung »No free lunch«. Ziel ist der Aufbau und die Ausweitung eines Netzwerkes von Ärztinnen und Ärzten, deren primäres Interesse dem Patientenwohl gilt. Die Mehrheit der Mitglieder stammt aus Deutschland, aber es zählen auch Ärzte aus Österreich, der Schweiz, Belgien, Luxemburg, Bangladesch, Indonesien und Indien zu MEZIS. Im März 2019 verzeichnet die Initiative über 1.000 aktive und Solidarmitglieder.

MEZIS engagiert sich gegen die allgegenwärtigen Beeinflussungen durch die Pharmaindustrie und setzt sich für Transparenz bei Zuwendungen im Gesundheitswesen ein. Doch Transparenz und Offenlegen von Interessenkonflikten sind nur der erste wichtige Schritt. Interessenkonflikte sind zu bekämpfen. Information und Werbung müssen klar unterschieden werden. Eine wichtige Forderung in diesem Zusammenhang ist: Wer für einen Hersteller arbeitet, kann nicht dessen Produkte in einer Leitlinie bewerten.

MEZIS fordert ein klares Verbot von Beeinflussungen und Bestechlichkeit im ärztlichen Berufsrecht und eine unabhängige, nur am Patientenwohl orientierte Arzneimittelverordnung. Um diese zu gewährleisten, sensibilisiert MEZIS ärztliche Kollegen und Medizinstudierende: Wer sich Kulis, Essen, Studien, Reisespesen und Anwendungsbeobachtungen finanzieren lässt, wird in seinem Verschreibungsverhalten beeinflussbar. MEZIS empfiehlt den ärztlichen Kollegen und Kolleginnen, auf Besuche von Pharmareferenten sowie die Annahme von Arzneimittelmustern und Geschenken zu verzichten und sich industrieunabhängig fortzubilden. Herstellerunabhängige Informationsquellen zu Arzneimitteln sind verfügbar.

Im Frühjahr 2018 hat MEZIS zum Aktionsbündnis »Ärztliche Fortbildung 2020« aufgerufen. Dieses hat zum Ziel, ärztliche Fortbildung wieder als ureigene ärztliche Aufgabe anzusiedeln, die im Sinne einer guten Patientenversorgung unabhängig von den Interessen der Industrie stattfinden muss. Das Bündnis führt bereits vorhandene Initiativen zusammen und entwickelt daraus übergreifende Konzepte, Qualitätsmerkmale und Organisationsstrukturen. Der Aufruf richtet sich an Berufsverbände, Fachgesellschaften und Organe der ärztlichen Selbstverwaltung, die MEZIS als Partner für das Bündnis gewinnen will. Erste wichtige Partner im Bereich industrieunabhängiger Fortbildung haben sich bereits angeschlossen, darunter die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Das Aktionsbündnis nahm im Frühjahr 2018 seine Arbeit auf. Seit 2019 ist das Portal cme-sponsorfrei.de online. Es möchte interessierten Ärzten den Zugang zu hochwertiger und neutraler Fortbildung erleichtern und ein umfassendes Informationswerkzeug zur Organisation und Durchführung pharmafreier Fortbildungen zur Verfügung stellen.

Fazit

Die Eindämmung des ungebremsten Lobbyismus ist notwendig: nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern vor allem im Interesse des Allgemeinwohls. Glücklicherweise wächst das Unbehagen in der Gemeinschaft der Heilberufe über das Ausmaß und die Folgen des Einflusses der Arzneimittelunternehmen. Es ist Zeit für Psychiaterinnen und Psychiater, über ihre Beziehungen zur pharmazeutischen Industrie nachzudenken.

Sabine Hensold, Referentin von MEZIS e.V.


Literatur

1) Adair, Richard F.; Holmgren, Leah R. (2005) Do drug samples influence resident prescribing behavior? A randomized trial. In: The American Journal of Medicine, 118(8), 881-884

2) Chirac, Pierre; Torreele, Els (2006) Global framework on essential health R&D. In: Lancet, 367(9522), 1560-1561

3) https://clinicaltrials.gov und http://www.who.int/ictrp/en
(letzter Zugriff: 08.05.2019)

4) Fugh-Berman, Adriane; Ahari, Shahram (2007) Following the Script: How Drug Reps Make Friends and Influence Doctors. In: PLOS Medicine, 4(4), e150. Verfügbar unter
www.journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.0040150
(letzter Zugriff: 08.05.2019)

5) Lieb, Klaus; Brandtönies, Simone (2010) Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern. In: Deutsches Ärzteblatt, 107(22), 392-328. Verfügbar unter www.aerzteblatt.de/archiv/76324
(letzter Zugriff: 08.05.2019)

6) Römer, Jörg (2016) Transparenzkodex: Darum haben Ärzte Geld von der Pharmaindustrie genommen. In: Spiegel Online vom 05.08.2016. Verfügbar unter
www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/transparenzkodex-das-sagen-aerzte-zu-den-veroeffentlichungen-a-1105045.html
(letzter Zugriff: 08.05.2019)

7) Caudill, T. Shawn; Johnson, Mitzi S.; Rich, Eugene C.; McKinney, W. Paul (1996) Physicians, pharmaceutical sales representatives, and the cost of prescribing. In: Archives of Family Medicine, 5, 201-206

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 165 - Heft 03/19, 2019, Seite 17 - 19
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2019

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