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STELLUNGNAHME/005: Neuregelung der Sicherungsverwahrung ohne medizinischen Sachverstand (idw)


Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) - 26.06.2012

Neuregelung der Sicherungsverwahrung ohne medizinischen Sachverstand



Anlässlich der morgigen Anhörung des Rechtsausschusses im Bundestag am 27.06.12 erklärt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN):

Vor dem Hintergrund des Prozesses gegen Anders Brevik wird auch in Deutschland intensiv über die Schuldfähigkeit von Straftätern und deren Unterbringung in der forensischen Psychiatrie diskutiert. Morgen steht der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand. Der Rechtsausschuss hat nun sehr kurzfristig eine Expertenanhörung zu diesem Thema beschlossen. Die Liste der Sachverständigen besteht aus Kriminologen und Richtern, jedoch ist kein Psychiater bzw. forensischer Psychiater berücksichtigt.

"Wir können nicht nachvollziehen, dass der Gesetzgeber bei diesem die Bevölkerung bewegenden Thema jenen medizinischen Sachverstand, der bei der späteren Umsetzung des Gesetzes gebraucht wird, im Verfahren ausschließt" erklärt Prof. Peter Falkai, Präsident der DGPPN. "In Stellungnahmen und Gesprächen hat die DGPPN insbesondere die Politiker der Regierungskoaltion auf die äußerst problematische deutsche Übersetzung von "unsound mind", des zentralen Begriffs der Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) hingewiesen. Die Neuregelung im Umgang mit hochgefährlichen Straftätern hat durch die problematische Begriffsverwendung "psychische Störung" erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Patientengruppe von Menschen mit psychischen Störungen. Damit findet erneut eine Diskriminierung psychisch Kranker statt."


Prof. Dr. med. Peter Falkai
Präsident der DGPPN
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
Reinhardtstraße 14
10117 Berlin
E-Mail: sekretariat@dgppn.de

Weitere Informationen
finden sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde unter
www.dgppn.de

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN):
Wurde 1842 gegründet und zählt heute mehr als 6.300 Mitglieder. Sie ist einer der größten und ältesten wissenschaftliche Vereinigung von Ärzten und Wissenschaftlern in Deutschland. Getragen von der Vision einer Gesellschaft, in der Menschen mit psychischen Erkrankungen unbehelligt von Vorurteilen leben können und die für sie ihnen notwendige Hilfe erhalten.


Hintergrund

Die Europäische Menschenrechtskommission (EMRK) kennt den Begriff des "unsound mind" als eine Voraussetzung einer Freiheitsentziehung. In den Deutschen Gesetzestexten (ThUG § 1 (1), §9 (2), sowie auch In den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts) wurde dieser Begriff mit "psychische Störung" übersetzt und dieses Kriterium als Voraussetzung einer Unterbringung in oder Verlängerung der Sicherungsverwahrung für Altfälle vorgeben. Im Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) ist jedoch der Begriff der "psychischen Störung" weiter als in den Eingangsmerkmalen der §§ 20 und 21 StGB gefasst und unzureichend definiert. Der Begriff der psychischen Störung jedoch kann nur durch die Psychiatrie und ausschließlich auf dem Boden der international gültigen operationalisierten Diagnosesysteme ICD 10 bzw. DSM-IV-TR (APA 2000) und der Vorgaben der EMRK eingegrenzt werden. In Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung suggeriert dieser Begriff, dass psychische Störungen grundsätzlich mit erheblicher Gefährlichkeit verbunden sind. Dies trifft gerade für fast alle Patienten, die die Kriterien einer solchen psychischen Störung erfüllen, nicht zu.

Außerdem umfasst der Begriff der "psychischen Störung" vielfältige und mit unterschiedlichsten Auswirkungen auf die Betroffenen verbundene Störungen von z.B. der ICD-10 Ziffer F00: Demenz bei Alzheimer Erkrankung bis hin zu F99: Nicht näher bezeichnete psychische Störung. Dabei ist der ganz überwiegende Teil dieser psychischen Störungen" in aller Regel ohne jede forensisch-psychiatrische Relevanz. Dadurch wird das im ThUG verwandte Eingangsmerkmal so unscharf, dass angesichts der hohen Prävalenzraten für z.B. depressive Störungen aktuell 3 Millionen Menschen in Deutschland von diesem unscharfen Eingangsmerkmal erfasst würden. An einem bestimmten Zeitpunkt erfüllen etwa 10-20% der Bevölkerung die Kriterien einer psychischen Störung. Da die Prävalenzzahlen von Patientinnen und Patienten mit psychischen Störungen in Haftpopulationen noch weitaus höher liegen, würden letztlich über 80 bis 90% der Strafgefangenen von diesem Kriterium erfasst. Diese Zahlen sollten deutlich machen, dass eine entweder quantifizierende oder anderweitig präzisierende Formulierung erforderlich ist.

Die DGPPN hat seit 2011 in mehreren Stellungnahmen auf die Problematik hingewiesen. Die Stellungnahmen sind zu finden unter:
www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution805

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
Nicole Siller, 26.06.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2012