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INTERVIEW/006: Ersatzteillager Mensch - Heinrich Lang äußert rechtliche Kritik (SB)


"Aus meiner Sicht ist das System, wie es gegenwärtig implementiert ist, verfassungsrechtlich unhaltbar."

Interview mit Prof. Dr. Heinrich Lang am 24. März 2012 in Essen-Steele



Prof. Dr. Heinrich Lang ist Professor für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Greifswald. Im Juni 2011 nahm er als juristischer Sachverständiger an einer Anhörung des Deutschen Bundestages zur Reform des Transplantationsgesetzes (TPG) von 1997, dessen erste Lesung am 22. März dieses Jahres stattgefunden hat, teil. Da die Gesetzesnovelle dem Zweck dienen soll, die Akzeptanz der Transplantationsmedizin in der Bevölkerung und, damit eng zusammenhängend, das sogenannte Spendenaufkommen zu erhöhen, ist das Thema "Organspende" in Medien und Öffentlichkeit zur Zeit einigermaßen präsent. Ob dabei tatsächlich, wie behauptet, eine umfassende Aufklärung betrieben wird, ist allerdings ebenso umstritten wie die Transplantationsmedizin insgesamt.

In Essen hat am 23. und 24. März 2012 ein Seminar zum Thema "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert", organisiert vom Verein BioSkop und der Hospizbewegung Omega, stattgefunden, um über die vielen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, zu informieren und aufzuklären, aber auch ein Forum für Diskussionen und weiterführende Fragestellungen zu bieten. In diesem Rahmen hat Prof. Lang mit seinem Seminarvortrag zum Thema "Kontrolldefizite im Transplantationssystem und Pläne zur Änderung des Transplantationsgesetzes" in juristischer Hinsicht aufklärerisch gewirkt [1]. Im Anschluß daran bot sich dem Schattenblick die Gelegenheit, dem Referenten einige Fragen zu stellen.

Prof. Dr. Heinrich Lang im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Heinrich Lang von der Universität Greifswald
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Vor einem halben Jahr war in der Presse zu lesen, daß in einem anonymen und an Bundestagsabgeordnete sowie das Bundesgesundheitsministerium gerichteten Schreiben gegen die Deutsche Stiftung Organtransplantation heftige Vorwürfe aus dem Umfeld erhoben worden wären. Darin sei dem Vorstand eine "Selbstbedienungsmentalität" sowie ein "Führungsstil nach Gutsherrenart" nachgesagt und behauptet worden, daß kritische Mitarbeiter mundtot gemacht, gemobbt und entlassen worden wären. Dies wurde in dem am 28. Oktober 2011 im "Freitag" [2] veröffentlichten Artikel als eine Indiskretion bezeichnet, die dem Image der Stiftung schade und vermutlich nicht nur auf die Debatte um das Transplantationsgesetz ziele, sondern mit der rückläufigen Zahl der Organspenden zusammenfalle. Bundesgesundheitsminister Bahr soll sofort reagiert und die Stiftungsaufsicht beauftragt haben, die Vorwürfe zu prüfen. Wissen Sie, zu welchen Ergebnissen diese Prüfung geführt hat?

Heinrich Lang: Nein, das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Ich habe diese Debatte zwar verfolgt und kenne auch diese Schreiben, kann aber über deren inhaltliche Berechtigung nichts aussagen. [3]

SB: Die DSO verfügt laut "Freitag" über 33,2 Millionen Euro pro Jahr. Dieses Geld kommt aus der Krankenversicherung.

HL: Ja.

SB: Nun ist die Transplantationsmedizin, auch wenn es im Bundestag einen Allparteienkonsens zu ihrer Unterstützung gibt, alles andere als unumstritten. Ist die Finanzierung einer solchen Stiftung, die nicht zuletzt aus den Beiträgen der Krankenversicherten stammt, insofern nicht problematisch?

HL: Ich würde sagen: nein. Denn das Problem liegt darin, daß die Transplantationsbehandlung als eine medizinische Standardbehandlung gilt. Bei bestimmten Indikationen, einer Niereninsuffizienz zum Beispiel, ist das als medizinische Behandlung der Wahl allgemein anerkannt. Es geht jetzt nicht um eine Außenseitermethode oder ähnliches, bei der man über solche Fragen nachdenken könnte, sondern es ist gerade umgekehrt. Ein Patient, der eine solche Behandlung wünscht, könnte wohl sogar mit einigem Erfolg darauf klagen, sie zu erhalten. Die Grundsatzfrage, daß das finanziert wird unter anderem durch die gesetzliche Krankenversicherung, sehe ich rechtlich als unproblematisch an.

Heinrich Lang mit SB-Redakteurin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Heinrich Lang mit SB-Redakteurin während des Interviews
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: In Ihrem Vortrag haben Sie bereits über "defizitäre Selbstkontrolle" und "mangelnde Transparenz" im Transplantationswesen gesprochen und dabei auch die kaum nachvollziehbaren Auswahlkriterien bei der Organverteilung angesprochen. Könnten Sie dazu noch etwas sagen?

HL: Was ich vielleicht noch einmal betonen möchte: Das Hauptproblem liegt darin, daß das Gesetz nur zwei Kriterien - Erfolgsaussicht und Dringlichkeit - nennt, die beide tendenziell widersprüchlich sind, und die konkrete Ausgestaltung dann den Richtlinien der Bundesärztekammer überläßt. Detaillierte Auswahlkriterien sind nur in diesen Richtlinien bzw. in den Eurotransplant-Handbuchregelungen normiert, und das wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.

SB: Nun werden Gesetze von Juristen gemacht. Da könnte man eigentlich vermuten, daß ein bißchen mit Absicht oder auch ganz gezielt diese Widerspüchlichkeit, so wie Sie es eben geschildert haben, implementiert wurde.

HL: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Ich glaube, daß man bei dem Gesetz 1997 von der Idee einer "regulierten Selbstregulierung" beseelt war. Man wollte möglichst viel dieser Entscheidungen in die Zivilgesellschaft zurückgeben. Das möchte ich zunächst einmal durchaus als eine positive Absicht des Gesetzgebers unterstellen. Was dann dabei herausgekommen ist, ist aus meiner Sicht aber defizitär, also verwirklicht dieses Konzept nicht. Aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, man hat das bewußt von Anfang an so formuliert, um alle Deutungsspielräume zu eröffnen. So würde ich das nicht sehen.

SB: Könnte man das Transplantationswesen als ein Instrumentarium bezeichnen, durch das - allen Behauptungen zum Trotz und ungeachtet der gesetzlichen Regelungen - der besitzende Teil der Gesellschaft sein Überleben organisieren kann zu Lasten anderer, zumeist ärmerer Menschen, was gegebenenfalls mit der Frage nach den Auswahlkriterien eng zusammenhängt?

HL: Das könnte ein Aspekt sein. Daß die Auswahlkriterien jetzt so etwas wie sozialen Reichtum abbilden würden, kann ich allerdings nicht nachvollziehen und würde ich so nicht sehen. Aber in einem Punkt ist das Transplantationsgesetz schon etwas fundamental Neues. Zum ersten Mal wird ein Mensch normativ von der lebensverlängernden Behandlung ausgeschlossen, während bisher solche Entscheidungen zwar auch getroffen, aber nicht rechtlich verankert worden sind. Dieses Gesetz ist das erste Gesetz, das ich kenne, bei dem jemand gesetzlich ausgeschlossen werden kann. Ich glaube, daß mögliche Zukunftsszenarien Ihr Horrorbild erfassen könnten, so wie bei der im Vortrag kurz angesprochenen Kombination von Klontechnik einerseits und der Gewinnung von Organen andererseits. In den Beispielen, die ich aus der Literatur genannt habe, also beispielsweise in diesen Jugendbüchern oder in dem Roman von Ishiguro [4], ist es ja so, daß Organdatenbanken erstellt werden, damit die Herrschenden der Gesellschaft sich an diesen Organen bedienen können. Das ist aber kein Abziehbild der gegenwärtigen Wirklichkeit, so würde ich das nicht sehen.

SB: Gibt es vielleicht einen Widerspruch zwischen, sagen wir einmal, Praxis und Gesetzgebung? Denn daß man eine solche soziale Auswahl in ein Gesetz nicht hineinschreiben kann, ist klar, das wäre gar nicht machbar, aber dann fließen da vielleicht doch Gelder...

HL: Solche sozialen Auswahlkriterien kenne ich nicht. In einem Punkt, der in den inkriminierten Bereich geht, könnte es allerdings eine Sozialauswahl geben. Wenn Sie daran denken, daß wir zum Beispiel sagen, ein Alkoholiker muß ein halbes Jahr trocken sein, bevor er ein Organ bekommen kann - da finde ich, wird diskriminiert. Aber daß allein nach sozialer Herkunft entschieden wird, glaube ich nicht. Wenn Sie zum Beispiel einen Penner oder eine Mutter von den drei Kindern haben, so wie das gern diskutiert wird, glaube ich nicht, daß das die Praxis abbilden würde. Das liegt übrigens auch daran, wenn ich das so sagen darf, daß die Zuteilungsentscheidung tatsächlich computergestützt läuft, zum Teil auch nach harten medizinischen Daten wie Blutgruppenkompatibilität oder ähnlichem. Das ist nicht nur eine Sozialauswahl. Die sozialen Kriterien wie Compliance [5] spielen zwar auch eine Rolle, gehen jedoch nur zu einem bestimmten Bruchteil in die Entscheidung ein. Deshalb sehe ich diese Gefahren derzeit nicht.

Prof. Lang im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Lang plädiert für eine Organverteilung in staatlicher Verantwortung
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie sind Professor für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Greifswald. Wenn Sie die Aufgabe hätten, das Transplantationsgesetz insgesamt wie auch in Hinsicht auf die im Entwurf aller fünf Bundestagsparteien vorgesehenen Änderungen zu bewerten, wie würde unterm Strich das Ergebnis einer solchen verfassungsrechtlichen Prüfung aussehen?

HL: Aus meiner Sicht ist das System, wie es gegenwärtig implementiert ist, verfassungsrechtlich unhaltbar. Ich würde dafür plädieren - auch wenn das jetzt natürlich eine gewisse Sonntagsrede ist -, in einen länger andauernden gesellschaftlichen Diskurs über diese Frage zu treten. Ich halte es für einigermaßen bedenklich, daß solche existentiellen Grundsatzentscheidungen getroffen werden, ohne daß in der Gesellschaft eine breite Diskussion darüber stattgefunden hat. Ich glaube, daß der Organmangel noch eine ganze Weile bleiben wird. Das würde bedeuten, daß wir noch für eine längere Zeit Auswahlentscheidungen treffen werden. Die sollten aus meiner Sicht vielleicht nicht unbedingt in, aber nach einem gesellschaftlichen Diskurs gefällt werden. Das wäre die erste Forderung: Eine umfassende Diskussion, die übrigens auch eine umfassende Aufklärung und vieles von dem, was wir in den letzten beiden Tagen gehört haben, aufnehmen müßte, zum Beispiel auch das, was Frau Meyer erzählt hat [6].

Auf der zweiten Ebene, bei der konkreten juristischen Umsetzung, würde ich persönlich für eine staatliche Stelle plädieren, weil das, wie ich im Vortrag oder in der Diskussion ja auch versucht habe zu sagen, einfach die rechtsstaatliche Kontrolle effektivieren würde. Diese Auslagerung auf private Institutionen zum Teil im Ausland wäre etwas, von dem ich glaube, daß man es beseitigen und in die staatliche Verantwortung übergeben sollte. Da wäre es nämlich dann auch demokratisch zu verantworten.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag schon angedeutet, daß Sie mit dieser Bewertung und Ihren Forderungen ein bißchen wie ein einsamer Rufer in der Wüste sind. Auch unter Berufskollegen?

HL: Das habe ich vielleicht überzeichnet formuliert oder es ist überzeichnet rübergekommen. Wir sind nicht in der Mehrheit, aber ich bin nicht der einzige. Es gibt auch Kollegen, die das vor mir so gesehen haben. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als sei ich da der einzige. Aber wir sind nicht gerade die Mehrheit. Die kritischen Stimmen nehmen allerdings unter zwei Gesichtspunkten zu. Das ist einmal der Hirntod selber, bei dem zunehmend auch von Verfassungsrechtlern bestritten wird, daß das der Todeszeitpunkt ist. Ich würde sagen, daß die Hirntod-Kritiker, zu denen ich mich jetzt rechne, deutlich auf dem Vormarsch sind. Da gewinnen wir schon an Terrain. Das zweite sind die rechtsstaatlichen und demokratietheoretischen Probleme, über die ich heute hauptsächlich gesprochen habe. Da sind wir in der Minderheit, weil viele Kollegen sich dazu schlicht nicht äußern. Aber: Steter Tropfen höhlt den Stein, oder?

SB: In bezug auf den Bundestag ist es zur Zeit immer noch so, daß es einen Allparteienkonsens gibt, wobei man eigentlich von der Linkspartei noch am ehesten hätte erwarten können, daß sie die kritischen Positionen der gesamten Thematik aufgreifen würde. Sehen Sie Möglichkeiten, daß Sie quasi als Verfassungs- und Staatsrechtler Einfluß nehmen oder gewinnen könnten oder daß Ihre Stimme von einer der Parteien gehört werden könnte?

HL: Für mein Selbstverständnis ist das eine politische Nähe, die ich nicht suche. Ich möchte sozusagen zu keiner Partei eine solche Nähe aufbauen. Ich betrachte mich an dieser Stelle tatsächlich als neutral und würde deshalb nicht versuchen, auf eine Partei Einfluß zu nehmen. Aber ich trage das, was ich zu dem Thema zu sagen habe, vor, wo immer ich es kann. Das betrifft zunächst einmal natürlich die juristischen Plattformen oder, wie hier, eher übergreifende Veranstaltungen. Aber sozusagen Parteimitglied oder so etwas zu werden, um das in eine Partei einzuspeisen, das würde ich nicht tun. Ich möchte neutral sein.

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Demokratietheoretische Probleme - im Zusammenhang mit der Organspende noch kaum erörtert
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SB: Eine etwas heikle Thematik möchte ich gerne noch ansprechen. Wir haben auf dem Seminar hier von Angehörigen Schilderungen gehört dazu, was bei einer Organentnahme geschieht, wobei ich jetzt auch an Frau Meyer [6] denke. Mir ist bewußt, daß es aus juristischen Gründen natürlich schwierig ist, hier von Tötungsdelikten zu sprechen, auch wenn das menschliche Empfinden der Angehörigen oder vielleicht jedes Menschen, der eine solche Schilderung hört, eigentlich danach schreit zu fragen, ist das nicht Mord? Wie würden Sie sich als Mensch und als Jurist dazu äußern?

HL: Sie haben jetzt die Formulierung "Mord" gebraucht. Da ist man als Jurist insofern schon etwas befangen, weil das ein Terminus technicus und nicht jede Tötungshandlung ein Mord ist. Natürlich wird das in der Transplantationsmedizin nicht als Tötungshandlung gesehen. Es ist die Frage, wie man zum Hirntod steht. Wenn man der Meinung ist, daß der Hirntod nicht der Tod des Menschen ist, dann führt die Organentnahme in der Tat zum Tod. Ob das ein Tötungsdelikt ist, hängt wiederum von der Frage der Einwilligung ab. Man müßte dann überlegen, ob man überhaupt einwilligen kann, was zu einer juristisch schwierigen Konstruktion führt, weil wir in unserem Strafrecht das Verbot der Tötung auf Verlangen haben. Sie können also nicht zu jemand anderem sagen, auch wenn Sie es ernst meinen: Töte mich. Das ist strafrechtlich verboten.

Wenn man aber, wie ich, den Hirntod als Todeszeitpunkt ablehnt, aber gleichzeitig sieht, daß die Transplantationsmedizin auch Erfordernisse hat und sie nicht in toto ablehnt - dazu gehöre ich nicht -, dann ist natürlich die Frage, wie man das konstruieren könnte. Es ist eine, wie ich meine, offene Frage, ob man so weit gehen kann zu sagen: Kann man in dem vollverantwortlichen Zustand, in dem wir uns jetzt befinden, eine Erklärung abgeben, daß man, wenn man in den Zustand des Hirntodes gerät, sich zwar als unwiederbringlich sterbend bezeichnen, aber einwilligen kann, daß lebensverlängernde Maßnahmen dann nicht mehr vollzogen werden sollen, und insofern auch einer Organentnahme zustimmen kann?

Ich gebe aber zu und sage das ausdrücklich dazu: Das ist eine juristisch ebenfalls angreifbare Position. Dieses Dilemma kann ich nicht lösen, eine ganz saubere Auflösung kann ich nicht bieten. Ich sehe das Problem, daß die gegenwärtige Konstruktion, die auf dem Hirntod gestützt ist, von mir abgelehnt wird, weil ich den Hirntod ablehne. Ich habe aber keine bruchfreie Konstruktion für die Frage "Was dann?" Das ist in den Auseinandersetzungen, die ich mit Transplantationsbefürwortern führe, das Problem. Die sagen immer: Ja, was hast denn du dagegen zu setzen? Und da habe ich regelmäßig kein bruchfreies System meinerseits anzubieten. Das muß man selbstkritisch einräumen. Ich kann das Problem nicht auflösen.

SB: Nun ist ja, wissenschaftlich gesehen, das Hirntodkonzept heftig umstritten. Namhafte Wissenschaftler wie beispielsweise der US-Neurologe Alan Shewmon halten es für widerlegt. [7] Da könnte es doch eigentlich bei Transplantationschirurgen Ängste geben, daß sie sich damit, streng juristisch gesehen, sehr wohl eines Tötungsdelikts schuldig machen könnten. Halten Sie es für möglich, daß sie vielleicht darauf vertrauen, daß die Justiz ihnen keine Schwierigkeiten bereiten wird, jedoch nicht aus juristischen, sondern eher aus, sagen wir einmal so, "politischen" Gründen?

HL: Nun, im Moment ist die Frage rechtlich einfach beantwortet, allerdings nicht vom Verfassungsrecht her. Im Transplantationsgesetz steht glasklar drin: Als Voraussetzung für die Organentnahme gilt die Definition des Hirntodes. Jeder Arzt also, der einem Hirntoten ein Organ entnimmt, macht sich definitiv nach deutschem Recht nicht strafbar. Er braucht auch nicht die Angst haben, daß er sich strafbar machen könnte. Eine andere Frage ist, wie wir jetzt unter ethischen Gesichtspunkten oder unter Infragestellung des Hirntodes diesen Vorgang bewerten. Aber sozusagen positiv-rechtlich, so wie das Recht im Moment ausgestaltet ist, ist die Organentnahme definitiv keine Tötungshandlung. Das wäre nur der Fall, wenn man den Hirntod im Gesetz abschaffen würde. Aber im Moment ist das klar geregelt.

SB: Dazu habe ich noch eine kleine Verständnisfrage. Ist es nicht so, daß der Gesetzgeber sich davor gedrückt hat, den Hirntod wie auch den Herztod genau zu definieren und lediglich von "Stand der Forschung" gesprochen hat? Ist das nun so zu verstehen, daß der Hirntod solange gemeint ist, wie er in der Wissenschaft mehrheitlich anerkannt ist, auch wenn dies explizit im Gesetz nicht geschrieben steht oder wie ist zu verstehen?

HL: Ganz so ist es nicht. Dem Mißverständnis kann man leicht erliegen. Das Gesetz verwendet zwei unterschiedliche Todesbegriffe. In § 3, Abs. 2 wird im Gesetz ausdrücklich festgelegt, daß die Voraussetzung der Organentnahme die Feststellung des Ausfalles des Großhirns und des Hirnstamms ist, also der Hirntod. Das heißt, daß der Hirntod im Gesetz wirklich auch geregelt ist. Er ist aber nicht in dem Sinn eines allgemeingültigen Todeszeitpunktes im Gesetz festgelegt, sondern lediglich als der Zeitpunkt, ab dem man Organe entnehmen darf. [8]

SB: Das steht dann auch in Verbindung mit der Nur-Tote-Spender-Regel?

HL: So kann man sagen, genau. Es gibt an anderer Stelle im Gesetz noch einen davon abweichenden Todesbegriff. Das ist diese doppelte Konstruktion, die auf dem historischen Kompromiß beruht, den man 1997 geschlossen hat, weil die Frage, ob der Hirntod der Tod des Menschen ist, damals ein großer Streitpunkt war. Der Gesetzgeber wollte einfach beide Seiten ins Boot holen und hat deshalb beide Todesbegriffe verwandt. Trotzdem muß man einräumen, daß das Gesetz glasklar regelt, daß die Voraussetzung der Organentnahme der Hirntod ist. Das ist im Moment auf gesetzlicher Ebene so beantwortet. Eine ganz andere Frage ist, um das noch einmal klarzustellen, ob man aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht sagen kann: Das kann nicht der Tod des Menschen sein, weil man zu viele Aspekte von Leben, über die wir hier bereits lange gesprochen haben, bei einem Hirntoten feststellt.

SB: Eine letzte Frage noch zu der Gesetzesnovelle, die jetzt verabschiedet werden soll. Einmal angenommen und vorausgesetzt, die Transplantationsbefürworter kämen mit diesen oder auch weiteren Plänen durch und könnten ihre Vorstellungen durchsetzen: Wie wird sich das in den nächsten drei oder auch zehn Jahren weiterentwickeln? Würden Sie einen Vorgriff auf die Zukunft wagen? Was haben wir da zu gegenwärtigen?

HL: Das weiß ich natürlich auch nicht, weil ich nicht in die Zukunft blicken kann. Aus meiner Sicht ist das, was jetzt unter dem Schlagwort "Entscheidungslösung" diskutiert wird, verfassungsrechtlich erst einmal unproblematisch. Man befragt die Leute und die sollen sich erklären. Es gibt dann keinerlei Konsequenzen, sieht man einmal von den datenschutzrechtlichen Aspekten ab, über die wir schon gesprochen haben. Ich könnte mir aber eine gewisse Zukunftsphantasie, von der ich nicht weiß, ob sie eintreten wird, vorstellen. Wenn sich in weiteren fünf oder zehn Jahren die Spenderzahlen noch immer nicht erhöht haben, könnte ich mir vorstellen, daß aus der Transplantationsmedizin, aber vielleicht auch vom Gesetzgeber, der das sowieso schon lange will, das Argument kommt: "Jetzt haben wir eigentlich alles probiert, nun müssen wir zur Widerspruchslösung [9] kommen. Als minderes Mittel haben wir die Entscheidungslösung probiert, aber die hat ja nicht zu einer Erhöhung der Zahlen geführt und die Zustimmungslösung auch nicht. Und deshalb ist jetzt der Zeitpunkt erreicht, an dem wir die Widerspruchslösung brauchen." Das sind so gewisse Bedenken, die ich habe, die ich aber nicht weiter artikulieren oder beweisen kann. Ich kann nur sagen, daß ich das so sehe, aber ich kann es nicht belegen. Das könnte, wenn ich jetzt in die Zukunft gucken sollte, ein Aspekt sein, denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre in Deutschland die Widerspruchslösung wohl kaum durchsetzbar. Der Gesetzgeber oder die Befürworter dieser Lösung hätten natürlich einen etwas anderen Background, wenn sie sagen könnten: Wir haben alles andere probiert.

SB: Vielen Dank, Herr Lang, für dieses ausführliche Gespräch.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Heinrich Lang in Sorge um die Zukunft

Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:

[1]‍ ‍Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> MEDIZIN -> REPORT (13.04.2012):
BERICHT/007: Ersatzteillager Mensch - Verfassung vor der Tür (SB)
http://schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0007.html

[2]‍ ‍Skandal zur Unzeit. "Selbstbedienungsmentalität" und "Vetternwirtschaft"? Die Deutsche Stiftung Organtransplantation steht in Verdacht geschäftlicher Unregelmäßigkeit. Von Ulrike Baureithel, der Freitag, 28.10.2011
http://www.freitag.de/datenbank/freitag/2011/43/skandal-zur-unzeit/print

[3]‍ ‍Eine Woche nach dem Interview veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel, in dem auf ein ihr angeblich vorliegendes vertrauliches Gutachten einer vom DSO-Stiftungsrat zur Prüfung der Vorwürfe beauftragten Wirtschaftsprüfungsfirma Bezug genommen wurde. Demnach hätten die Gutachter festgestellt, daß der DSO-Vorstand edelste Schreibgeräte genutzt, für ein Vorstandsmitglied vier Dienstwagen in sechs Jahren angeschafft und Aufträge an Bekannte vergeben hätte. Den Verantwortlichen sei etwas Strafbares jedoch nicht vorzuwerfen. Seitens einer Linkspolitikerin sei das Gutachten kritisiert worden, weil "wesentliche Vorwürfe", so der "Führungsstil nach Gutsherrenart", unberücksichtigt geblieben wären.
Quelle: Ein Herz für Dienstwagen. Prüfer decken dubiose Ausgaben bei Organstiftung auf, von Christina Berndt, Süddeutsche Zeitung, 30.03.2012

[4]‍ ‍Das 2005 erschienene Buch des japanischen Autors Kazuo Ishiguro, "Alles, was wir geben mussten", gilt als "Klonroman" und handelt von tödlichen Wissenschaftsexperimenten im Zusammenhang mit Klontechnik und Organspenden.

[5]‍ ‍Wie Prof. Lang in seinem Vortrag ausführte, wird unter Compliance die Bereitschaft des Patienten verstanden, an der eigenen Genesung mitzuwirken. Dies stelle in den Vergaberichtlinien ein Zuteilungskriterium dar, das der Jurist als ein "in hohem Maße deutungsoffenes Kriterium" bezeichnete, durch das Menschen ausgegrenzt werden können.

[6]‍ ‍Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> MEDIZIN -> REPORT (13.04.2012):
BERICHT/008: Ersatzteillager Mensch - Eltern am Abgrund (SB)
http://schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0008.html
INTERVIEW/004: Ersatzteillager Mensch - Gisela Meyer plädiert für kritische Aufklärung (SB)
http://schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0004.html

[7]‍ ‍Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> MEDIZIN -> REPORT (30.03.2012):
BERICHT/004: Hirntod im Handel - Innovative Legitimation etablierter Entnahmepraxis (SB) http://schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0004.html

[8]‍ ‍Im zweiten Abschnitt des Transplantationsgesetzes (TPG) vom 5.‍ ‍November 1997, in dem die "Organentnahme bei toten Organspendern" behandelt wird, heißt es in § 3 ("Organentnahme mit Einwilligung des Organspenders"), Abs. 2 wörtlich, daß die Entnahme von Organen unzulässig ist,
"- wenn die Person, deren Tod festgestellt ist, der Organentnahme widersprochen hatte,
- nicht vor der Entnahme bei dem Organspender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist."
Quelle: http://www.gesundheitsamt.de/alle/gesetz/spende/tpg/absch02/p03.htm

[9]‍ ‍Zur Erläuterung: Die Widerspruchslösung beinhaltet, daß jeder Mensch, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich der Möglichkeit einer Organentnahme widersprochen hat, automatisch zum Organspender werden könnte. Eine Zustimmung des "Spenders" oder auch nur seiner Angehörigen ist dafür nicht erforderlich. In einigen europäischen Ländern, beispielsweise in Österreich und Spanien, gilt heute schon die Widerspruchslösung auch bei Ausländern, die aus Staaten kommen, die wie die Bundesrepublik Deutschland die Widerspruchslösung nicht haben.


18.‍ ‍April 2012