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THERAPIE/337: Flüchtlingsfrauen in der Beratungspraxis (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 150 - Heft 4/15, Oktober 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Flucht & Asyl
»Sie braucht dringend einen Termin bei Ihnen, spricht aber kein Deutsch«

Von Christiane Caspary


Asyl suchende Frauen in der Beratungspraxis am Beispiel des Sozialpsychiatrischen Dienstes im FrauenTherapieZentrum München.


Viele Frauen mit Fluchthintergrund haben in ihren Heimatländern und auf der Flucht Gewalt erfahren und leiden unter gravierenden psychiatrischen Symptomen wie Depressionen oder Panikattacken. Die Rate für posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist bei Flüchtlingen und Asylbewerbern im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Zehnfache erhöht.(1) Als frauenspezifischer Sozialpsychiatrischer Dienst haben wir in den vergangenen vier Jahren viele Erfahrungen in der Arbeit mit Asyl suchenden Frauen gesammelt. Die wichtigsten Aspekte unserer konzeptionellen Entwicklung sollen hier dargestellt werden.


Der Satz »Sie braucht dringend einen Termin bei Ihnen, spricht aber kein Deutsch«

steht für eine typische Anmeldesituation in unserer Beratungsstelle. Folgende Fragen sind leitend bei der (Weiter-)Entwicklung unseres Konzeptes für Frauen mit Fluchthintergrund: Was ist »anders« in der Beratung von Asyl suchenden Frauen? Wie können wir unser vorhandenes fachliches Wissen nutzen, um diesen Klientinnen mit oft komplexen Hilfebedarfen Zugangswege zu unserem bestehenden Versorgungssystem zu ermöglichen? Welche Kompetenzen können und sollen wir entwickeln? Wie können wir mit den Sprachbarrieren umgehen? Was verstehen wir unter Stabilisierung, und wie können wir vernetzt arbeiten? Welche Zugangsmöglichkeiten gibt es für Behandlung und Therapie? Welche »interkulturelle Haltung« haben wir entwickelt?


Der Weg in unser Gesundheitssystem im Sinne von Beratung, ärztlicher Leistung, Psychotherapie oder Ergotherapie wird Flüchtlingen durch die Beschränkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht leicht gemacht: Es gewährt ein Recht auf Behandlung nur bei akuter Erkrankung. Viele Flüchtlinge leben mit nicht oder nicht ausreichend behandelten psychischen Krankheiten nach manchmal jahrelangem Fluchtweg abgeschottet in Gemeinschaftsunterkünften unter Bedingungen, die gewiss nicht dazu geeignet sind, psychische Befindlichkeiten zu verbessern: Unterbringung in engen Räumen, erzwungenes Nichtstun, fehlende Privatsphäre, langes Warten auf den nächsten bürokratischen Schritt, Angst vor Angriffen durch ausländerfeindliche Gruppen.(2) Kommt es zu psychiatrischen Notfällen, werden Asyl suchende Menschen zum Beispiel aufgrund von Suizidalität oder akuter Psychose in Kliniken eingewiesen und dort behandelt. Die folgende Anbindung an das ambulante System ist oft mit Schwierigkeiten versehen, auch aufgrund von Sprachschwierigkeiten und kultureller Unterschiede.

Wer sind wir?

Im Sozialpsychiatrischen Dienst des FrauenTherapieZentrums (FTZ) arbeiten wir in einem multiprofessionellen Team von sieben Kolleginnen (Psychologin, Sozialpädagoginnen, Psychiaterin auf Honorarbasis, Verwaltung). Unser Angebot richtet sich an Frauen in psychischen Krisen und an Frauen, die in psychiatrischer Behandlung waren oder sind. Komplexe Hilfebedarfe und Gewalterfahrungen kennzeichnen die Lebenslage der Mehrzahl der Klientinnen. Schwerpunkte liegen in der kultursensiblen Betreuung von psychisch kranken Migrantinnen und Frauen mit Kindern. Unsere Rahmenleistungsvereinbarungen beziehen ausdrücklich alle Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen in Beratung und psychiatrische Krisenintervention mit ein. Dass unsere Beratungsstelle mit den Besonderheiten transkultureller Beratung und traumaspezifischer Krisenintervention bereits Erfahrung hatte, war eine gute Ausgangssituation, um ein Konzept für die Beratung von geflüchteten Frauen zu entwickeln.(3)

Der Beratungskontext: niedrigschwellig und breit gefächert

Viele Frauen werden mit dem Hinweis, sie seien psychisch auffällig oder traumatisiert, an unsere Beratungsstelle überwiesen. Typische Beispiele können sein: Eine Frau fällt in der Unterkunft auf, weil sie nur noch auf dem Bett sitzt und weint oder apathisch ist. Oder: Eine Frau leidet unter häuslicher Gewalt oder Übergriffen in der Unterkunft, traut sich aber aus Scham, Unwissenheit und Angst vor den Folgen nicht, eine Anzeige zu erstatten oder eine durch das Personal erstattete Anzeige zu bestätigen. Oder: Eine Frau wird in unregelmäßigen Abständen wegen Hyperventilation und Krampfanfällen in eine Notambulanz gebracht. Dort wird der Befund medizinisch abgeklärt - Diagnose: »Psychogene Krampfanfälle« - Empfehlung muttersprachlicher psychotherapeutischer Behandlung. Wie auch immer der Einzelfall aussieht - unsere Haltung ist: Eine Asyl suchende Frau ist eine Klientin wie jede andere - und sie bringt neben ihrer psychischen Symptomatik aufgrund ihres Fluchthintergrundes noch weitere, meist komplexe Probleme mit. Wir stellen uns auf umfangreiches Case-Management ein, müssen besonderes Augenmerk auf vernetzte Arbeit richten und auf unsere eigene Psychohygiene achten, da die Schicksale der geflüchteten Frauen oft von verheerenden Erfahrungen geprägt sind - wie Bürgerkrieg, Vergewaltigungen, Unterdrückung, Diskriminierung und Ausgrenzung - und eine aktuell oft noch lange ungesicherte Lebenssituation.

Auch bei schweren Traumatisierungen kann psychotherapeutische und fokussierte Arbeit an traumatischen Erinnerungen meist erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnen, da die Lebenssituation der Betroffenen zunächst von großer Instabilität gekennzeichnet ist. Wirklich sicher können sie auch in Deutschland nicht leben, solange die Frage offensteht, ob sie einen dauerhaften Aufenthalt bekommen werden.

Wie ihre konkrete Lebenssituation ist und was eine Klientin braucht, wird im Erstgespräch abgeklärt. Hat sie überhaupt eine Vorstellung, was eine psychiatrische Beratungsstelle macht? Kommt sie 'freiwillig', hat sie ein eigenes Anliegen? Was erwartet sie von der Beratung? Decken sich ihre Wünsche mit unseren Möglichkeiten und den Erwartungen der anderen beteiligten Dienste? Denkt die Klientin, wir sind eine Behörde? Hofft sie, wir können ganz konkret etwas für ihren Aufenthalt tun? Was haben wir ihr 'anzubieten' - und was davon will sie annehmen?

Niedrigschwelliges Arbeiten im Sozialpsychiatrischen Dienst bedeutet für uns, einen ersten Termin innerhalb der nächsten vierzehn Tage anzubieten. Das kann nicht immer realisiert werden, ist und bleibt aber unser Anspruch. Im Zuweisungskontext müssen wir gut klären: Wie kann sichergestellt werden, dass die Frau auch zum vereinbarten Zeitpunkt hier ankommt? Findet sie den Weg alleine, fahren wir zu ihr, oder kann sie von jemandem begleitet werden? Braucht es eine Dolmetscherin? Als vom Bezirk Oberbayern refinanzierter Dienst sind wir in der glücklichen Situation, dass uns über das Referat für Umwelt und Gesundheit der Stadt München die Möglichkeit gegeben wird, auf den »Dolmetschertopf« sowie auf Stiftungsmittel zurückzugreifen. Über das Bayerische Zentrum für Transkulturelle Medizin e.V.(4) können wir eine bestimmte Anzahl von Dolmetscherinnenstunden pro Monat in Anspruch nehmen. Da im Zentrum etwa 90 Sprachen angeboten werden, sind wir in der Lage, unsere Beratungen in vielen Sprachen anzubieten. Dies ist eine durchaus privilegierte Situation, sorgt aber auch für viele Anmeldungen. Wie bei anderen Klientinnen, die als »schwer vermittelbar« gelten, haben wir auch bei geflüchteten Frauen das Problem, dass es oft sehr sinnvoll wäre, sie längerfristig zu betreuen, unsere Kapazitäten aber beschränkt sind und neue Anfragen warten.

Vernetzung: die Arbeit auf viele Schultern verteilen

Sehr bald kam die Erkenntnis, dass es unbedingt nötig ist, unsere Vernetzungsarbeit auf den gesamten Bereich der Flüchtlingshilfe auszudehnen und weitere Kooperationspartner und -partnerinnen ins Boot zu holen. Seitdem versuchen wir auf verschiedenen Ebenen, fachliche Kontakte zu knüpfen und neue Mitstreiter und Mitstreiterinnen zu gewinnen. Die Arbeit ist nach unserer Überzeugung auf Dauer nur zu leisten, wenn man sie auf mehrere Schultern verteilt. Wir brauchen beispielsweise die Kooperation mit verschiedenen Psychiatern und Psychiaterinnen, die bereit sind, eine Frau zu behandeln, die (fast) gar kein Deutsch spricht.

Bei Psychotherapien ist es noch schwieriger: Ist der manchmal lange Weg geglückt und das Amt genehmigt eine Psychotherapie mit Dolmetscherin über das Asylbewerberleistungsgesetz, bleibt immer noch die herausfordernde Aufgabe, eine Therapeutin zu finden. Dazu ist manchmal gehörige Überzeugungsarbeit nötig. Manche der Kolleginnen fürchten, dass regelmäßige Anfragen folgen. Wir argumentieren, dass schon viel erreicht ist, wenn viele eine oder einen nehmen, und man durchaus vertreten kann: Ich nehme eine und nicht mehrere. Eine weitere Herausforderung kommt hinzu, wenn die Patientin mit einer aufenthaltsrechtlichen Anerkennung das Recht auf Sozialleistungen erhält. Denn die Krankenkasse übernimmt nur die Kosten für die Psychotherapie, aber nicht die für die Dolmetscherin. An diesem Punkt müssen oft laufende Therapien beendet werden, und es kommt zu einer erneuten Destabilisierung der Frauen.

Dennoch gilt: Wenn viele mitmachen, verteilt sich die Arbeit. Ein weiteres wichtiges Argument ist, glaubhaft zu vermitteln: »Sie arbeiten nicht alleine, sondern im System.« Es gibt den Sozialdienst in der Unterkunft, wir vom Sozialpsychiatrischen Dienst bleiben Ansprechpartnerinnen in sozialen Fragen, koordinieren wenn nötig die Hilfen und bieten eine Ressourcengruppe (siehe unten) an. Wichtig für die Klarheit ist das Reflektieren in unserer wöchentlichen Fallbesprechung, wann wir verstrickt sind und zu viel oder zu wenig machen.

Ziele der Beratungsarbeit: Sicherheit, Stabilisierung, Symptomreduktion

Unsere Aufgabe sehen wir in den »drei S«: Herstellen von Sicherheit, Stabilisierung und Symptomreduktion. Hier wird deutlich, dass Kompetenzen in traumaspezifischer Beratung im Team vorhanden sein müssen - zusätzlich zu den im Bereich Sozialpsychiatrie üblichen sozialarbeiterischen und psychologischen Methoden. Nach unserer Erfahrung kann die Beratung von Asyl suchenden Frauen zeitlich einen sehr unterschiedlichen Rahmen haben: von kurzzeitiger Krisenintervention bis hin zur Begleitung über Monate oder sogar Jahre.

Oft haben wir es mit widersprüchlichen Bedingungen zu tun: So wirkt allein schon die Situation in vielen Unterkünften destabilisierend, und dadurch ist der Aufbau von Sicherheit, wenn überhaupt, nur erschwert möglich. Gerade für Frauen ist der Schutz in den Unterkünften häufig mangelhaft - oftmals gibt es zum Beispiel keine Möglichkeit, ein Zimmer abzuschließen. Die Erfahrung von sexueller Gewalt, auch in Form von Zwangsprostitution, setzt sich fort; wie häufig sie in Sammelunterkünften stattfindet, ist auch Thema in aktuellen Diskussionen.(5) Das wirkt sich wiederum negativ auf das Befinden der Frauen (und ihrer Kinder) und die Möglichkeiten der Symptomreduktion aus. In den Beratungsstellen können wir den Frauen dennoch ein wichtiges Bindungsangebot machen: einen Ort, wo sie hingehen können, wo sich Menschen für ihr Schicksal interessieren und sie beim möglichen Zugang zu ihnen nicht bekannten oder verschütteten Ressourcen unterstützen.

Stabilisierung, Sicherheit, Symptomreduktion sollten immer in Vernetzung mit den anderen beteiligten Einrichtungen erfolgen (Schweigepflichtentbindung!).

Kernthemen des Hilfeprozesses

Folgende Punkte sind nach unserer Erfahrung von besonderer Bedeutung:

[1] Umgang mit Sprachbarrieren: Vor der ersten Beratungsstunde ist zu klären: In welcher Sprache kann beraten werden? Ist der Einsatz einer Dolmetscherin möglich und organisierbar? Wer bezahlt diese? Übersetzung durch Angehörige gilt es unbedingt zu vermeiden - sie laufen Gefahr, instrumentalisiert zu werden (Kinder!) und haben oft eigene Interessen »Abgeschnitten« bzw. sind emotional beteiligt.

Wenn keine Dolmetscherin zur Verfügung steht: Gibt es andere Möglichkeiten, z.B. Rückgriff auf eigene Fremdsprachenkenntnisse? Bei uns ist mit der Zeit die Bereitschaft gewachsen, mit unseren eigenen, nicht perfekten Englisch-, Französisch- und Türkischkenntnissen Beratungen durchzuführen. Es kommt durchaus vor, dass die Klientin dann die Sprache flüssiger spricht als wir selbst - eine zunächst ganz neue Erfahrung. Eine andere Möglichkeit ist, "einfaches Deutsch" zu sprechen. Es reduziert die eigene Fachlichkeit nicht zwingend, auf einfaches Sprachniveau einzusteigen - die Beratung kann dennoch sehr erfolgreich sein!

[2] Medizinische Versorgung ist auch bzw. gerade unter den erschwerten Lebensbedingungen in einer Gemeinschaftsunterkunft wichtig. Bei psychiatrischer Symptomatik muss unbedingt geklärt werden, wie ein Termin bei einer Psychiaterin oder einem Psychiater organisiert werden kann (niedergelassene Ärztinnen, Institutsambulanz, gegebenenfalls stationäre Einweisung).

Häufig besteht der Wunsch nach Attesten, um Behandlungsbedürftigkeit zu dokumentieren. Fachärztliche oder psychologische Atteste können im Anerkennungsverfahren viel dazu beitragen, einen Aufenthalt zu sichern und damit die gesamte Situation der Asylbewerberin zu verbessern. Allerdings gibt es bei den oft so dringend benötigten Attesten auch ein großes Dilemma: Um sie sorgfältig zu erstellen (Gerichtsurteile fordern detaillierte Angaben von Traumatisierung in Attesten!), muss viel erfragt werden - was die Gefahr von Destabilisierung birgt.

[3] Soziale Unterstützung für Asyl suchende Frauen kann vielfältig sein: die Nachfrage, ob eine Sozialpädagogin in der Unterkunft (falls vorhanden) sich um einen Kindergartenplatz kümmert, ob ein Deutschkurs organisiert werden kann oder ein Suchauftrag nach Angehörigen über das Rote Kreuz sinnvoll ist, um nur einige Beispiele zu nennen. Sozialarbeit kann umfassende Dimensionen annehmen, wenn es beispielsweise um die Vermittlung und Begleitung geht (siehe dazu den Artikel von Sybille Auner im Anschluß). Manchmal kann mit relativ einfachen Mitteln recht viel geholfen werden, wenn einer schwer traumatisierten Frau mit einem psychologischen Attest die dringende Notwendigkeit eines Einzelzimmers bescheinigt werden kann.

Die Frage nach Schutz der Frauen und ihrer Kinder muss systematisch gestellt werden: Gibt es Anzeichen für (häusliche) Gewalt, für sexuelle Übergriffe in der Unterkunft? Anzeichen für (Zwangs-)Prostitution, für Kindeswohlgefährdung?

Auch der Blick auf die Kinder ist wichtig: Sorgt jemand für einen Kindergartenplatz oder Schulunterstützung, brauchen sie eine diagnostische Abklärung oder Behandlung, bestehen Freizeitmöglichkeiten, gibt es vor Ort spezialisierte Angebote wie muttersprachliche Elternseminare?(6)

[4] Vernetzung mit anderen Einrichtungen ist unbedingt notwendig. Als Erstes muss geklärt werden: Gibt es einen Sozialdienst in der Unterkunft vor Ort, was hat dieser bereits veranlasst? Je nach Situation der geflüchteten Frau müssen andere Fachkräfte mit einbezogen werden, beispielsweise Organisationen wie SOLWODI e.V., die für Frauen im Kontext von Menschenhandel und Zwangsprostitution tätig sind. Unbedingt ist auch an die ehrenamtlichen Helferinnenkreise zu denken sowie die Fachstellen und Beratungszentren für Asylsuchende und Flüchtlinge.

Wird eine Klientin in eine andere Unterkunft verlegt - manchmal geschieht dies sehr plötzlich -, so bemühen wir uns, eine Brücke zu bauen zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten am neuen Wohnort.

[5] Asylinformationen und Kontakt zu Rechtsanwältinnen: Im Rahmen von Selbstbestimmung und Sicherheit für unsere Klientinnen betrachten wir es als unsere Aufgabe, ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, was sie bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erwartet. Intensivere Vorbereitung leisten wir nicht selbst, sondern verweisen auf kompetente Stellen: In München steht der 'Infobus' (Gemeinschaftsprojekt von Münchner Flüchtlingsrat und Amnesty International) vor Erstaufnahmeeinrichtungen, hier wird auch speziell Beratung für schutzbedürftige Frauen angeboten. Falls kein persönlicher Termin möglich ist: Auf der Website des 'Infobusses' finden sich viele Informationen zum Asylverfahren in verschiedenen Sprachen.(7) Insbesondere bei Ablehnung durch das BAMF ist es auch sinnvoll, sich von spezialisierten Anwälten/Anwältinnen für Asylrecht vertreten zu lassen, mit denen wir auf Wunsch der Klientin auch in Kontakt treten, z.B. wenn es um die Organisation notwendiger Atteste geht.

(6) Psychische Stabilisierung und emotionale Sicherheit: Gerade in der schwierigen Lebenssituation von Geflüchteten ist es wichtig, hierauf zu achten. Wir thematisieren in den Beratungsstunden:

• Für Regelmäßigkeiten sorgen (Schlafen und Wachen, regelmäßiges Essen, Phasen von Aktivität und Ruhe).

• Ressourcen erfragen und stützen, beispielsweise Kontakte pflegen, Ausüben der Religion. Als Angebot der Beratungsstelle haben wir die sehr niedrigschwellige Gruppe zur Ressourcenaktivierung »Zeit für mich« entwickelt, in der Frauen auch mit geringen Deutschkenntnissen zwei Stunden pro Woche Zeit verbringen können, wo sie miteinander sprachungebundene Spiele spielen (z.B. Memory, Jenga), sich handwerklich betätigen (Stricken) oder sich anderweitig beschäftigen (Deutsch lernen, Puzzle).

• Information und Psychoedukation zu Trauma: Wer schwere Gewalt erfahren hat, ist ein Stück abgeschnitten von den eigenen Gefühlen und der Welt. Zu verstehen, was Flashbacks sind, wie Dissoziationsstopptechniken angewendet werden können und Übungen zur Reorientierung zu lernen, kann ein wichtiger Schritt zu Stabilisierung und Selbstfürsorge sein, auch wenn (noch) keine traumaorientierte Psychotherapie stattfinden kann. Meine Teamkolleginnen bieten hierzu eine Stabilisierungsgruppe (nicht nur für geflüchtete Frauen) an, die an vier Terminen stattfindet. Künftig wagen sie das Experiment, diese auch mit einer Dolmetscherin stattfinden zu lassen, deren Finanzierung sie über Stiftungsgelder organisiert haben.

• Klärung, ob es das Anliegen der »Zeuginnenschaft« gibt. Diesen Ausdruck haben wir für das gefunden, was manche Klientinnen mit Vehemenz einfordern: Sie wollen über etwas Bestimmtes sprechen, was ihnen widerfahren ist, Worte finden für das Geschehene. Wir hören dann zu, wenn wir sorgfältig geklärt haben, ob die Betreffende eine grundlegend gute psychische Stabilität mitbringt, d.h., keine schweren frühen Traumatisierungen da sind, und wenn es sich um ein zeitlich eingegrenztes Geschehen handelt, das in überschaubarer Zeiteinheit berichtet werden soll, beispielsweise Gewalt auf der Flucht oder Überleben auf der Straße in Italien, wo die Flüchtlinge häufig über Monate ohne soziale Leistungen überleben müssen, was für Frauen oft bedeutet, sich prostituieren zu müssen. Das Zuhören kann ein Wiederhereinholen in die Gemeinschaft bedeuten und der Ausgrenzung entgegenwirken, die die Frauen innerlich erleben. Vorsicht: Es darf keine Retraumatisierung stattfinden! Es gibt Erzählungen, die mögen abenteuerlich klingen - aber im Sinne der Ambivalenztoleranz (wie wir es von Menschen mit Wahnvorstellungen kennen) sehen wir es nicht als unsere Aufgabe an, den Wahrheitsgehalt des Berichteten herauszufinden.

• Ist hingegen fokussierte Arbeit an traumatischen Erinnerungen sinnvoll, so bemühen wir uns um Vermittlung zu einem Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge und Folteropfer(8) oder Kostenklärung und Vermittlung in eine Psychotherapie.

• Integration und Rehabilitation: Eine Perspektive auf ein »normales Leben« in Deutschland ist erst nach Erlangung eines Aufenthaltstitels möglich. Auch dann brauchen geflüchtete Frauen und ihre Familien noch soziale Unterstützung, z.B. bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche.

Die Arbeit mit Asyl suchenden Frauen ist eine große Herausforderung für uns als Team. Dabei gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem, was jede einzelne Kollegin bereit ist einzubringen, und wo ihre Grenzen liegen. Es ist eine Kunst, als Team unterschiedliche Grenzen und Positionen zu halten. Die Möglichkeit für Fallbesprechung und Supervision sehen wir als unbedingte Voraussetzung, um diese schwierige und wichtige Arbeit leisten zu können. An Erfahrungsaustausch mit und Rückmeldung von anderen Teams sind wir sehr interessiert.


Christiane Caspary, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, ist Mitarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst/Psychiatrische Beratung im FrauenTherapieZentrum (FTZ) München.

Kontakt:
E-Mail: christiane.caspary@ftz-muenchen.de
Internet: www.ftz-muenchen.de


Anmerkungen

(1) Bühring, Petra (2015): Traumatisierte Flüchtlinge und Asylbewerber: Hilfe für Opfer von Kriegsgewalt. In: Deutsches Ärzteblatt 112 (14): A-620/B-530/C-515.

(2) www.sueddeutsche.de/politik/gewalt-gegen-fluechtlingsunterkuenfte-kaum-ein-tag-ohne-angriff-1.2345923

(3) Wir haben seit Bestehen des Dienstes im Jahre 2002 einen interkulturellen Schwerpunkt. Alle Mitarbeiterinnen hatten bereits über mehrere Jahre mit Dolmetscherinnen gearbeitet. Zudem hatten wir über drei Jahre das Projekt Interkulturelle Qualitätsentwicklung (IQE) der Stadt München besucht, was erheblich zur interkulturellen Öffnung der Beratungsstelle beigetragen hat
(www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Sozialreferat/Wohnungsamt/Interkult/iqe.html)

(4) www.bayzent.de/dolmetscher-service/informationen/

(5) www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/bayern-fluechtlinge-werden-zu-prostitution-gezwungen-a-1028961.html

(6) www.refugio-muenchen.de/muttersprachliche-elternseminare.php

(7) www.muenchner-fluechtlingsrat.de/infobus/infokontakt/

(8) www.baff-zentren.org


Bildnachweis: Ausstellung und Katalog »Trotz allem -ich lebe. Kunststücke von Flüchtlingsfrauen«,
www.uno-flüchtlingshilfe.de/aktiv-werden

Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.

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Frau Bensunsu*, 35 Jahre, aus dem Kongo
Beratung und Begleitung im Sozialpsychiatrischen Dienst des FrauenTherapieZentrums München - ein Beispiel von Sybille Auner


Frau Bensunsu wurde Ende Dezember 2011 vom Krisen- und Behandlungszentrum an unseren Sozialpsychiatrischen Dienst verwiesen. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt seit knapp einem Jahr in einer Gemeinschaftsunterkunft in München, nachdem sie 2011 aus dem Kongo nach Europa geflohen war. Sie litt in ihrem Alltag unter schwerer Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Niedergeschlagenheit, Ermüdbarkeit, Konzentrationsstörungen und starken Schuldgefühlen. Vor allem in der Nacht drängten sich Erinnerungen an leidvolle Begebenheiten auf, die sie in ihrem Heimatland und auf der Flucht erleben musste. Zudem war sie weite Teile ihrer Kindheit im Kongo, wo Kriegshandlungen und Gewalt an der Tagesordnung sind, amnestisch.

Sie zeigte schwerwiegende dissoziative Symptome, wie dissoziative Zustände, Alltagsamnesien und Fugue sowie Störungen in den Bereichen Affekt- und Impulsregulation, Wahrnehmung und Bewusstsein, Selbstwahrnehmung, Beziehungsgestaltung, Somatisierung und Lebenseinstellung.

Sie vermied Situationen, die für sie quälende Auslöser waren und sie an die erlebte Gewalt erinnerten, und geriet schnell in einen Zustand der Übererregung. So löste beispielsweise jeder Kontakt mit der Polizei heftige Panikattacken und Angstzustände aus. In der Folge verließ Frau Bensunsu kaum noch die Gemeinschaftsunterkunft, immer in der Sorge, ein Polizist könnte sie ansprechen und mitnehmen.

Den Inhalt der Beratungsgespräche bei mir bildeten, neben den sozialpädagogischen Hilfen zur Existenzsicherung, vor allem die verbesserte Krankheitsbewältigung, die Erarbeitung von alternativen Strategien zur Affektregulation und Krisenbewältigung, Krisenintervention sowie Unterstützung bei der Alltagsstrukturierung. Alle Beratungsgespräche fanden zusammen mit einer Dolmetscherin für Französisch statt.

In der ersten Beratungsstunde berichtete Frau Bensunsu von den schrecklichen Erlebnissen im Kongo und auf der Flucht sowie von ihren Geschwistern, die die Flucht nicht überlebt haben. Es war ihr ungemein wichtig, dass ich Zeugin ihres erlittenen Leides wurde und ihre Geschichte anerkannte. Erst danach war es ihr möglich, mit meiner Unterstützung Dissoziationsstopp- und Stabilisierungstechniken zu erlernen und anzuwenden.

Dabei arbeitete ich eng mit der Psychologin und Ärztin aus dem Krisenzentrum zusammen. Frau Bensunsu konnte durch die traumaspezifische Psychoedukation einen Zusammenhang zwischen ihren Symptomen und der vielfach erlittenen Gewalt herstellen. Dies erleichterte sie sehr, da sie vorher große Sorge hatte, verrückt geworden zu sein. Sie war sehr offen und geschickt im Erlernen von Stabilisierungstechniken und Imaginationsübungen. Sie konnte sich zunehmend in dissoziativen Zuständen wieder in Raum und Zeit orientieren, was wiederum ihr Empfinden von Selbstwirksamkeit erhöhte. Mit der Zeit stabilisierte sich Frau Bensunsu psychischer Gesundheitszustand im Rahmen des Möglichen, da ihr Aufenthalt nach wie vor nicht geklärt war und mittlerweile ihr Widerspruch gegen die Ablehnung ihres Asylantrages vor Gericht verhandelt wurde.

Zudem regte ich an, dass sie sich in der Traumaambulanz vorstellt, und begleitete sie dorthin. Die Traumaambulanz diagnostizierte eine depressive Störung, eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung sowie eine nicht näher bezeichnete dissoziative Störung nach wiederholten und anhaltenden Traumatisierungserfahrungen während der gewalttätigen Unruhen im Kongo und auf der Flucht nach Europa.

Diese zusätzliche fachärztliche Einschätzung war sowohl für die Beantragung der Kostenübernahme von Psychotherapie im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes als auch für die Gerichtsverhandlung sehr wichtig.

Nach einem Jahr stand fest, dass Frau Bensunsu nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden kann, und sie bekam dadurch einen Aufenthaltsstatus in Deutschland. Ich unterstütze sie noch bei der Beantragung eines Passes in der kongolesischen Botschaft in Berlin, beim Antrag auf Arbeitslosengeld II, beim Umzug in eine Pension und der Beantragung von betreutem Einzelwohnen im Rahmen des SGB XII.

In der letzten Beratungsstunde bei mir hatte sie für ihre Zukunft fünf Wünsche: Sie wollte Deutsch lernen, in einer eigenen Wohnung leben, einen guten Beruf haben, einen Mann, der sie liebt, und Kinder. Mittlerweile lebt Frau Bensunsu in einer eigenen Wohnung und steht kurz vor dem Beginn ihrer Ausbildung zur Kinderpflegerin. Wenn wir miteinander telefonieren, sprechen wir deutsch.

Frau Bensunsu war meine erste Asyl suchende Klientin. Ihre Beratung und Begleitung durch unseren Sozialpsychiatrischen Dienst war sehr komplex und durch das notwendige Case-Management phasenweise auch sehr zeitintensiv. Das Gleiche gilt für die Zusammenarbeit mit der Dolmetscherin. Ich kann dennoch nur alle Kolleginnen und Kollegen ermutigen, sich auf diese besondere Arbeit einzulassen. Die Integration Asyl suchender Menschen in unsere Gesellschaft muss auch in den bestehenden Einrichtungen stattfinden. Ihre Versorgung ist auch Aufgabe der Sozialpsychiatrischen Dienste. Mit der ausschließlichen Weitervermittlung an bestehende Fachberatungsstellen werden wir psychisch kranken Flüchtlingen nicht gerecht.


Sybille Auner ist Diplom-Sozialpädagogin im FrauenTherapieZentrum (FTZ) München.
E-Mail: sybille.auner@ftz-muenchen.de

* Name geändert

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 150 - Heft 4/15, Oktober 2015, Seite 26 - 30
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2015

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