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INTERVIEW/016: Ersatzteillager Mensch - Mona Motakef plädiert für Perspektivenvielfalt (SB)


"Wir brauchen einen Diskurs über die vielfältigen Ambivalenzen"

Interview mit Mona Motakef am 24. März 2012 in Essen-Steele


Mona Motakef - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mona Motakef
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Mona Motakef hat Sozialwissenschaften und Pädagogik (Interkulturelle Kommunikation) an der Carl. v. Ossietzky Universität Oldenburg und der University of Port Elizabeth/Südafrika studiert. 2010 promovierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Thema "Verfügbare Körper - Veräußerbare Subjekte: Organspende als Ort biopolitischen Regierens". Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Essener Kolleg für Geschlechterforschung der Universität Duisburg-Essen und in der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe (DFG) "'Liebe', Arbeit, Anerkennung: Anerkennung und Ungleichheit in Doppelkarrierepaaren" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seit 1. Januar 2011 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen im Arbeitsbereich "Soziale Ungleichheit und Geschlecht". [1]

Mona Motakef war eine der Referentinnen der Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert", die am 23./24. März 2012 im Kulturzentrum GREND in Essen-Steele stattfand. Am Rande der Konferenz beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick: Frau Motakef, Sie hatten in Ihrem Vortrag das Thema der Gabe angesprochen. Wir leben ja in einer Gesellschaft, in der es wenig umsonst gibt und die Verhältnisse der Menschen untereinander über den Warenverkehr vermittelt sind. Ist die Gabe der kapitalistischen Gesellschaft so wesensfremd, daß sie aus ihr verdrängt wurde?

Mona Motakef: Das ist eine interessante Frage. Zum einen wird in der Soziologie eine Debatte darüber geführt, ob es überhaupt noch Gaben gibt. Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, daß Gabegesellschaften sogenannte archaische Gesellschaften gewesen seien, in denen es noch kein Geld gab. Man ging davon aus, daß es in den modernen kapitalistischen Gesellschaften, in denen alles über Geld vermittelt funktioniert, keine Gaben mehr gebe. Ich würde dem widersprechen, weil es durchaus viele Formen von Ökonomien gibt, die auf Gabelogiken basieren. Man denke in diesem Zusammenhang nur an den Bereich der Pflege oder der Kinderbetreuung, aber auch an die Organspende oder Blutspende. Es handelt sind dabei sehr oft um Sphären, in denen Frauen tätig sind. Allerdings kann man einräumen, daß das keine reinen Gabeökonomien mehr sind. Es vermischen sich vielmehr Gabelogiken mit Geldlogiken. Auch die Organspende ist dafür ein prägnantes Beispiel, weil zum einen gefordert wird, daß sie auf jeden Fall freiwillig und ein Geschenk sein müsse, während es auf der anderen Seite auch in Deutschland Organhandel gibt.

SB: Wie Sie in ihrem Referat ausgeführt haben, spenden Frauen in höherem Maße Organe als Männer oder werden stärker dazu herangezogen. Könnte man dieses Phänomen mit anderen Sektoren der Gesellschaft in Verbindung bringen, in denen Frauen eine wichtige Rolle in der Ökonomie spielen und einen wesentlichen Beitrag zu ihr leisten, der jedoch weithin ausgeblendet wird?

MM: Auf jeden Fall. Ich würde das auch gar nicht so sehr voneinander trennen. Meines Erachtens werden Frauen so sozialisiert, daß sie sich stärker für andere Menschen verantwortlich fühlen. Beispielsweise liegt die Gesundheit der Familie oder auch die Pflege in der Verantwortung der Frau, da es sehr häufig Töchter sind, die ihre Eltern pflegen, und nicht etwa die Söhne. Das ist auch bei der Kinderbetreuung so, wie sich überhaupt der gesamte übrige Bereich der Reproduktion wie etwa die Hausarbeit aus unbezahlten Tätigkeiten zusammensetzt. Daher ist es nicht verwunderlich, daß es sich bei der Organspende ebenso verhält. Eine Teilnehmerin hat ja heute morgen schon in der Diskussion die Interviews mit Frauen angesprochen, die Lebendorganspenden gemacht haben. Diese Frauen haben sehr häufig die Auffassung geäußert, sie hätten ihrem Kind doch schon einmal Leben geschenkt. Warum sollten sie es daher nicht noch ein zweites Mal tun? Zudem quält diese Mütter oftmals die Vorstellung, sie hätten ihrem Kind ein falsches Leben geschenkt, weil die Niere versagt hat. Dann wäre die Lebendorganspende sozusagen ein Versuch, beim Kind einen Fehler wiedergutzumachen.

All diese Gedanken findet man bei Männern nicht. Wenn Männer Organe spenden, verhält es sich tatsächlich so, daß sie in Interviews eher sagen, sie hätten sich die Sache lange überlegt und sich schließlich dafür entschieden. Sie wüßten aber auch, daß es etwas ganz Besonderes sei. Hingegen sehen Frauen eine Organspende gar nicht als etwas Besonderes, sondern eher als Selbstverständlichkeit. Deswegen würde ich argumentieren, daß es im Prinzip gar keine Entscheidung ist. Die Gesetzgebung sieht ja vor, daß man sich auf rationaler Basis entscheiden soll. Man soll Argumente abwägen. Das tun viele Frauen überhaupt nicht auf diese Weise. Für Frauen ist es einfach selbstverständlich, daß sie das insbesondere bei ihren Kindern und Partnern machen. Es bestehen in diesem Zusammenhang ja auch finanzielle Zwänge, wenn es in der Familie das Ernährermodell gibt, dem zufolge der Mann das Geld verdient, während die Frau vielleicht ein bißchen dazuverdient, aber vor allem für die Gesundheit der Familie verantwortlich ist. Aus diesem Grund erscheint es Frauen oftmals geradezu natürlich, daß sie ihren Männern Organe spenden. Würden die Männer ausfallen, wäre die Familie materiell gefährdet.

SB: Sie hatten auch davon gesprochen, daß Männer eine Art Heldenmythos aufbauen. Aufgrund ihrer gesellschaftlich überlegenen Position den Frauen gegenüber seien ihnen bestimmte Tätigkeiten völlig fremd, es sei denn, sie verrichteten sie als außergewöhnliche Heldentat, während es für eine Frau gewissermaßen aus innerer Überzeugung Pflicht sei.

MM: Ich würde das tatsächlich unterscheiden wollen. Daß Männer eine Organspende als heroischen Akt erleben, finde ich insofern sehr begrüßenswert, weil es alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Ich finde, daß sich Frauen als vulnerable Gruppe viel stärker damit auseinandersetzen und sich insbesondere die Mediziner, die Frauen eine Organspende nahelegen, die Frage stellen sollten, inwieweit hier nicht das Leben von Frauen verwundbar wird. Daher halte ich es für unterstützenswert, wenn eine Lebendorganspende als etwas Außergewöhnliches dargestellt wird. Ich würde mir wünschen, daß das medizinische Personal die Lebendorganspende so vermittelt, daß es sich wirklich um eine absolut ungewöhnliche Entscheidung handelt. Es ist ja ein Eingriff in den Körper, und daß Frauen dies für eine Selbstverständlichkeit erachten, ist ein großes Problem. Meiner Meinung nach sollte das medizinische Personal dahingehend geschult werden, daß man Frauen eine Lebendorganspende stärker "ausredet", damit die Frauen gründlich abwägen können, ob sie das wirklich wollen.

SB: Wir haben ja von Eltern gehört, die von Transplantationsmedizinern unter Druck gesetzt wurden, als ihr Kind im Sterben lag. Hinterher hieß es dann von ärztlicher Seite, die Angehörigen seien schließlich gefragt worden und hätten einer Organentnahme zugestimmt. Kann man unter solchen Voraussetzungen überhaupt von einer echten Entscheidung sprechen?

MM: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich würde sagen ja und nein. Man kann insofern nicht von einer Entscheidung sprechen, weil es für viele Betroffene keine solche ist, soweit sie es als Teil ihrer weiblichen familiären Rolle sehen. Vor allem im Angesicht des Todes eines Kindes unternehmen Frauen oft alle erdenklichen Anstrengungen, selbst den eigenen Körper zu "opfern". Ich würde ohnehin niemals von einer freien Entscheidung sprechen, da das eine unsoziologische Vorstellung ist: Entscheidungen sind niemals frei. Die Frage ist vielmehr, ob es sich um eine selbstbestimmte Entscheidung handelt. Auch in dieser Hinsicht würde ich sagen, sie ist es nicht zwangsläufig. Andererseits finde ich es noch problematischer, wenn man Frauen unterstellt, sie seien nicht imstande, eine rationale und selbstbestimmte Entscheidung zu treffen. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine schwedische Medizinanthropologin, die vorgeschlagen hat, die Lebendorganspende einer Frau an ihren Partner oder ihr Kind als Ausdruck ihrer Liebe zu verstehen. Sieht man die Lebendorganspende im Kontext eines solchen Nahverhältnisses, trifft es in gewisser Weise zu, daß Frauen unter diesen Umständen "gerne" spenden. Ich würde also nicht sagen, daß es sich dabei ausschließlich um Ideologie handelt. Ich möchte nur vor einer Kurzsichtigkeit warnen, weil man die einmal getroffene Entscheidung nicht wieder rückgängig machen kann. Aber den Frauen die Fähigkeit abzusprechen, selbstbestimmt und rational zu entscheiden, wäre meines Erachtens der falsche Weg.

SB: Trifft eine Frau eine derartige Entscheidung zugunsten von Menschen, die ihr nahestehen, könnte das möglicherweise eine völlig andere Art von Parteinahme sein als ein gesellschaftlich oder staatlich organisierter und per Werbung proklamierter Akt, zu dem Menschen aufgefordert oder gar gedrängt werden.

MM: Bei der Lebendorganspende verhält es sich zumindest in Deutschland so, daß sie vergleichsweise selten vorgenommen und den Betroffenen in der Regel auch nicht nahegelegt wird. Allerdings nimmt inzwischen die Anzahl der Fälle zu, und es wird immer wieder die Überlegung zur Diskussion gestellt, ob man auch anonyme Lebendorganspenden erlauben sollte, womit das bislang existierende klare Verbot, diesen Weg zu beschreiten, durchbrochen würde. In den Vereinigten Staaten ist beispielsweise eine anonyme Lebendorganspende möglich, wobei man dort als Argument anführt, daß Menschen, die als überzeugte Christen gerne auf diese Weise helfen möchten, das auch tun sollen.

SB: Ungeachtet aller Werbekampagnen für die Organspende ist die Reaktion in der Bevölkerung nach wie vor relativ verhalten. Je mehr geworben wird, um so geringer fällt die Spendebereitschaft aus, könnte man meinen. Werden womöglich bei den Menschen Bereiche angesprochen, vor denen man intuitiv zurückschreckt, oder Dinge beim Namen genannt, die man einfach nicht hören und wissen will?

MM: Das ist eine Frage, die man kaum eindeutig beantworten kann. Wenngleich bekannt ist, daß die Spendebereitschaft recht gering ausfällt, wissen wir im Grunde nicht, wie die Werbekampagnen bei ihren Adressaten ankommen. Wenn es um Tod geht, sagen fast alle, die man dazu befragt, sie wollten sich damit nicht beschäftigen. Die Vorstellung des eigenen Körpers als Leiche, die aufgeschnitten wird, schreckt viele Menschen ab. Andererseits stimmt es einfach empirisch nicht, daß der Tod ein Tabu ist. Wenn man den Fernseher anmacht, laufen ständig irgendwelche Krankenhausserien, man sieht aufgeschnittene Körper, man sieht Leichen. Insbesondere in den US-amerikanischen Serien findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tod statt. So gibt es Serien wie "Six Feet Under", in denen ständig gestorben wird. Daß der Tod ein Tabuthema sei, kann man demzufolge nicht postulieren. Auch die Thanotosoziologie, die Soziologie des Todes, würde eine solche These nicht mehr unterschreiben. Daher glaube ich, daß das eigene Sterben nicht tabuisiert wird und man in der Forschung weiter nachfassen müßte, um zu stichhaltigen Aussagen zu kommen. Wenn viele Transplantationsmediziner vorhalten, es gebe eine Unwilligkeit, den Spenderausweis auszufüllen, weil man sich nicht mit dem eigenen Tod beschäftigen will, trifft das meines Erachtens nicht zu. Wenngleich ich es empirisch vorerst nicht nachweisen kann, habe ich doch den Eindruck, daß es durchaus ein weit verbreitetes Interesse gibt, sich mit dem Tod zu beschäftigen.

SB: Ich möchte noch einmal auf die Superman-Figur zurückkommen, über die Sie in Ihrem Vortrag im Kontext einer Werbekampagne für die Organspende gesprochen hatten. Superman ist ja im Film die moralgetränkte Figur eines Helden, der ständig unter dem Druck steht, Dinge zu tun, die er eigentlich gar nicht so gerne macht. Er erfüllt jedoch fortgesetzt die Pflicht, seine Gabe zum Wohl der Menschheit zu verwenden und die Welt zu retten. Was für ein Menschenbild wird da in der Werbung pro Organspende vorgehalten?

MM: Es ist eine sehr US-amerikanische Idee, daß so ein Underdog zum Helden werden kann, indem er sich für die Gemeinschaft opfert. Das ist natürlich insofern etwas verwunderlich, weil sich die Organspende nicht so sehr an sogenannte Außenseiter richtet. Ich finde, die Werbung hängt ein bißchen.

SB: Die Botschaft soll ja offenbar sein, daß jeder diese Heldenrolle einnehmen kann, indem er sich zur Organspende bereiterklärt. Es wird eine junge Generation angesprochen, so daß sich die Frage stellt, ob die Werbekampagne womöglich auf eine Altersgruppe zugeschnitten ist, die ein höheres Ausmaß an Vereinzelung und Entfremdung erlebt, weshalb sie auf traditionelle Werte gar nicht mehr ansprechbar ist. Während es für eine ältere Generation wichtig ist, daß man anderen Menschen hilft, könnte das vielleicht für eine jüngere nicht mehr in dem Maße relevant sein, so daß man sie eher über plakative Klischees erreicht, mit deren Hilfe eine völlig neue Verkoppelung mit Moral hergestellt wird.

MM: Das kommt in den Bildern zum Ausdruck. Ich glaube aber nicht, daß es sich faktisch so verhält. Ich denke nicht, daß traditionelle moralische Werte für junge Menschen keine Bedeutung mehr haben. In der Werbung wird in der Tat eine andere Art von Moralität angesprochen, die eher als Imperativ in Erscheinung tritt, das Böse zu verhindern, als sich für Gemeinschaft oder Mitmenschlichkeit einzusetzen. Das würde ich schon unterstreichen.

SB: Ich möchte Sie abschließend mit Blick auf diese Tagung fragen, welche persönlichen Erwartungen oder Hoffnungen Sie damit verbinden. Was könnte man heute zusammen schaffen?

MM: Das große Problem der Organspende in Deutschland besteht meines Erachtens darin, daß wir nicht gelernt haben, Ambivalenzen von Organspende anzusprechen. Wir sind zu sehr einer Logik der Kontroverse verhaftet, bei der es immer darum geht, ob etwas gut oder schlecht ist. Ich halte das für eine Sackgasse. Es bringt uns überhaupt nichts, stets einer derartigen Regulierungsperspektive aufzusitzen. Immer nur darüber zu sprechen, ob wir das gutfinden, und wenn ja, wie wir es noch besser machen können, oder es abzuschaffen, sofern wir es schlecht finden, führt nicht weiter. Erika Feyerabend hat es heute hingegen geschafft, eine Art Denkraum zu eröffnen, in dem eine Perspektivenvielfalt hinsichtlich der Organspende eröffnet wird. Damit meine ich nicht noch mehr Aspekte, warum sie gut oder schlecht ist, sondern was es über Organspende zu sagen gibt, das jenseits der Frage liegt, ob wir eine neue Gesetzgebung brauchen oder nicht. Wir brauchen vielmehr einen Diskurs über die vielfältigen Ambivalenzen, und ich halte es für wichtig, daß diese Debatte nicht nur unter Transplantationsmedizinern oder Bioethikern geführt wird, sondern von einer breiten Öffentlichkeit. Ich würde auch meine Aufgabe als Soziologin so verstehen, überhaupt erst einmal verschiedene Argumentationslinien zu eröffnen, weil wir das ja gar nicht kennen. Die Sprache, die wir kennen, besteht nur aus Gut oder Böse hinsichtlich der Organspende. Das ist die große Herausforderung, der sich die Tagung stellt, und meines Erachtens gelingt es ihr auch, dem gerecht zu werden, weil hier sehr viele Perspektiven präsent sind.

SB: Frau Motakef, ich bedanke mich für dieses Gespräch.

Fußnote:
[1] http://www.uni-due.de/soziologie/motakef.php

Mona Motakef mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mona Motakef mit SB-Redakteur
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22. Mai 2012