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BEITRAG/001: Die Entsorgungsgesellschaft - Freitod oder Selbstmord? ... (SB)




Die sattsam bekannte und immer wieder zitierte Entwicklung der Bevölkerungsstatistik bietet Anlaß für vielerlei Spekulation, wie es angehen kann, daß bei ständig fortschreitender Technik die Lebenserwartung in Deutschland in der letzten Zeit wieder rückläufig ist.

Die Bezichtigung Kranker, sie hätten nicht umsichtig genug vorgesorgt, zu fett und zu ungesund gegessen, zu viel geraucht und zu wenig Prävention bereits in jungen und gesunden Jahren betrieben, liefert die argumentative Basis, um den Patienten von morgen die Notwendigkeit eines gesundheitlichen Selbstmanagements aufzuoktroyieren und ihnen zu suggerieren, daß die eigene Nachlässigkeit in Sachen Gesundheitsvorsorge entscheidend zur Entwicklung späterer Krankheiten beiträgt.

Im Verhältnis zur steigenden Zahl alter Menschen in der Gesellschaft gibt es immer weniger Jüngere, die für die Versorgung der Älteren aufkommen können. Reichten die bisherigen staatlichen Leistungen schon nicht aus, um Altersarmut, mangelhafte Pflege und katastrophale Verhältnisse in den Heimen zu verhindern, so ist absehbar, daß sich diese Probleme in den nächsten Jahren noch potenzieren werden. Das Gesundheitswesen treibt sich selbst in den Ruin. Privatisierung von Kliniken, überforderte Ärzte und prekäre Verhältnisse in Krankenhäusern und Heimen mit einem Pflegeschlüssel, der weit unterhalb der gültigen Personaluntergrenzen in der Pflege liegt, machen eine menschenwürdige Betreuung und Versorgung älterer und vornehmlich alleinstehender und armer Menschen bis zum Tod immer unwahrscheinlicher.

Nicht selten kommt es vor, daß Menschen, "die sterben dürfen", für diese letzte Lebensphase in einen Raum abgeschoben und liegengelassen werden. Häufig ist nicht einmal die Grundpflege, sprich das Waschen und Säubern beim Einnässen oder Einkoten, gewährleistet.

Langjährige kontroverse Debatten zu Organtransplantation, Hirntodkonzept oder Sterbehilfe sowie deren häufig einseitige Aufbereitung in den Medien sorgen für ein langsames, der Ratio des Mangels folgendes Umdenken in der Gesellschaft. Parallel dazu werden in der Gesetzgebung peu à peu die Weichen neu gestellt. So hat sich der Gesundheitsausschuß des Bundesparlaments Mitte Februar auf einen Antrag der FDP-Fraktion [1] mit der Frage beschäftigt, ob eine Behörde schwer kranken oder sterbenswilligen Menschen den Zugang zu einer tödlichen Dosis Betäubungsmittel verwehren darf.

Während viele Ärzteverbände eine Beihilferolle beim Suizid ablehnen und die Palliativmedizin darauf verweist, daß fast immer dank der verbesserten Hospiz- und Palliativversorgung eine Leidensminderung möglich sei, wurden in der Politik bereits die ersten Entscheidungen getroffen, um den Weg für eine entsprechende behördliche Regelung freizumachen. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat nach jahrelangem Streit in letzter Instanz bereits im März 2017 mit Verweis auf das Persönlichkeitsrecht festgestellt, daß dieses unter der Voraussetzung einer freien Willensbildung auch das Recht erfasse, über sein Lebensende zu entscheiden [2]. Das bedeutet, daß das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) unheilbar erkrankten Menschen in extremen Notlagen den Erwerb eines Betäubungsmittels für einen risiko- und schmerzfreien Suizid nicht verwehren darf.

Bislang ist die Bundesregierung dieser Entscheidung jedoch nicht gefolgt und das Bundesgesundheitsministerium hat das BfArM angewiesen, alle Anträge zur Selbsttötung abzulehnen [3]. Als Begründung wird angeführt, daß sich im Zusammenhang mit dem 2015 verabschiedeten Paragraf 217 des Strafgesetzbuches hier eine erhebliche Grauzone auftut. Denn der sogenannte Sterbehilfeparagraf besagt, wer Selbsttötungen geschäftsmäßig fördert, kann mit Haft bestraft werden.

Strafrechtsexperten haben jedoch schon eine Lösung für dieses Problem im Visier. Eine Ergänzung im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) könnte Abhilfe schaffen, indem geregelt wird, daß und unter welchen Voraussetzungen eine Verschreibung von Betäubungsmitteln für eine Selbsttötung zulässig ist.

Noch gibt es Gegenstimmen. Das Kommissariat der Deutschen Bischöfe erinnert daran, daß ein behördliches Verfahren zur Umsetzung von Suizidwünschen mit der Gefahr einhergeht, daß sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen könnten, von diesen legitimierten Optionen Gebrauch zu machen. Und auch die Ethikerin Sigrid Graumann warnt davor, daß sich eine Routine entwickeln könnte, die aus Notfällen einen "erlaubten Normalfall" machen, der Betroffene erheblich unter Druck setzen kann.

Am Donnerstag, den 11. April 2019, lehnte der Bundestag den Antrag der FDP-Fraktion, in dem Rechtssicherheit für schwer kranke Menschen in extremen Notlagen gefordert wurde, mehrheitlich ab.

Angesichts der sich zuspitzenden prekären Verhältnisse im Gesundheitswesen wird es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch Deutschland dem Beispiel anderer Länder wie Belgien oder den Niederlanden folgt und, entgegen dem entschiedenen Widerstand unter anderem von Seiten der Ärzteschaft, politisch wie rechtlich die Hürden für eine aktive Sterbehilfe aus dem Weg räumt.


Fußnoten:

[1] Deutscher Bundestag, Antrag der FDP-Fraktion 19/4834: "Rechtssicherheit für schwer und unheilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen"
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/048/1904834.pdf

[2]Quelle: Das Parlament Nr. 9-11 vom 25.2.2019

[3] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw15-de-rechtssicherheit-unheilbar-kranke-633730


1. Mai 2019


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