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VORTRAG/079: Medizinische Versorgung demenzkranker Menschen in der Kommune (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Medizinische Versorgung demenzkranker Menschen in der Kommune
Aktuelle Situation und Zukunftsperspektive

Von Bernd Meißnest



Für eine altersgerechte kommunale Versorgung psychisch erkrankter und dementer Menschen muss noch viel getan werden. Die Vernetzung zwischen Altenhilfe und Psychiatrie muss verbessert, kleinräumige und gemeinwesenorientierte Wohnformen müssen ausgebaut, Krankenhaus- und Pflegestrukturen verändert werden. Im Kreis Gütersloh ist man auf dem Weg dahin.


Die Psychiatrie-Enquete und die damit verbundene Psychiatriereform in den 1970er-Jahren hat die weitere Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland entscheidend geprägt und vor allem die gemeindepsychiatrische Versorgungsstruktur verändert. Unter anderem führten die vier Hauptanliegen der Psychiatriereform - gemeindenahe Organisation der psychiatrischen Hilfen, Koordination der Angebote, Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken und bedarfsgerechte Versorgung - dazu, dass sich die damaligen psychiatrischen Großkrankenhäuser verkleinerten, sich neue, an Allgemeinkrankenhäusern installierte psychiatrische Abteilungen entwickelten und Langzeitpatienten in die Gemeinde entlassen wurden.

Zudem entstand eine Vielzahl von dezentralisierten Behandlungsangeboten in gemeindepsychiatrischen Verbünden und Zentren sowie teilstationären und ambulanten Diensten zur Versorgung psychisch Kranker in der eigenen Häuslichkeit. Hinzu kam auch eine verbindliche Organisationsstruktur der psychiatrischen Hilfen: der gemeindepsychiatrische Verbund. Er übernahm vor allem die Koordination und Weiterentwicklung von Hilfsangeboten. In diese Entwicklung waren praktisch alle Bereiche der Psychiatrie einbezogen, so auch die psychiatrische Versorgung älterer Menschen.


Altern im Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit

"Älter werden" in unserer westlichen Gesellschaft ist verbunden mit individuellen Wünschen und Vorstellungen der Menschen für den "dritten" Lebensabschnitt. So wünschen sich die meisten an Neujahr, körperlich und geistig fit zu bleiben. Darüber hinaus besteht der Wunsch, möglichst lange autonom, unabhängig, selbstbestimmt und selbstständig leben und handeln zu können. Die meisten wollen weiterhin im vertrauten Umfeld zu Hause mit den Angehörigen alt werden und auch laut aktueller Umfragen nicht in eine Institution der Altenhilfe, das heißt zum Beispiel in ein Altenheim einziehen müssen. Weiterhin besteht der Wunsch, für andere notwendig zu sein, gebraucht zu werden, tätig zu sein. Für die Zeit nach der Berentung wünschen sich viele, ihre Freizeit flexibel zu gestalten, zu reisen, Sport zu betreiben und mit möglichst vielen anderen Menschen zu kommunizieren.

Diesen Wünschen steht eine andere Realität gegenüber. Die Wirklichkeit zeigt, dass wir alle immer älter werden, jeder für sich und sein individuelles Alter eine eigene Strategie entwickelt, die seine Aufgaben, seine Rolle in der Gesellschaft, in der Familie betrifft und sich möglicherweise im Laufe der Zeit auch immer wieder ändert.

"Es besteht kein hinreichendes Krisenmanagement für ältere psychisch Erkrankte"

Begleitet ist das Altwerden zunehmend auch von körperlichen und hier vor allem chronischen Erkrankungen. Dies zeigt sich auch in der hohen Frequenz von Arztkontakten (in Deutschland im Durchschnitt 18 Arztkontakte pro Jahr pro Bundesbürger). In der Bundesrepublik wie auch in anderen europäischen Ländern nimmt die Singularisierung im Alter zu und eine Integration in die Familie der Kinder gelingt immer weniger, da diese unter anderem nicht mehr am gleichen Ort leben. Über 50% der über 85-Jährigen leben mittlerweile in Strukturen der Alten- und Pflegehilfe. Ebenso steigt der Pflege- und Betreuungsbedarf älterer Menschen stetig. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit wird weiterhin einen Einfluss haben auf die Entwicklung der unterschiedlichen Strukturen der Altenhilfe in unserer Gesellschaft.


Psychische Erkrankungen im Alter - epidemiologische Aspekte

Die demografische Entwicklung wird uns regelmäßig von den Medien vor Augen geführt. So beschreibt die Bertelsmann-Stiftung in ihrem "Wegweiser für Kommunen", dass heute schon in einzelnen Bundesländern der Anteil der über 80-Jährigen größer als 5,5% ist. 2025 wird die Quote der über 65-Jährigen, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, über 56% betragen, in den übrigen, u.a. in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, noch unter 45%, mit steigender Tendenz. Nach Rott (2009) ist die steigende Lebenserwartung seit 1990 vor allem auf die längere Lebensdauer der über 65-Jährigen zurückzuführen. Zuvor stieg die Lebenserwartung vor allem durch den Rückgang der Sterblichkeit bei Kindern bis 14 Jahre. Bereits 2007 hatte die Hälfte der weiblichen Neugeborenen eine Lebenserwartung von 102 Jahren. Im Durchschnitt steigt heute die Lebenserwartung pro Tag um fünf bis sechs Stunden. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts nimmt vor allem die Zahl der über 80-Jährigen stetig zu.

Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Häufigkeit psychischer Erkrankungen im Alter aus. So ist die Zahl der psychisch erkrankten Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungen in den letzten 15 Jahren von 60 auf 90% gestiegen. Zwei Drittel der Bewohner sind an einer Demenz erkrankt, ein Drittel an (unter anderem) depressiven Syndromen. Auch in somatischen Krankenhäusern sind heute mittlerweile zirka 30% der Patienten gerontopsychiatrisch auffällig. Die Suizidrate in Deutschland sinkt in den letzten Jahren. Allerdings nimmt der Anteil der Suizide bei über 60-Jährigen stetig zu. Eine Betrachtung der Morbidität der älteren Menschen in unserer Gesellschaft zeigt, dass das Morbiditätsrisiko bei Personen über 75 Jahre auf über 30% steigt, bei Personen über 85 bereits auf 75%. 50% der über 85-Jährigen erleiden eine demenzielle Erkrankung. Heute gibt es in Deutschland bereits 1,2 Millionen Demenzkranke, 2015 werden es zirka 2 Millionen sein. Ist jemand an Demenz erkrankt, so nimmt auch seine Lebenserwartung zu (Kurz 2008).

Nach Bickel (2008) werden im Vergleich zum Jahr 2000 die psychiatrischen Diagnosen bei älteren Menschen im stationären Bereich im Jahr 2020 um 54% zugenommen haben, 2040 um 102%.


Alt und psychisch erkrankt - und wie medizinisch versorgt?

Der ältere psychisch erkrankte Mensch in der kommunalen Versorgungsstruktur ist heute

  • der neu an einer psychischen Störung Erkrankte (z.B. Demenz oder Depression),
  • der chronisch körperlich Erkrankte mit psychischen Folgeerscheinungen (z.B. Depression),
  • der alt gewordene chronisch psychisch Kranke (z.B. Schizophrenie) mit seinen körperlichen Erkrankungen,
  • der ältere Suchterkrankte (Medikamente, Alkohol),
  • der akut verwirrte ältere Patient (z.B. nach Operation),
  • der polypharmazierte alte Mensch,
  • der vereinsamte Bürger ohne soziales Netzwerk, - der "bilanzierende" suizidale Bürger etc.

Medizin im Alter ist heute schon vor allem eine Chronisch-Kranken-Medizin, die sich unter anderem durch die steigende Lebenserwartung, die verbesserte medizinische Versorgung ergibt. Das Spektrum der Erkrankungen hat sich von akuten Krankheitsereignissen hin zu chronischen Erkrankungen mit akuten Verläufen verschoben. So ist es heute fast die Regel, dass mehrere Erkrankungen parallel behandlungsbedürftig sind. Entsprechend haben sich für diese chronischen Erkrankungen, z.B. Diabetes mellitus, Herzerkrankungen, Lungenleiden, in der Medizin Behandlungsprogramme und -pfade etabliert, sowie im gesellschaftlichen Bereich Selbsthilfegruppen organisiert. Chronisch krank bedeutet heute, dass meist keine Heilung zu erwarten ist, immer wieder eine Akuität entstehen kann, dass unterschiedliche Therapien erforderlich sind und sich die Befindlichkeit, das Selbstheilungskonzept und die individuelle Rolle des Betroffenen stetig ändern. So sucht fast jeder nach einer eigenen Bewältigungsstrategie und wird so im Laufe der Zeit zum "Experten" seiner Erkrankung.


Der psychisch erkrankte ältere Mensch in der kommunalen Versorgungsstruktur

Für die kommunale Versorgung Demenzkranker steht nach allgemeiner Definition der gemeindepsychiatrische Verbund zur Verfügung. Er ist ein rechtsfähiger Zusammenschluss aller Träger der psychiatrischen Versorgung mit der regionalen Versorgungspflicht für alle psychisch Kranken der Region, somit auch für die älteren psychisch Kranken. Ein Lenkungsausschuss klärt die Kooperationsfragen. Die Hilfeplankonferenz entscheidet über den Hilfebedarf jedes Einzelnen. Der gemeindepsychiatrische Verbund stellt die sozialpsychiatrischen Hilfen der Grundversorgung (Wohnung, Aktivitäten, Tagesgestaltung, Kontakte, Selbstversorgung) bereit. Er ist ein Zusammenschluss kostenträgerübergreifender Behandlungs- und Rehabilitationsprozesse. Das Prinzip lautet: Jeder Klient soll ungehinderten Zugang zu allen für ihn erforderlichen Hilfen haben. Die Fallzuständigkeit und Durchführungsverantwortung für jeden Hilfesuchenden liegt beim gemeindepsychiatrischen Verbund.

Gilt dieser Grundsatz tatsächlich auch für den älteren psychisch Erkrankten?


Altenhilfe und gemeindepsychiatrischer Verbund: Vernetzung mangelhaft

Die heutige Situation des älteren psychisch Kranken und auch Dementen in der Gemeindepsychiatrie stellt sich jedoch anders dar. In Gänze ist für ihn nicht der gemeindepsychiatrische Verbund zuständig, sondern die Altenhilfe. Es existieren keine echten Schnittstellen zwischen beiden Organisationsstrukturen und es gibt keine Vernetzung. Ältere psychisch Kranke haben in der Regel keinen Zugang zu Rehabilitation, Eingliederungshilfe und auch nicht zum dritten Arbeitsmarkt.

Die Altenhilfe und die gemeindepsychiatrische Versorgung haben sich in den letzten Jahrzehnten unabhängig voneinander weiterentwickelt. Für beide Formen existieren unterschiedliche Kostenträger (Krankenkasse, Pflegekasse, Sozialhilfeträger, Rentenversicherung etc.). Auch haben beide unterschiedliche Entwicklungsrichtungen genommen. So hat sich die Psychiatrie (als Folge der Psychiatriereform) in die Gemeinde deinstitutionalisiert. Die Altenhilfe hingegen hat sich in den letzten Jahrzehnten reinstitutionalisiert, aus der Gemeinde heraus. Immer größer wird der Anteil der in der Gemeindepsychiatrie alt gewordenen psychisch Erkrankten, die aufgrund des erhöhten Hilfebedarfs in die Altenhilfe wechseln.

"Das Krankenhaus der Zukunft muss ein demenzfreundlicher Ort sein"

Betrachtet man das heutige Krisenmanagement für Demenzkranke, so existieren schlecht miteinander vernetzte Strukturen. Das Krankenhaus mit seiner Notaufnahme ist nicht für Demenzkranke ausgerichtet, die Fachdisziplinen arbeiten wenig zusammen. Standards und Prozesse sind eher "demenzfeindlich". Der niedergelassene Arzt hat in der Regel kein multiprofessionelles Team und kann aufgrund eingeschränkter Mobilität und unzureichender fachlicher Kompetenz die nicht mehr "wartezimmerfähigen" älteren psychisch Erkrankten nicht hinreichend betreuen. In den psychotherapeutischen Praxen sind Menschen über 60 Jahre nur zu weniger als 3% vertreten. Der ältere Klient ist eher unattraktiv für den psychotherapeutischen Prozess, und für die Krisenakutbehandlung besteht kein geeignetes psychotherapeutisches Konzept. Die psychiatrische Klinik mit ihrer Institutsambulanz ist nicht immer aufsuchend tätig und hält auch keine 24-Stunden-Präsenz vor. Der Sozialpsychiatrische Dienst steht zwar für Krisen zur Verfügung, bietet aber keine dauerhafte Behandlung an.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass kein hinreichendes, dem demografischen Wandel gerecht werdendes Krisenmanagement für ältere psychisch Erkrankte besteht. Gerade für die Gruppe der Demenzkranken gilt nicht mehr das im Sozialgesetzbuch fest verankerte Prinzip "ambulant vor stationär". Regional sind Struktur und Quantität der Hilfsangebote völlig unterschiedlich. Auch die Vernetzung psychiatrischer und somatischer Disziplinen ist unzureichend und gerade bei integrierten Versorgungsmodellen selten. Demenzkranke finden keinen Zugang zu rehabilitativen Angeboten, keinen Zugang zu Hilfen der Eingliederung. Schließlich bestehen für die zunehmenden ethischen Fragestellungen bei der Versorgung von älteren psychisch erkrankten Menschen (Gewalt in der Pflege, psychische Überforderung von Angehörigen etc.) keine entsprechenden Beratungsstrukturen, wie z.B. ein Ethikkomitee.


Wie kann eine zukünftige kommunale Versorgung aussehen?

• Eine Grundvoraussetzung für die künftige Versorgung psychisch erkrankter älterer Menschen in der Gemeinde wäre: freier Zugang zu allen Hilfen. Dies beinhaltet die medizinischen und sozialen Hilfen. Die unterschiedlichen Finanzierungssysteme werden so verknüpft, dass sie sich ergänzen und nicht gegenseitig ausschließen. Alle Hilfen sind gemeinde- und heimatnah vorzuhalten, sodass der Nutzer dem für ihn passenden Angebot nicht hinterherreisen muss. Und es gilt die Grundregel "ambulant vor stationär". Das Krisenmanagement muss vor Ort, in der Häuslichkeit, im Krankenhaus oder im Alten- und Pflegeheim stattfinden. Dies erfordert ein über den eigenen Tellerrand hinausblickendes interdisziplinäres Denken und Handeln unter Beachtung ethischer Dimensionen.

• Das Krankenhaus der Zukunft: Das Krankenhaus ist ein demenzfreundlicher Ort. Es verfügt über entsprechende Therapieräume auf der Station, schult seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die stationäre Hilfeleistung ist an den Wohnort des Betroffenen "verambulantisiert", die unterschiedlichen Fachdisziplinen und Professionen sind vernetzt. Darüber hinaus gibt es einen intensiven Konsiliar- und Liaisondienst, Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen stärken die Rechte der Patienten. In den Behandlungsprozess sind präventive und rehabilitative Aufgaben und Angebote integriert.


Was getan wird und was noch zu tun ist - Beispiele

• Interdisziplinäre Zentren für Altersmedizin (ZAM)
Der "klassische" ZAM-Patient zeichnet sich aus durch höheres Lebensalter, Immobilität, Inkontinenz, Instabilität, Gebrechlichkeit, akut auftretende Verwirrtheit, Depression oder Demenz als Begleiterkrankung, Mangelernährung, Schluckstörung, Obstipation, fehlende Intaktheit der Haut, verschiedenste körperliche Erkrankungen, Polypharmazie etc. Für ihn sind Klinikkonzepte geeignet, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen somatischen und psychiatrischen Disziplinen und Professionen beinhalten. Hier gibt es beispielhaft am Klinikum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Gütersloh ein Zentrum für Altersmedizin, in das Patienten mit obigen Merkmalen aufgenommen werden. In diesem Zentrum sind Gerontopsychiatrie, Neurologie und innere Medizin/Geriatrie vereint. Der Patient wird in einer der Disziplinen aufgenommen und von einem Team behandelt. Alle anderen Disziplinen, egal wie die Gewichtungen der Erkrankungen sind, bewegen sich zu dem Patienten hin. Das bedeutet, es findet keine Verlegung mehr von einer Station zur anderen, von einer Disziplin zur anderen statt. Der Patient behält seine Bezugsperson, auch wenn das ärztlich-therapeutische Team wechselt. Auf den Stationen gibt es ausschließlich Ein- und Zweibettzimmer mit Bad sowie Therapie- und Gemeinschaftsräume, wie z.B. einen Speiseraum. Für die Patienten steht ausreichend Bewegungsfläche zur Verfügung. Die Flure sind im Karree gebaut, sodass auch Demenzerkrankte sich ohne die Sorge, verloren zu gehen, bewegen können. Die farbliche Gestaltung ist hell und warm. Die Interdisziplinarität in der Behandlung wird durch gemeinsame Fallkonferenzen, Visiten sowie Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen ergänzt.

• Verambulantisierung stationärer Hilfen über die Institutsambulanz
Viele ältere psychisch erkrankte Menschen können nicht mehr alle ambulanten Angebote aufsuchen, sodass hier eine Gehstruktur (Aufsuchen der Patienten zu Hause) entwickelt und vorgehalten werden muss. Dies kann im Extremfall auch mit einer stationären Behandlung verknüpft sein, die sich allerdings nur virtuell abspielt, da die eigentlich im stationären Setting vorgehaltene Leistung zu den Patienten nach Hause gebracht wird. Dies wäre modellhaft mit den Kostenträgern zu vereinbaren. Gerade bei Demenzkranken führt eine Aufnahme ins Krankenhaus bei stationärer Behandlungsbedürftigkeit zu einer Zunahme der Verwirrtheit, des deliranten Syndroms bedingt durch den Ortswechsel, das Fehlen wichtiger Bezugspunkte und -personen. Hier könnte eine Verambulantisierung der heute noch stationär erbrachten Leistung in die Häuslichkeit des Betroffenen weitere Krisen verhindern.

• Gerontopsychiatrischer Krisendienst
In vielen Regionen ist seit Jahren ein Krisendienst etabliert. Dieser ist allerdings strukturell und in Hinblick auf seine Kompetenz oftmals nicht geeignet für die spezifischen Belange gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen. Im Landkreis Esslingen allerdings gibt es einen speziellen Krisendienst für gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen, der gut in das ambulante Hilfesystem integriert ist und dazu beitragen kann, dass eine stationäre Behandlung verhindert wird. Das Krisendienst-Team ist geschult in gerontopsychiatrischen Erkrankungsbildern, kennt das ambulante Hilfesystem gut und arbeitet eng mit der psychiatrischen Klinik zusammen.

• Konsiliar- und Liaisondienste in den somatischen und psychiatrischen Krankenhäusern
Meist wird der demenzerkrankte Patient als "Störfaktor" in den somatischen Disziplinen angesehen - sowie umgekehrt der somatisch Erkrankte in der psychiatrischen Disziplin. Um hier eine optimale Behandlung durchführen zu können, sind interdisziplinäre Konsiliar- und Liaisondienste mit einer flexiblen und schnellen Kommstruktur vorzuhalten. Sie sollten multiprofessionell zusammengesetzt sein (Pflegekräfte, Ärzte, Ergotherapeuten etc.) und einer zum Beispiel Übernahme in die psychiatrische Klinik vorgeschaltet werden. Eine solche Struktur hat sich zum Beispiel im somatischen Krankenhaus in Kaufbeuren etabliert. Aber auch im Kreis Gütersloh ist dieses Behandlungsangebot an den Krankenhäusern vorhanden. Durch die Präsenz der gerontopsychiatrischen Fachkräfte in den somatischen Kliniken werden die dortigen Mitarbeiter gerontopsychiatrisch geschult und erlangen so Kompetenzen im Umgang mit älteren psychisch Erkrankten. Dies verbessert entscheidend die somatische Behandlungsqualität.

• Ethikkomitee
Für die zunehmend bedeutsamer werdenden ethischen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Behandlung älterer Menschen sind "Orte" für einen interdisziplinären Austausch zwischen Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern im ambulanten und stationären Bereich strukturell zu etablieren. Diese Orte können ein Ethikkomitee sein, ein Beratungsteam bestehend aus pflegerischen, therapeutischen Fachkräften, aber auch Personen aus der Seelsorge, Juristen, Verwaltungsmitarbeiter etc.

• Betriebliches Ausgliederungsmanagement
Viele Krisen und Erkrankungen im Alter bilden sich schon während der beruflichen Tätigkeit einer Person ab und sind in den Betrieben bekannt. So wie es bereits in Unternehmen und Einrichtungen ein Eingliederungsmanagement gibt, im Rahmen dessen der Mitarbeiter neu in eine betriebliche Struktur eingeführt wird, wäre auch ein betriebliches Ausgliederungsmanagement für die ausscheidenden Mitarbeiter erforderlich, um den Wechsel in den neuen Lebensabschnitt gemeinsam gut zu gestalten und so präventiv mögliche psychische Erkrankungen zu verhindern. Gerade Männer fallen nach der Berentung oft in ein Loch, wissen nur schlecht mit ihrer neuen Freizeit umzugehen und klagen nur sehr zögerlich über den Mangel an sinnvoller Tätigkeit. Hier kann ein betriebliches Ausgliederungsmanagement Menschen in neue Tätigkeitsfelder begleiten, z.B. im sozialen Bereich, in dem ein wachsender Bedarf besteht. Neu gewonnene Zeit mit helfenden Tätigkeiten für andere zu verbringen kann dem Leben einen neuen Sinn geben und den eigenen Alltag kreativ gestalten.

Eine gute kommunale Sozialraumentwicklung und Versorgung für ältere psychisch Erkrankte lässt sich am besten auch aus der individuellen eigenen Perspektive gestalten. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage: Was brauchen die Menschen heute was brauche ich morgen? Welche Wünsche habe ich an mein zukünftiges Zuhause? Die Antwort könnte lauten: Es soll kleinräumig, vertraut sein, Kontakte sollen unmittelbar in der Nähe sein, es soll eine bekannte Infrastruktur vorhanden sein. Ich habe das Bedürfnis, gebraucht zu werden. Ich habe das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung und möchte bestimmen können, wer bei mir ein und aus geht. Ich möchte nicht nur pflegerisch "versorgt", sondern konsequent und umfassend begleitet werden, abgestuft über ein ambulantes Hilfesystem, betreut von Fachkräften unterschiedlicher Profession.


Kommunale Altenhilfeplanung - das Beispiel Gütersloh

Die Erfahrungen aus der kommunalen Altenhilfeplanung zeigen, was das "unattraktive" Thema Altenhilfe angeht, dass jede Kommune für sich selbst plant. "Jeder Investor denkt zunächst an seine Rendite, und der Markt ist für alles offen." Allerdings stehen auch viele diesem offenen Markt skeptisch und hilflos gegenüber. Aktuell ist eine kommunale Bedarfsplanung im Bereich Altenhilfe nicht mehr möglich und nicht verbindlich. Es gibt attraktive und unattraktive Kommunen sowie keine einheitliche Planungsstruktur und -kultur.

Kommunale Altenhilfeplanung muss zukünftig ein fest etabliertes Thema in den Ausschüssen und Gremien werden. Die Arbeitskreise müssen interdisziplinär besetzt sein: mit Vertretern der Stadtplanung, der Immobilienwirtschaft, der ambulanten und stationären Hilfeträger etc. Zu fordern ist eine kommunale Steuerung der Entwicklung, und immer wieder ist zu prüfen, ob und wie engagierte Bürgerinnen und Bürger als Investoren für besondere Projekte zu gewinnen sind.

Als Beispiel einer entwickelten kommunalen Altenhilfe möchte ich den Kreis Gütersloh anführen. Der Kreis Gütersloh mit 360.000 Einwohnern ist ländlich gestaltet und hat als größte Kommune die Stadt Gütersloh mit knapp 100.000 Einwohnern. In der Region sind unterschiedliche größere Wirtschaftsunternehmen ansässig (Bertelsmann, Miele, Claas etc.). Betrachtet man die aktuelle Versorgungsstruktur, so liegt die ambulante Versorgungsquote im Kreis Gütersloh im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen und zum Bund bei 75,97% (NRW 70,52%, Bund 70,08%).

Insgesamt versorgen 53 ambulante Dienste den Kreis Gütersloh. Die Quote je 1000 Einwohner durch ambulante Dienste betreute Pflegebedürftige liegt bei 7,3% (NRW 5,94%, Bund 6,13%).

Die tagespflegerische Versorgung ist mit insgesamt 15 Tagespflegen und jeweils 10 bis 20 Plätzen sowie einer Öffnungszeit von bis zu 364 Tagen im Jahr sehr dicht. Die Zahl der Leistungsempfänger hat sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Die Platzquote pro 1000 Einwohner liegt im Kreis Gütersloh bei 0,5% (NRW 0,22%, Bund 0,26%).

Bei den stationären Plätzen ist in den letzten zehn Jahren eine Stagnation zu verzeichnen. Die Quote je 1000 Einwohner liegt im Kreis Gütersloh bei 6,58% (NRW 9,1%, Bund 9,45%).

"Eine gemeindepsychiatrische Vision für eine gute Altenhilfestruktur ist stadtteilbezogen und kleinräumig"

Parallel zur Entwicklung in der stationären Altenhilfestruktur haben sich seit 1999 im Kreis Gütersloh ambulant betreute Hausgemeinschaften etabliert. In ihnen wohnen insgesamt maximal 16 Mieter; jeder hat sein eigenes Appartement mit Balkon/Terrasse und einem Bad. Gemeinschaftlich sind Küche, Wohnzimmer, Flur etc. Diese Hausgemeinschaften sind dezentral gut in Stadtteile integriert, auf alle Kommunen im Kreis verteilt und in unterschiedlicher Trägerschaft. Heute gibt es über 500 Plätze, und es besteht eine hohe Nachfrage. Die Mieter können unabhängig von ihrem Pflege- und Betreuungsbedarf bis zu ihrem Lebensende dort wohnen; dies gilt zum Beispiel auch für Beatmungspatienten.

Daneben gibt es auch Initiativen einzelner Kommunen, die im Rahmen von Modellprojekten ihre Bürgerinnen und Bürger befragt haben, was sie an ambulanten und stationären Hilfsangeboten und -strukturen benötigen. So ergab etwa die Umfrage in der Gemeinde Steinhagen im Kreis Gütersloh, dass Essenlieferdienste, bezahlbarer Wohnraum etc. fehlen. Einzelne Vereine wurden bezüglich ihres bürgerschaftlichen Engagements befragt, Unternehmen nach ihren Unterstützungsmöglichkeiten. Die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung ihrer Kommune führt zu einer offenen Auseinandersetzung und sehr produktiven Entwicklung in der Gemeinde.

Eine gemeindepsychiatrische Vision für eine gute Altenhilfestruktur ist stadtteilbezogen und kleinräumig. In der Mitte des Stadtteils befindet sich, symbolisch gesehen, die Hausgemeinschaft (ähnlich wie der Kindergarten), aus der heraus Kontakte ermöglicht werden, Koordination im Sinne des gemeindepsychiatrischen Verbundes stattfindet, Aktivitäten angeboten werden, auch Kurzzeitpflege möglich ist sowie ambulante Pflege. Diese Vision hat sich im Kreis Gütersloh in einzelnen Kommunen schon realisiert und stellt die Basis für ein gutes Gelingen des Altwerdens dar.


Bernd Meißnest ist Chefarzt der Klinik für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie am LWL-Klinikum Gütersloh. Der Artikel ist die bearbeitete Fassung des Vortrags, den der Autor auf der DGSP-Jahrestagung in Ravensburg-Weissenau am 18.11.2011 gehalten hat. E-Mail-Kontakt: Bernd.Meissnest@wkp-lwl.org

Literatur beim Verfasser.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wellness im Altenheim
- Gemeindeintegrierte Versorgung

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 136 - Heft 2, April 2012, Seite 23 - 27
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
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Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2012