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MELDUNG/001: Gesparte Gesundheit oder gesundgespart (SB)


Ambivalenzstrategischer Zwang zur Umlastung von Kosten und Verantwortung



Gesundheitsbegriff und Gesundheitssystem unterliegen tiefgreifenden Veränderungen, deren Stoßrichtung sich unter dem Stichwort Bezichtigungsmedizin zusammenfassen läßt. Mit der Entsorgung des Sozialstaats, der den Bürgerinnen und Bürgern einen gewissen Prozentsatz der Steuern und Abgaben als garantierte Hilfe in schwierigen Lebenslagen zukommen ließ, entledigt sich die politische Administration der Gewährleistung einer angemessenen Grundsicherung, die in die Verantwortung des Einzelnen überführt wird. Nach Maßgabe fortgesetzter Umverteilung von unten nach oben auch in Zeiten ökonomischer Verwerfungen bis hin zur umfassenden Wirtschaftskrise beschneidet der Staat die sozialen Systeme und privatisiert das Gesundheitswesen, um dem Kapital neue Verwertungsmöglichkeiten zu erschließen. Zugleich weicht das Solidarprinzip des Versicherungswesens einer Selbstverantwortung für ausreichenden Schutz, die auf niedrigere Leistungen bei höheren Kosten hinausläuft.

Mit dieser Gefährdung angemessener Lebensverhältnisse für wachsende Teile der Bevölkerung geht ein ideologischer Paradigmenwechsel einher, der das positiv konnotierte Konstrukt der Eigenverantwortung jeder Gesundheitsversorgung voranstellt. Krankheit ist nicht länger ein Wechselfall des Lebens, dem zu begegnen eine selbstverständliche Aufgabe der Gesellschaft ist, sondern vielmehr Resultat eines individuellen Fehlverhaltens, verursacht durch eine falsche Lebensführung. Gebetsmühlenartig leitet die Bezichtigung, man esse, trinke, rauche zu viel und bewege sich zu wenig die Auflistung der Risikofaktoren für nahezu jede Krankheit ein. Der Patient ist zuallererst ein Delinquent am Gemeinwohl, schädigt er doch durch sein unverantwortliches Handeln das Sozialsystem, dessen Inanspruchnahme dem Beweis seiner Renitenz gleichkommt.

Nicht die Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Ausbeutung menschlicher Substanz, Zerstörung sozialer Bezüge und Vernichtung natürlicher Ressourcen werden als maßgebliche Krankheitsursachen identifiziert, böte dies doch Frontverläufe gemeinsamen Aufbegehrens. Anbetung eines fiktiven Gesundheitsideals ist erste Bürgerpflicht, der man mit selbstauferlegten Zwängen und Torturen nachzukommen hat. Wer sich verweigert oder allem Bemühen zum Trotz versagt, muß mit Kontroll- und Zwangsmaßnahmen rechnen. Von der Akzeptanz einer Scheidung in Gewinner und Verlierer bis ins körperliche Erscheinungsbild und die alltäglichsten Handlungen hinein sind es nur noch graduelle Schritte sozialer Grausamkeit, die zum Ruf nach Ausgrenzung und Bestrafung der Gescheiterten führen, haben diese doch per Definition ihr Schicksal selbst herbeigeführt.

Das inhärente Potential dieser Bezichtigung als Universalschlüssel einer Entrechtung, Spaltung und Isolierung der Menschen im Dienst der herrschenden Verhältnisse zeichnet sich mit jedem Schub innovativer Umsetzung immer deutlicher ab. Unter dem Banner angeblicher Prävention werden Kontrollen installiert, Auflagen verhängt und Sanktionen angedroht, welche die letzten Refugien der Privatsphäre aufbrechen, die Lebensführung diktieren und abweichendes Verhalten bestrafen. Wie weit dieser Eingriff inzwischen reicht, dokumentiert ein Vorstoß des Stadtrats von Westminster, der dieser Tage viel Staub aufgewirbelt hat.

Hintergrund der Initiative ist das Vorhaben der britischen Regierung, bei den öffentlichen Kassen zusätzlich 3,5 Milliarden Pfund einzusparen, wobei der Löwenanteil der Kürzungen auf die Sozialhilfe entfällt. So wurde bereits beschlossen, den britischen Kommunen im April die Verantwortung für einen Teil der Gesundheitsausgaben zu übertragen. Zugleich räumt man ihnen größeren Spielraum bei der Festsetzung der individuellen Höhe der Gemeindesteuer ein. Da den Städten und Gemeinden erhebliche Zusatzkosten entstehen, sehen sie sich gezwungen, innovative Maßnahmen zu deren Umlastung auf die Bürgerinnen und Bürger zu ergreifen. Offiziellen Zahlen zufolge belasten Krankheiten, die angeblich durch Übergewicht verursacht werden, das staatlich finanzierte Gesundheitssystem NHS mit rund 6,3 Milliarden Euro im Jahr. Um die Kosten zu senken, sprich die Gesundheitsversorgung einzuschränken, bietet es sich aus Sicht der Verwaltung des Londoner Stadtteils Westminster an, diese ohnehin diskreditierte Bevölkerungsgruppe verstärkt unter Druck zu setzen. Auf diese Weise hofft man, mehrere Milliarden Pfund einzusparen.

In einem Papier mit dem Titel "A Dose of Localism" denkt der von den Tories dominierte Stadtrat öffentlich darüber nach, die Lebensführung sogenannter übergewichtiger Bürger mittels finanzieller Anreize angeblich gesünder zu gestalten. Den ersten Schritt stellt ein hausärztlicher Ratschlag dar, der solchen Patienten Sport in Fitness-Studios verordnet. Im zweiten folgt die Kontrolle der Teilnahme an den verschriebenen sportlichen Aktivitäten im Sportstudio oder Schwimmbad mittels Chipkarten, mit denen die Übergewichtigen in den entsprechenden Einrichtungen ein- und auschecken können. Als dritter Schritt ist die Kopplung der Sozialhilfe, der individuellen Gemeindesteuerhöhe oder weiterer Leistungen und Forderungen an die Einhaltung der ärztlichen Ratschläge vorgesehen. "Wenn ein solches Fitnesspaket einem Sozialhilfeempfänger verschrieben wird, kann sein jeweiliger Anspruch auf Wohngeld und Wohnsteuererlass von seinen Sportaktivitäten abhängig gemacht werden", heißt es in dem Report. Zudem schlägt die Westminster-Studie vor, Veranstaltungsorte, Cafés und Restaurants zu fördern, die keinen Alkohol ausschenken. Dieser sei schließlich einer der Hauptgründe für Übergewicht. [1]

Nicht von ungefähr sprechen die Autoren des Papiers von einem "Zuckerbrot und Peitsche"-Projekt. Wie sie behaupten, könnten Fettleibige nur durch finanzielle Anreizsysteme dazu gebracht werden, mehr auf ihre Gesundheit zu achten. Diese Studie liefere genau das clevere, vorwärtsgewandte Denken und die radikalen Ideen, die man brauche, warb Verwaltungschefin Philippa Roe für das Vorhaben. [2]

Ausgearbeitet wurde die Auftragsstudie von dem auf kommunale Themen spezialisierten Thinktank Local Government Information Unit (LGIU), dessen Chef Jonathan Carr-West grob irreführend von einer "Win-Win-Situation" für Patient und Allgemeinheit spricht. Dies sei eine Chance, sowohl den Menschen zu einem gesünderen, besseren Leben zu verhelfen als auch die Gesundheitskosten für alle zu senken.

Beim Ärzteverband British Medical Association (BMA) stoßen diese Pläne allerdings auf wenig Begeisterung: Verbandssprecher Lawrence Buckman nannte die Vorschläge gegenüber der BBC "die dümmste Idee, die ich seit langem gehört habe". [3] Statt Patienten zum Sport zu zwingen, sollten die Kommunen besser "Restaurants verbieten, in denen es die Art von Essen gibt, das die Leute dick macht". Auch Professor John Wass, stellvertretender Leiter des Royal College of Physicians, äußerte sich kritisch: "Um Kilos zu verlieren, müssen die Betroffenen das wollen", sagte Wass. Er habe große Bedenken, Menschen durch die öffentliche Hand zum Sport zu zwingen. Wie diese Einwände deutlich machen, bezweifeln offenbar maßgebliche Teile der britischen Ärzteschaft die Wirksamkeit so unverhohlen erzwungener sportlicher Betätigung. Zugleich herrscht jedoch die Auffassung vor, daß man mit anderen Zwangsmaßnahmen den Übergewichtigen durchaus zu Leibe rücken müsse.

Susannah Gilbert von der Übergewichtigenorganisation Big Matters ging nach eigenen Angaben zunächst von einem Witz aus, als sie das erste Mal von den Plänen hörte. Es wäre ihres Erachtens fairer, das Geld zur Unterstützung Betroffener statt zu ihrer Bestrafung zu verwenden. Initiativen zur Förderung der Gesundheit sollten stets ganzheitlich sein, zumal Ernährungsprobleme nicht selten auf psychische Ursachen zurückzuführen seien. Eine Fast-Food-Generation bedürfe langfristiger Unterstützung.

Unterfüttert wird die Kritik am Vorhaben des Stadtrats von Westminster durch eine Metastudie in der aktuellen Ausgabe des Journal of the American Medical Association (JAMA). Die Forscher des US National Centre for Health Statistics zogen aus einer Vorauswahl von insgesamt 7036 Fachbeiträgen 97 Studien für ihre Untersuchung heran, die Daten von insgesamt mehr als 2,88 Millionen Probanden und über 270.000 Todesfällen beinhalten. Der Metastudie zufolge hat nach einem Herausrechnen anderer Risikofaktoren wie dem Rauchen der weitaus größte Teil der Übergewichtigen - nämlich der mit einem Body Mass Index (BMI) zwischen 25 und 35 - keine höheres, sondern ein um fünf bis sechs Prozent niedrigeres Sterblichkeitsrisiko als ein Normalgewichtiger. Nur bei einem BMI über 35 liege es um 29 Prozent höher. [4]

Wie nicht anders zu erwarten stieß die Metastudie auf heftige Kritik in Kreisen der Ärzteschaft [5], bestreitet ihre Kernaussage doch das Dogma vom lebensverkürzenden Übergewicht in erheblichen Teilen. Dr. Walter Willett von der Harvard School of Public Health nennt sie einen "noch größeren Haufen Mist" als jene Studie, welche dieselbe Forschergruppe 2005 veröffentlicht hatte. Prof. John Wass, Vizepräsident des Royal College of Physicians, erklärt nicht minder unsachlich, man habe ja wohl noch nie einen übergewichtigen Hundertjährigen gesehen. Tam Fry vom britischen National Obesity Forum spricht von einer "furchtbaren Botschaft gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt": Niemand sollte es für selbstverständlich erachten, daß man getrost "die sportliche Betätigung streichen und sich mit Schwarzwälder Kirschtorte zu Tode essen kann". Weniger demagogisch, doch gleichermaßen spekulativ muten alternative Erklärungsversuche für die Ergebnisse der Studie an. Übergewichtige würden möglicherweise häufiger und gründlicher untersucht oder überlebten schwere Krankheiten mit Klinikaufenthalten eher als normalgewichtige Patienten. Donald Berry von der University of Texas mutmaßte, daß sich unter den dünnen Probanden auch Kranke befunden hätten, die eben häufiger stürben.

Man könnte natürlich einwenden, daß der zugrunde gelegte Body Mass Index (BMI) auch nach gängiger Auffassung längst als ungenaues und daher wenig aussagekräftiges Bemessungsinstrument gilt. Er wurde jedoch bei der Metastudie gerade wegen seiner nach wie vor weiten Verbreitung herangezogen, um eine Vergleichbarkeit der 97 ausgewerteten Studien zu gewährleisten. Daher richtete sich jeder Einwand gegen den BMI nicht nur gegen die Metastudie, sondern die diesbezügliche Forschungslandschaft insgesamt. Längst kann man von einer Inflation solcher Indizes sprechen, die einerseits den BMI weiterentwickeln wie der Area Mass Index (AMI), der die Statur und das Geschlecht des Probanden berücksichtigt, oder wie die "Waist-to-height ratio" (WHtR) mit dem Bauchumfang eine andere Meßgröße in den Vordergrund rücken. Bekannt sind zudem der Broca-Index, der Ponderal-Index, der Körperbau-Entwicklungsindex von Wutscherk, das Taille-Hüft-Verhältnis (WHR), die Messung der Körperoberfläche und manches mehr. Der Body-Adiposity-Index (BAI) wiederum ist eine vom BMI verschiedene Methode, mit der der prozentuale Körperfettanteil berechnet bzw. abgeschätzt werden soll.

Die unablässige Vermehrung solcher Indizes läßt darauf schließen, daß sich in diesem Sektor des Gesundheitswesens besonders viele Forschungsmittel und beträchtliche Einkünfte generieren lassen. Daß man daraus einen Zuwachs an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten könne, darf bezweifelt werden, zeugt doch der Wildwuchs einander nicht selten widersprechender Erklärungsmodelle eher vom Gegenteil. Auf Grundlage der axiomatisch vorausgesetzten Doktrin, daß sogenanntes Übergewicht eine der wichtigsten Ursachen zahlreicher Krankheiten sei, treibt der Versuch, die Delinquenz des Menschen mit der Vermessung seiner Körperlichkeit dingfest zu machen, geradezu exotische Blüten wie die fast schon theologisch anmutende Unterscheidung von "gutem" und "schlechtem" Fett.

Grundsätzlich trifft zu, daß zahlreiche Studien die vorherrschende Auffassung vom krankmachenden Übergewicht stützen. Wenn aber die generalisierte Behauptung, es handle sich dabei um gesichertes medizinisches Wissen durch eine Metastudie des vorliegenden Umfangs erschüttert wird, sollte dies doch zumindest dem gebotenen Zweifel Raum geben und einer ergebnisoffenen Forschung den Weg bereiten. Gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen von größter Tragweite mit einem keineswegs geklärten medizinischen Kausalnexus zu begründen, verbietet sich von selbst.


Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/wirtschaft/article112389997/Dicke-Briten-sollen-fuer-Sozialhilfe-strampeln.html

[2] http://www.bbc.co.uk/news/uk-england-london-20897681

[3] http://www.heise.de/tp/blogs/8/153476

[4] http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=1555137

[5] http://www.bbc.co.uk/news/health-20889381

10. Januar 2013