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ARTIKEL/395: Interview mit Heinz Mölders - Gestaltung von Verständigungsprozessen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Gestaltung von Verständigungsprozessen"
Das niederländische Modell der 'Multiloog-Treffen'

Interview mit Heinz Mölders von Margit Weichold und Michaela Hoffmann


Seit über zehn Jahren gibt es in den Niederlanden in vielen Städten psychiatrieübergreifende 'Multiloog-Treffen'. Auf der DGSP-Jahrestagung 2009 in Hamburg stellte Heinz Mölders Idee und Praxis des Projektes vor. SP hat nachgefragt.

SP: Was können wir uns unter Multiloog vorstellen? Ist es etwas Ähnliches wie Trialog?

Heinz Mölders: Multiloog (1) ist eine spezifische Art der Gestaltung von Verständigungsprozessen und steht für "Vielen Stimmen soll Gehör verschafft werden". "Viele Stimmen" steht für Stimmen, die innerhalb einer Person sprechen, aber es sollen sich auch Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen äußern: Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige, Professionelle, aber auch Menschen aus anderen Gruppen und Berufen wie Juristen, Politiker, Gewerkschafter, Polizisten usw. Wir besprechen und erforschen auf diesen Treffen auch Dinge, die uns im Alltag beschäftigen und mit denen wir uns tagtäglich herumschlagen, z.B. religiöse Fragen, Umgang mit Essen und Trinken, mit heftigen Gefühlen, mit Stresssituationen und dem Gleichgewicht zwischen Stress und Entspannung, Chaos in der Wohnung, Umgang mit finanziellen Problemen, mit fehlender Arbeit usw. Gerade diese breite Themenpalette hilft uns, eine Verbindung zwischen allen Beteiligten herzustellen und damit zum Beispiel auch den Inklusionsgedanken in die Praxis zu bringen. Am allerwichtigsten ist aber die Herstellung eines vertrauensvollen Rahmens, der es jedem ermöglicht, über die ihm wichtigen Fragen aus dem Alltagsleben zu sprechen. Dabei soll das versteckte Wissen aller Teilnehmenden an Multiloog-Gruppen hervorgeholt werden.

Multiloog-Treffen haben viele Gemeinsamkeiten mit dem in Deutschland praktizierten Trialog bzw. den etablierten Psychoseseminaren. Die Kommunikation ist offen, und man begegnet sich als "Experten". Zentral ist dabei der Begriff der (erweiterten oder eingeschränkten) "Handlungsfähigkeit", der eine Kategorie der "kritischen Psychologie" ist - an der wir uns orientieren - und der die Funktion hat, komplexe Sachverhalte für das Individuum greifbarer zu machen und damit auch die Eingebundenheit in die herrschenden Machtverhältnisse zu klären sowie die Verfügungsmöglichkeit über das eigene Leben zu erweitern.


Bild von Heinz Mölders - © Heinz Mölders

© Heinz Mölders


Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Multiloog-Ansatz und den Psychoseseminaren scheint mir zu sein, dass Letztere nur eine geringe theoretische Verortung haben und damit die Gefahr verbunden ist, dass sie nicht aus dem medizinisch-psychiatrischen Denken und Handeln herauskommen. Denn bei fehlenden alternativen Begriffen ist die Gefahr groß, alle menschlichen Erfahrungen in medizinischen Kategorien zu erfassen. Der Begriff "Psychose" ist ja ein medizinischer Begriff und bedeutet Verhaftung im medizinischen Denken bzw. ist als eine Vorgabe und Orientierungsrichtung zu sehen. Es fehlt bei den Psychoseseminaren, soweit mir bekannt ist, die Analyse der Eingebundenheit der menschlichen Erfahrungen in herrschende Machtverhältnisse. Letztendlich geht es ja um Fragen wie: Wie gehen wir miteinander um und unter welchen Bedingungen? Wo und wie lässt sich Gegenwehr, Solidarität, Hilfe und Unterstützung entwickeln?

SP: Seit wann gibt es Multiloog, und wie ist er entstanden?

Heinz Mölders: Seit Anfang der Neunzigerjahre habe ich an einem Konzept für Multiloog gearbeitet. 1997 zeigten sich erste Perspektiven für eine Finanzierung und damit auch für einen Start. Zusammen mit einem Kollegen habe ich zuerst mit einer "geschlossenen Gruppe" mit fünfzehn Teilnehmerinnen und Teilnehmern (fünf Psychiatrie-Erfahrene, fünf Angehörige und fünf Professionelle) angefangen. Kurz danach haben wir in einem Nachbarschaftshaus in Amsterdam-West ein offenes Angebot organisiert.


Bild von Heinz Mölders - © Heinz Mölders

© Heinz Mölders


Multiloog ist aus einer intensiven Auseinandersetzung mit der "kritischen Psychologie" (hervorgegangen aus der 68er-Studentenbewegung und dem persönlichen Engagement von Klaus Holzkamp und anderen Wissenschaftlern an der Freien Universität Berlin) entstanden und getragen von dem Bedürfnis, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis bringen zu wollen. Dieser Ansatz ist für uns Moderatoren vor allem Handlungsorientierung hinsichtlich der Organisation und Gestaltung des Projektes und der Gesprächsführung. Sie ist eine wichtige Orientierungshilfe dafür, wie wir Fragen stellen, für Evaluations- und Forschungsaufgaben, sie situiert Menschen in ihrem Alltagsleben und begreift sie als aktive und handelnde Wesen, die Einfluss nehmen können auf ihre Umgebung zur Gestaltung und Änderung ihres persönlichen Lebens, und stellt Zusammenhänge her zwischen subjektiver Befindlichkeit und sozialem bzw. gesellschaftlichem Kontext.

Eine wichtige Ermutigung und Inspirationsquelle war auch der Weltkongress für Soziale Psychiatrie 1994 in Hamburg: "Abschied von Babylon - Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie". Allerdings wurde mir dort nicht ganz klar, warum man eine Verständigung über Psychiatrie und psychiatrische Problematik auf drei Gruppen beschränken soll? Wäre es da nicht logischer, neben diesen drei Gruppen Menschen aus allen möglichen Positionen wie Politiker, Juristen, Gewerkschafter, Beamte, Polizisten usw. einzubeziehen, also eben einen Multiloog zu organisieren?

Aber es ging uns nicht nur um einen "breiteren" Austausch bzw. darum, Menschen aus vielen verschiedenen Positionen und mit verschiedenen Hintergründen zusammenzubringen, sondern im Wesentlichen um eine spezifische Gestaltung der Multiloog-Treffen und der Gesprächsführung.


Bild von Heinz Mölders - © Heinz Mölders

© Heinz Mölders


SP: Was macht ihr denn genau? Wie oft trefft ihr euch und mit wem? Welche Ziele habt ihr?

Heinz Mölders: Nach unseren ersten offenen Treffen in Amsterdam-West Ende der Neunzigerjahre und landesweiten Publikationen bekamen wir regen Zuspruch. Zu unseren Treffen kamen viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer und potenzielle Organisatoren aus den gesamten Niederlanden. In den darauf folgenden Jahren haben wir in vielen Städten der Niederlande Institutionen bei der Organisation von Multiloog-Treffen mit Beratung sowie mit Training und Fortbildung von Moderatoren (insgesamt waren wir in etwa 25 Orten der Niederlande aktiv) unterstützt. Hauptsächlich wegen finanziell-organisatorischer Engpässe und zunehmenden Sparmaßnahmen sind heute die Entwicklungen in den Niederlanden rückläufig.

Die Teilnehmenden unserer Multiloog-Treffen sind etwa zur Hälfte Menschen mit Erfahrungen in der Psychiatrie, dazu kommen Angehörige und Professionelle (in Ausbildung) aus den verschiedenen Bereichen der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung, aber auch aus anderen, angrenzenden Dienstleistungsbereichen wie Obdachlosenhilfe oder kirchlichen Institutionen. Und schließlich kommen zu den Multiloog-Treffen Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen, wie Behördenmitarbeiter, Beamte, Politiker, Wijkagenten (Polizisten) usw.

Unser Ziel ist die Erweiterung der Handlungsfähigkeit in der alltäglichen Lebensführung von allen Beteiligten. Unser Angebot ist auch für die Stadt(teil)verwaltung von Bedeutung; Ziel ist, Psychiatrie-Erfahrene, Obdachlose und Drogenabhängige zu erreichen sowie Professionelle, d.h. Dienstleister in diesen Bereichen, einzubinden.

SP: Und welche Rolle spielt ihr als Moderatoren?

Heinz Mölders: In den Multiloog-Treffen ist vorrangige Aufgabe der Moderatoren, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen, damit ein Gefühl der Sicherheit (Vertrauen und Respekt) entsteht und es möglich wird, über die eigenen Erfahrungen reden zu können. Wir als Moderatoren möchten die Teilnehmer darin unterstützen, sich ungehindert einzubringen. Das heißt, wir vermeiden Urteile, Interpretationen und auch Ratschläge oder Tipps. Wir unterstützen die Teilnehmenden, ihre Erlebnisse und Erfahrungen so konkret wie möglich im sozialen Kontext, im Kontext ihres Alltagslebens zu beschreiben. Dabei ist der Perspektivenwechsel für uns auch immer wieder ein wichtiges Arbeitsprinzip, d.h., nicht nur stecken zu bleiben in der Opferrolle, sondern insbesondere auch unsere eigenen blinden Flecken sehen zu lernen, uns auf die Schliche zu kommen und uns gegenseitig zu sensibilisieren, wie wir miteinander umgehen, also die Frage: Was tue ich mit dem anderen? Und das alles im Zusammenhang mit den Umständen und den Bedingungen zu sehen, mit denen man zu tun hat, bzw. den Einflüssen, denen man ausgesetzt ist.

Wenn zum Beispiel von Teilnehmenden problematische Erfahrungen mit den Eltern eingebracht werden, bitten wir die anwesenden Eltern, ihre Erfahrungen aus ihrer Sicht zu schildern. Ähnlich verlaufen die Diskussionen hinsichtlich der unterschiedlichen Perspektiven von Klienten, Professionellen, Angehörigen usw. So versuchen wir, einer Fixierung auf die Opferperspektive vorzubeugen und klarzumachen, dass auch das Handeln der jeweils anderen nicht willkürlich, sondern begründet ist und bestimmten Einschränkungen und Zwängen unterliegt.

Schließlich beachten wir auch eine Reihe von 'normalen' Umgangsformen, wie etwa den anderen ausreden zu lassen, ihm nichts 'in den Mund zu legen', vermeiden, einander Ratschläge zu erteilen, die Profirolle einnehmen und Spannungen lösen zu wollen (z.B. indem man versucht, Schweigesituationen zu durchbrechen, weil man es nicht mehr aushält), in abstrakten, für andere unverständlichen Begriffen zu reden.


Bild von Heinz Mölders - © Heinz Mölders

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SP: Im Multiloog scheinen die persönlichen Erfahrungen im Alltagsleben sehr wichtig zu sein, nicht das Thema "Krankheit"...

Heinz Mölders: Wir unterstützen die Teilnehmenden, die für sie wichtigen Themen aus ihrem Alltag einzubringen. Das können durchaus positive und ermutigende Geschichten, aber auch Probleme sein. Es können zwar psychische oder psychiatrische Probleme angesprochen werden - viele tun das auch, besonders wenn sie als Psychiatrie-Erfahrene oder Angehörige teilnehmen. Aber wenn wir in diesen Begrifflichkeiten über unsere Probleme reden, geht es uns nicht darum, einander die medizinischen Diagnosen zu erklären, sondern die den Symptomen zugrunde liegenden Erfahrungen im sozialen Kontext miteinander auszutauschen. Was geschieht mit einem selbst, was geschieht im sozialen, alltäglichen Umfeld, was ist in einem vorgegangen, beispielsweise wenn man in eine Krise kommt, heftige Ängste erfährt? Und so weiter. Jeder hat seine spezifischen Erfahrungen und seinen eigenen Sprachgebrauch. Wir Moderatoren regen dann über unsere Fragen die Teilnehmenden an, den Sachverhalt zu konkretisieren und die eingebrachten Erfahrungen in ihrem Lebensumfeld zu verorten, um sie einem besseren Verständnis zuzuführen.

SP: Ihr macht auch "Kunst-Multiloog"...

Heinz Mölders: Der Kunst-Multiloog ist eine Erweiterung der verbal orientierten Arbeitsweise mit anderen Ausdrucksformen, d.h., dort, wo die Sprache zu kurz greift, setzen andere Ausdrucksformen wie Malen/Zeichnen, Musikmachen, Bewegung, Lesen/Schreiben ein. Wir organisieren Treffen, in denen wir mit verschiedenen kreativen Materialien arbeiten, z.B. in speziellen Workshops, aber auch in regulären Treffen (in den letzten Jahren in den Sommermonaten in Amsterdam-West). Wir tauschen uns dann über die an Ort und Stelle hergestellten Arbeiten und über die damit verbundenen Erfahrungen aus. Die Treffen sind meistens sehr gut besucht, die wesentlich lockerere Stimmung erleichtert die Verständigung. In dieser Art der Arbeit steckt ein großes Hilfepotenzial, und wir könnten mehr Treffen anbieten, als wir es zurzeit tun. Leider ist es nicht ganz einfach, hierfür die entsprechenden finanziellen und organisatorischen Mittel zu erkämpfen.

SP: Wie reagiert die Umwelt? Versteht ihr eurer Projekt auch als Antistigmaarbeit? Wie sieht eure Öffentlichkeitsarbeit aus?

Heinz Mölders: Nach einer ruhigen Startperiode bekamen wir in der Folgezeit unseres nunmehr vierzehnjährigen Bestehens immer mehr Zuspruch (2), der in der Berichterstattung über unsere Aktivitäten sowohl in der lokalen und regionalen Presse ("Amsterdams Stadsblad", "Het Parool"), in der landesweiten Fachpresse (u.a. "Deviant", "Psy", "Relatief", "Ypsilon-Nieuws ", "De Psychiater") wie auch in diversen Buchpublikationen (u.a. Kal 2001) und Forschungsberichten (u.a. van Hoof et al. 2004, van Weeghel 2005) zum Ausdruck kam.

Wir wurden im Laufe der Jahre aber auch wahrgenommen von relevanten Kommissionen (wie z.B. der städtischen 'Regiocommissie GGZ' (2002) oder etwa von einer vom Gesundheitsministerium eingesetzten 'Commissie Task Force Vermaatschappelijking Geestelijke Gezondheidszorg' (2002) im Rahmen der 'Vergesellschaftung der Psychiatrie'. In diversen Publikationen wird Multiloog als ein Projekt bewertet, das einen wichtigen Beitrag zu "mehr Verständigung zwischen verschiedenen Gruppen in der Psychiatrie" bzw. mehr Verständnis in der Gesellschaft insgesamt über "psychische Behinderungen" leistet. Auch im Rahmen von "psychiatrischer Rehabilitation" wird Multiloog als ein Baustein gesehen bzw. explizit als "Antistigmaprojekt" (van Weeghel 2004/2006) genannt. Schließlich spielen wir eine wichtige Rolle im Rahmen der Praxis von Kwartiermaken (Kal 2001/2010). (3)

Um auf unser Angebot hinzuweisen, schalten wir zusätzlich zu dieser Öffentlichkeitsarbeit Anzeigen in lokalen und städtischen Zeitungen und Zeitschriften, präsentieren uns auf diversen Veranstaltungen; zusätzlich geben unsere ehrenamtlichen, gegen Aufwandsentschädigung arbeitenden "Botschafter für Multiloog" persönlich Informationen sowohl an diverse Institutionen als auch potenzielle Interessenten. Die wichtigste Arbeit allerdings ist das persönliche Gespräch, in dem wir sichtbar machen, wer wir sind und was wir zu bieten haben.


Bild von Heinz Mölders - © Heinz Mölders

© Heinz Mölders


SP: Gibt es "brennende" Themen? Wie geht ihr beispielsweise mit der Frage der Medikamentenbehandlung um?

Heinz Mölders: Was die Frage der Medikamentenbehandlung betrifft, ist die Unzufriedenheit mit dieser wegen der Nebenwirkungen oft groß, aber auch weil den Betroffenen keine Alternativen zur Verfügung zu stehen scheinen und ihnen diese in der regulären Behandlungspraxis nicht oder viel zu wenig angeboten werden. Wir tauschen uns darüber aus, was man in den jeweiligen Situationen machen kann und welche Alternativen es gibt, die Probleme zu bewältigen. Denn im Wesentlichen geht es uns darum, zu erforschen, was in Krisensituationen hilft und was nicht, und die Medikamente sind nur ein Aspekt dieses Suchprozesses.

Andere Themen, die in diesem Zusammenhang häufig erörtert werden, sind: die Umgebung (unterstützend oder behindernd), Faktoren der Risikominimierung beim Absetzen von Psychopharmaka, Selbsthilfe, Stärkung der eigenen Kräfte, Erweiterung der Handlungsfähigkeit, institutionelle Alternativen beim Umgang mit Krisen.

SP: Wie wird Multiloog organisiert und finanziert?

Heinz Mölders: Multiloog wird organisiert vom INCA Projectbureau Amsterdam - mit Unterstützung der Stiftung Integratie, Participatie en Communicatie (IPC) -, und es wird finanziert (dazu müssen jährlich immer wieder aufs Neue Anträge gestellt, zwischenzeitlich Berichte verfasst und die entsprechenden Formalia beachtet werden) von der zentralen Stadtverwaltung und den Stadtteilverwaltungen im Rahmen des Gesetzes zur gesellschaftlichen Unterstützung (WMO). Außerdem können wir Gelder bei diversen Fonds beantragen, allerdings ist dies zeitlich und administrativ mühsam.

SP: Gibt es ähnliche Initiativen in anderen Ländern? Zu wem habt ihr Kontakt?

Heinz Mölders: In den Anfangsjahren hatten wir Kontakte nach Großbritannien, Dänemark und Deutschland; die Kontakte in den beiden erstgenannten Ländern konnten wir aber aus zeitlichen Gründen nicht weiter fortsetzen. Heute haben wir noch aktiven Kontakt nach Deutschland. Dort nehmen wir an Kongressen zum Thema teil, besuchen Psychoseseminare, waren auf dem Treffen der Psychoseseminare in Schwerin (2000) vertreten und pflegen Arbeitskontakte mit Organisationen und Personen, beispielsweise in Berlin, Lüneburg, Aurich und Neumünster.

SP: Welche Erfolge und Probleme seht ihr?

Heinz Mölders: Schon direkt zu Anfang hatten wir mit unserem Ansatz eine positive Resonanz; die Multiloog-Treffen sprechen immer noch viele Menschen an und holen sie aus der Isolation. Nicht nur Psychiatrie-Erfahrene sind begeistert, auch Angehörige, Professionelle und Menschen aus diversen anderen Positionen betonen die besondere Art des Sich-angenommen-Fühlens, der Offenheit und Vertrautheit der Gespräche. Auch wird von den Teilnehmenden die Tatsache positiv hervorgehoben, dass auch gewöhnliche, oft scheinbar weniger wichtige Alltagserfahrungen eingebracht und miteinander besprochen werden können, Erfahrungen, die für den Einzelnen zwar sehr wichtig sind im Alltag, aber sehr häufig übergangen und bagatellisiert werden.

Neben diesen inhaltlichen Ergebnissen werten wir es als Erfolg, dass es uns gelungen ist, seit 1998 jedes Jahr - auch wenn es oft nicht ausreicht und mit viel 'uneigentlicher' Arbeit verbunden ist - finanzielle Unterstützung zu bekommen und von den verschiedenen Institutionen, z.B. der Stadt Amsterdam, aber auch landesweit, eine entsprechende Wertschätzung zu erfahren.

Doch es gibt auch genug Probleme. In einer leistungsbetonten, auf Konkurrenz zielenden Gesellschaft, die auf das Individuum fixiert ist und sich im Wesentlichen an Angeboten gesellschaftlicher Institutionen wie Gesundheitswesen, psychosozialen Versorgungseinrichtungen und Psychiatrie orientiert, ist es nicht leicht, unsere Denk- und Herangehensweise zu vermitteln. Zu oft wird unser Gruppenangebot mit einer therapeutischen Maßnahme in Verbindung gebracht, die man zwar in Notsituationen aufsucht, von der man ansonsten aber lieber fernbleibt. Ein Teilnehmer spricht hier - anlässlich der Evaluation eines Treffens - für viele andere:

"Beim Nachdenken darüber, warum es mir so schwerfiel, endlich mal zu eurem Multiloog zu kommen, und warum ich jetzt, nachdem ich diese Gespräche miterleben durfte, so beeindruckt und auch begeistert bin, fiel mir mein Aufenthalt in der Psychiatrie vor zwanzig Jahren ein. Damals nahm ich häufig an Gruppengesprächen mit einem therapeutischen Charakter teil, und das war in der Regel etwas, das über meinen Kopf hinweglief und wo ich mich als Person nicht wirklich einbezogen fühlte. Ich bin überrascht, wie weit der Multiloog davon entfernt ist."

Und eine andere Teilnehmerin: "Diese Gruppengespräche helfen mir enorm. Wenn ich hier teilnehme und das, was jemand erzählt, begreife, dann denke ich, ich bin ganz normal, normaler geht es nicht in dieser Situation. Das ruft dann bei mir ein kräftiges Gefühl hervor. Die Profis versuchten, mich verrückt zu reden, aber ich bin es nicht. Das ist im Augenblick meine Kraft. Ich hab es richtig gesehen.".

Heinz Mölders arbeitete zehn Jahre (bis 1971) als Kraftfahrzeugmechaniker/-meister in Sonsbeck (Niederrhein). Er lebt heute in Amsterdam und ist sowohl künstlerisch als auch als Diplom-Psychologe in der eigenen Firma INCA Projectbureau Amsterdam tätig.

Arbeitsschwerpunkt: Entwicklung und Organisation der Multiloog®-Treffen. Er ist Mitbegründer der niederländischen Zeitschrift "Deviant", Zeitschrift zwischen Psychiatrie und Gesellschaft.

Kontakt:
Internet: www.inca-pa.nl
E-Mail: hmolders@net.hcc.nl

Anmerkungen:

(1) Mölders H.: Multilog-Verständigung über (psychisches) Leiden im/am Alltagsleben. In: Blume, J. / Bombosch, J. / Hansen, H. (Hrsg.): Trialog praktisch. Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige und Professionelle gemeinsam auf dem Weg zur demokratischen Psychiatrie. Neumünster: Paranus-Verlag, 2004, S. 117-188.

Siehe auch den Übersichtsartikel: Mölders, H.: The process of developing an improved understanding. Experiences with a communication project on mental suffering. In: Boog, B. / Coenen, H. / Keune, L. (eds.): Action Research: Empowerment and Reflection. Tilburg: Dutch University Press, 2001.

(2) Vollständige Quellenangaben und weitere Publikationen im Internet unter www.inca-pa.nl ('literatuur over Multiloog®').

(3) Kal, D.: Wo das Haus keine Sorge erfährt, findet keine Begegnung statt. In: Soziale Psychiatrie 2/2010, S. 31 ff.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010, Seite 26 - 29
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Heinz Mölders und der
Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2011

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