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INTERVIEW/026: Der Entnahmediskurs - Signum finale, Gespräch mit Prof. Dr. mult. Nikolaus J. Knoepffler (SB)


Interview am 12. September 2013 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld



Der Philosoph, Staatswissenschaftler und Theologe Prof. Dr. mult. Nikolaus J. Knoepffler ist Lehrstuhlinhaber für Angewandte Ethik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) und Leiter des fakultätsübergreifenden Ethikzentrums der FSU. Zudem ist er Mitglied der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung der Bundesregierung und der Bioethik-Kommission der Bayerischen Staatsregierung sowie Vizepräsident der Deutschen Akademie für Transplantationsmedizin. [1]

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Dr. mult. Nikolaus J. Knoepffler
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf der Tagung "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" in Bielefeld hielt Nikolaus Knoepffler den Eröffnungsvortrag, den er mit "I'm Dead When I Am Dead" überschrieb. Was sich wie eine Binsenweisheit anhöre, meine doch etwas ganz anderes: Wenn mein Ich nie mehr realisiert werden kann und mein Bewußtsein nie wieder in Funktion treten wird, bin ich tot - so die Kernthese des Referenten.

Als Fundament seiner ethischen Überzeugungen zitiert Knoepffler das Konsensprinzip, die Menschenwürde und die uneingeschränkten und gleichen Menschenrechte. Das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit, über Gesundheit und Wohlergehen selbst zu entscheiden, sowie der Respekt vor der Freiheit und dem Wohlergehen anderer sind ihm zentrale Werteorientierungen.

Was heißt das für die Transplantation? Ist ein Mensch nicht tot, so der Referent, verletzt die Entfernung der Organe ohne seine Zustimmung das Prinzip der Selbstbestimmung. Und selbst wenn eine Zustimmung gegeben wurde, sei in der ethischen Debatte umstritten, ob die Entnahme lebenswichtiger Organe zulässig ist. Ungeachtet der altruistischen Motive dieses Menschen könnte eine Organentnahme die moralischen Überzeugungen hinsichtlich der Heiligkeit des Lebens gravierend in Mitleidenschaft ziehen. Aus diesem Grund sei ein überzeugendes Todeskriterium entscheidend für die ethische Bewertung der Organspende. Nur wenn man Organe von Toten entnehme, verletze man nicht die körperliche Unversehrtheit eines Lebenden oder töte keinen Sterbenden, der sein Einverständnis dazu gegeben hat.

Kritiker des Hirntodkonzepts wenden ein, daß diese Patienten nicht tot seien. Hirntote sind jedoch Knoepffler zufolge keine Personen mehr. Er schlägt dafür eine einfache Lösung vor, die er für absolut evident erachtet: Ich bin tot, wenn ich tot bin. Wenn mein Ich nicht mehr erkannt werden kann und mein Bewußtsein nie wieder funktionieren wird, bin ich tot. Wenn mein Ich tot ist, ist meine Ich-Geschichte beendet. Was eine Person konstituiert, ist ihre Geschichte, ihre Interaktion mit anderen. Wenn daher das Ich keine Spur von Autonomie mehr aufweist, ist die Person tot. Der Hirntod ist der Tod des Ichs und damit der Tod des Menschen als Person.

Wenngleich verschiedene physiologische Funktionen weiterhin vorhanden sind, kehrt die Person nie mehr zurück. Auch wenn der Körper in verschiedener Hinsicht noch lebt und keine Leiche ist, handelt es sich nicht länger um eine Person. Obgleich der Körper Respekt im Umgang verdient, hat er doch keine menschliche Würde und keine Menschenrechte mehr. Er hat einen anderen moralischen Status als eine menschliche Person, so Knoepffler.

Hingegen seien Patienten, die beispielsweise an Alzheimer leiden, natürlich am Leben. Ihr Ich befinde sich zwar im Zustand des Sterbens, sei aber nicht tot. Gleichermaßen seien Babys, die noch kein Ich zum Ausdruck bringen können, natürlich nicht tot, da sich ihr Ich erst noch entwickle. Auch geistig behinderte Menschen seien nicht tot, da sie Anzeichen des Ichs erkennen lassen.

Menschen, die ein Spenderorgan benötigen, verdienten Solidarität, ihr Leben zu schützen. Hirntoten Organe zu entnehmen, sei ein Akt dieser Solidarität. Daher sei die Organentnahme von Toten nicht nur gerechtfertigt, sondern auch dann geboten, wenn ein Mensch die Entnahme nach seinem Tod nicht ausdrücklich abgelehnt hat. Deshalb plädiert Knoepffler für die Widerspruchsregelung. Da auf diese Weise mehr Spenderorgane zur Verfügung stünden, könnten mehr Menschenleben gerettet und Auswüchse wie Organhandel reduziert werden.

Für eine politische Agenda bedeute das, daß der Sozialstaat im Sinne der Menschenwürde das Leben der Menschen schützen muß. In einem Gesundheitssystem, das sich größtenteils auf Solidarität berufe, trage der Staat die Verantwortung, die bestmögliche Versorgung mit Organen zu gewährleisten. Das aber wäre am ehesten möglich, wenn man Hirntoten, die dem zuvor nicht widersprochen haben, Organe entnimmt.

Um seine Argumentation emotional zu unterfüttern, präsentierte der Referent abschließend eine kurze dokumentarische Filmsequenz, die einen Sterbenden, für den kein Spenderorgan zur Verfügung steht, im Kreis seiner trauernden Angehörigen zeigt. Hier ein lebender Mensch der stirbt, dort die fruchtlose Debatte über einen bloßen Organismus, der nie wieder ein Ich hervorbringen wird, zog Knoepffler noch einmal eine aus seiner Sicht klare Grenze zwischen Leben und Tod.

Dieser nach Überzeugung des Referenten bestechende Lösungsvorschlag, ein streng formuliertes ethisches Tötungsverbot mit einem schlichten Kunstgriff zu umgehen, rief in der anschließenden Diskussion eine Reihe skeptischer Fragen und kritischer Einwände auf den Plan, die letzten Endes die gesamte Tagung begleiteten. Zum einen handelt es sich um ein Konzept, das sich auf andere Lebewesen nicht anwenden läßt, die grundsätzlich nicht als Personen aufgefaßt werden. Erforderlich ist also eine weitreichende Hierarchisierung des Lebendigen nach Maßgabe seiner Verwertung, die selbst auf einem Kongreß erklärter Protagonisten der Transplantation Unbehagen hervorrief. Zum andern öffnet Knoepfflers Herangehensweise einem Dualismus in der Klassifizierung des Menschen Tür und Tor, von dem sich zumindest ein beträchtlicher Teil der Experten zu verabschieden sucht. Spätestens seit Alan Shewmons Forschungsansatz fällt es schwer, einen mit der (Groß-)Hirntätigkeit assoziierten lebendigen Menschen kategorisch von dem lediglich vegetativ-organismisch belebten Körper eines als hirntot diagnostizierten Menschen zu unterscheiden.

Am Rande der Tagung beantwortete Nikolaus Knoepffler dem Schattenblick einige Fragen.

Podium mit Projektionswand - Foto: © 2013 by Schattenblick

Nikolaus Knoepffler im Vortrag
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Knoepffler, Sie führten gerade in einem Gespräch an, daß Ihrer Meinung nach die Argumentation, die wir von Herrn Shewmon gehört haben, falsch aufgezogen sei. Warum ist sie Ihrer Meinung nach vom falschen Ende her angefangen?

Nikolaus J. Knoepffler: Sie ist deswegen vom falschen Ende her angefangen, weil um den falschen Kameraden gerungen wird. Es ist nicht wichtig, ob vom menschlichen Körper noch so etwas wie eine organismische Einheit oder ähnliches konstatiert werden kann. Was uns als Menschen auszeichnet, ist doch, daß wir Personen sind, die man mit Namen nennen kann und die ihren Namen selber als Ich erfahren, die sich als Ich erfahren. In dem Moment, wo das Gehirn so irreversibel zerstört ist, daß dieser Mensch nie mehr zu Bewußtsein kommt, mag sein Körper noch irgendwie lebendig sein. Aber er als Person ist tot. Ich bin tot, wenn ich tot bin. Das heißt, wenn ich nie mehr zu Bewußtsein komme, nie mehr Erfahrungen mache, nichts mehr an Interaktion mit anderen möglich ist, dann bin ich tot. Und das wäre der eigentlich spannende Punkt zu sagen: Was spricht denn gegen dieses Todeskriterium? Dann könnte man möglicherweise sogar Bestimmungen zur Organspende zum Großhirntod-Kriterium erweitern.

SB: Ich hatte in der vorangegangenen Diskussion den Eindruck, daß die Kriterien sehr verschwommen sind, zu welchem Zeitpunkt welche Meßwerte oder Phänomene mit welchen Konsequenzen maßgeblich sein sollen. Entspricht das auch Ihrem Eindruck?

NK: Das Problem, um das es hier ging, ist in den USA sehr wichtig, während es sich in Deutschland nicht stellt. Die Diskussion entzündete sich an der Frage des Herztodkriteriums, weil es in den USA erlaubt ist, im Falle eines vorliegenden Patientenwunsches, im Zweifelsfall nicht mehr wiederbelebt zu werden, nach einer gewissen Wartezeit Organe zu entnehmen. Wenn das Herz während dieser Zeitspanne nicht mehr geschlagen hat, dann kollabiert ja das Gehirn und auch der Organismus. Deshalb darf in den USA unter diesen Umständen explantiert werden, was bei uns hingegen nicht erlaubt ist. Es handelte sich also um eine sehr typische US-amerikanische Diskussion, die dort nicht zuletzt deswegen so wichtig ist, weil vor etwa fünf Jahren drei kleinen Kindern Organe entnommen wurden. Bei diesen sterbenden Kindern hatte das Herz ausgesetzt, so daß man sagen könnte, daß sie praktisch tot waren. Diese Herzen wurden entnommen und drei anderen Kindern implantiert, die dadurch gerettet werden konnten. Es stellte sich in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, ob dabei drei sterbende Kinder getötet wurden oder ob sie bereits tot waren. Die Antwort hängt davon ab, ob man das Aussetzen eines Herzens, das aber in einem anderen Kind wieder zu schlagen anfängt, als Todeskriterium des Kindes, dem man das Herz entnommen hat, anwenden kann. Das Kind wird also für tot erklärt, weil das Herz nicht mehr in ihm schlägt, obwohl dieses in einem anderen Kind wieder schlagen kann. Das ist der Hintergrund dieser Debatte.

SB: Herr Merkel hat in der Diskussion eingeworfen, daß es sich möglicherweise um ein schweres Vergehen, eventuell sogar eine Straftat, handeln könnte, wenn sich herausstellt, daß eine mögliche Wiederbelebung unterlassen wurde. Darauf erwiderte Herr Shewmon, in einem solchen Fall liege ein Kunstfehler vor. Läßt sich der Einwand tatsächlich so einfach widerlegen?

NK: Die Spielregel lautet auch bei uns so: Wenn ein Patient nicht mehr wiederbelebt werden möchte und das auch als Patientenverfügung niedergelegt hat, dann darf der Arzt eigentlich nicht mehr wiederbeleben. Er kann sich natürlich im Einzelfall darüber hinwegsetzen, sofern er der Überzeugung ist, daß diese Patientenverfügung unter den gegebenen Umständen keine Gültigkeit hat. Aber an sich ist der Wille des Patienten bindend, alles andere ist eine Körperverletzung. Insofern sollte dieser Kunstfehler nicht vorkommen können. Man könnte zwar einen Teil der Patienten wiederbeleben, denen man statt dessen die Herzen explantiert. Aber indem man sie nicht wiederbelebt, hört der Organismus als Ganzer auf zu funktionieren, und dann kann man gar nicht mehr wiederbeleben. Wollte man es dennoch versuchen, läge nach dieser Zeitspanne zumindest der Hirntod vor.

SB: Sie hatten in Ihrem Vortrag betont, daß die Zustimmung des Patienten außerordentlich wichtig sei. Nun stellt sich natürlich die Frage, zu welchem Zeitpunkt im Leben ein Mensch überhaupt eine glaubwürdige und zutreffende Aussage für den sehr viel späteren Zeitpunkt seines Sterbens machen kann. Kann denn ein junger Mensch überhaupt die Frage beantworten, ob er Organspender werden möchte?

NK: Ich gehe sogar einen Schritt weiter und sage, daß mit der Menschenwürde eine Solidaritätsaufforderung verbunden ist. Wir haben nicht nur das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, vielmehr erwachsen daraus auch gewisse Solidaritätspflichten den anderen und ihren Rechten gegenüber. Im Grunde haben wir die klare Richtungsweisung, unsere Organe nach dem Tod zur Verfügung zu stellen. Wenn ich aber aus religiösen, psychischen oder sonstigen Gründen der Überzeugung bin, daß mir das nicht möglich ist, dann kann ich mein Nein zum Ausdruck bringen. Das wäre die Widerspruchsregelung. Ich kann auch eine früher getroffene Entscheidung widerrufen. Wenn also der junge Mensch bereit ist, Organe zu spenden, kann er sich heute dafür entscheiden. Sollte er zu einem späteren Zeitpunkt seine Meinung ändern, kann er die Entscheidung jederzeit rückgängig machen. Ist er aber nach meinem Verständnis tot, ist es sowieso egal, weil er in diesem Zustand ohnehin keine andere gewollte Entscheidung mehr treffen kann. Im empirischen Sinne hat er gar kein Gefühl, weil er nicht weiß, wie es sich anfühlt, tot zu sein. Glaubt man im christlichen Sinne an einen Himmel, verhält es sich noch etwas anders, weil man davon ausgehen kann, daß dieser Mensch in der Liebe Gottes eine noch größere Bereitschaft hat, mit seinen Organen einem anderen das Leben zu retten.

SB: Die Vorstellung des Ichs als Inbegriff der Person, die Sie mit Nachdruck vertreten, klingt nach gängigem Verständnis zunächst sehr plausibel. Wären andererseits nicht Stadien der menschlichen Existenz vorstellbar, die nach den genannten Maßstäben nicht mehr als Ich angesehen würden, aber möglicherweise sehr wohl von diesem Menschen noch als Leben empfunden werden?

NK: Deswegen entwerfe ich ein sehr vorsichtiges Konzept und sage, nur wenn der betreffende Mensch gar kein Bewußtsein mehr zeigt, kann ich sicher sein, daß er auch kein Ich mehr hat. Daher weisen Menschen, die zwar auf keinen Fall "ich" sagen können, aber andererseits noch zu gewissen Interaktionen fähig sind, nach meiner Auffassung noch Spuren des Ichs auf und sind natürlich als lebende Personen zu behandeln. Aber wenn das Großhirn kaputt ist, dann ist es vorbei. Dann ist nie mehr dieses Bewußtsein da.

SB: Gibt es aus Ihrer Sicht eine christliche oder generell eine religiöse Ethik, die sich von der wissenschaftlichen unterscheidet?

NK: Es gibt eine Fülle ethischer Konzepte und selbst in den christlichen Kirchen ganz unterschiedliche ethische Ansätze. Ich glaube, daß die Theologen, die sich mit Ethik befassen, auch den Anspruch hätten, Ethik im wissenschaftlichen Sinn zu betreiben. Neben einer wissenschaftlichen Ethik, die sich argumentativ aufbaut, gibt es aber auch noch bestimmte moralische Empfindungen von Menschen. Und das ist auch ein Grund, warum es wichtig ist, ihnen das Recht einzuräumen, ihre persönliche Entscheidung zu treffen. Folgt man meiner wissenschaftlichen Lösung, führt diese zur Widerspruchsregelung. Dessen ungeachtet haben Menschen das Recht zu sagen, daß sie ihre Organe nicht weggeben wollen. Sie müssen das auch nicht argumentativ begründen, vielmehr sollte ihre Entscheidung schlichtweg akzeptiert werden.

SB: Träfe man bei einem Vergleich zwischen dem Christentum und anderen Religionen auf ganz ähnliche ethische Konzepte oder zeichneten sich sich dabei eher unterschiedliche Vorstellungen ab?

NK: Es ist tatsächlich so, daß in manchen Religionen wie dem Islam und dem Judentum die Organgabe nach dem Tod einerseits erlaubt ist - sogar der oberste Mufti in der Türkei hat dazu aufgerufen. Andererseits herrscht im Bewußtsein der Bevölkerung wegen der Vorstellung einer leiblichen Auferstehung die Auffassung vor, den Körper wenn irgend möglich nicht anzutasten. Aus diesem Grund findet man in diesen Religionen einen stärkeren Bezug zum eigenen Körper als beispielsweise bei uns wie auch den Wunsch, auf ewig ein Grab zu haben, das niemals aufgelöst wird.

SB: Sie haben sich in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch mit dem Mensch-Tier-Verhältnis befaßt. In der heutigen Plenumsdiskussion wurde unter anderem die Frage einer Abgrenzung zwischen Mensch und Tier erörtert. Lassen sich Ihres Erachtens in dieser Hinsicht klare Grenzen ziehen?

NK: Ich würde sagen, wir machen etwas sehr Einfaches. Wir nehmen ein biologisch den Säugetieren zugeordnetes Tier, den Menschen, und sondern ihn von allen anderen ab. Wollte man sehr korrekt vorgehen, müßte man wiederum bei den anderen Tieren anfangen, sie als Einzelne anzuschauen. Die Kühe sind etwas anderes als die Mäuse, und so weiter. Es wäre darüber hinaus eine spannende Frage, ob es zum Beispiel bei Primaten Formen der Individualität gibt, die einen anderen moralischen Schutz rechtfertigen als beispielsweise bei der Fliege, die auch ein Tier ist. Wir haben allerdings gegenwärtig eine gewisse Tendenz, das Tier zu vermenschlichen und den Menschen zu vertieren. Viele behandeln ihren Hund so, als sei er ein kleiner Hausfreund im strengen Sinn des Wortes. Die Gesundheit des kleinen Hundes ist dann wichtiger als beispielsweise die Gesundheit des Nachbarkindes. Dann fangen die Dinge an, sich zu verschieben. Umgekehrt zieht man wiederum Analogieschlüsse aus dem Tierreich und sagt, wenn der Hund mit jedem umgehen kann, darf das der Mensch auch. Solche Spiele gibt es also von beiden Seiten her. Interessant ist jedoch vielmehr, was uns als Menschen besonders macht, was Hunde als Haustiere besonders macht. Das wäre dann auch das, was man unter dem Begriff artgerecht versteht.

SB: Es gibt eine Tierrechtsbewegung, der zufolge die Tiere vom Menschen vernutzt und ausgebeutet werden, und die Rechte für Tiere einfordert. Wie sehen Sie das?

NK: Hier stellt sich die Frage, was für ein Rechtskonzept dahintersteht. Denn man müßte sich dann natürlich auch fragen, ob nicht mit Rechten in gewisser Weise Pflichten korrespondieren, wenigstens prinzipiell. Ich glaube, keiner will ins Mittelalter zurück, wo man Tiere tatsächlich vor Gericht gestellt hat. Insofern liegt die Frage nahe, ob man nicht mit einem Konzept von Tierschutz klüger fährt. Aber das müßte man wirklich vertiefen und dann eben einen gestuften Tierschutz entwerfen, der für eine Fliege deutlich geringer ausfällt als für eine Maus und so weiter.

SB: Ich würde gern abschließend noch einmal auf die Wiederspruchslösung zurückkommen, die Sie angesprochen haben. Besteht nicht die Gefahr, daß eine weitergedachte Widerspruchslösung unter der Maßgabe nicht ausreichend vorhandener Spenderorgane einer Entwicklung Bahn bricht, die in Richtung Euthanasie gehen könnte?

NK: Ich sehe es genau umgekehrt und bin der Auffassung, daß es gerade durch den aufgrund unserer aktuellen Gesetzgebung geförderten Mangel an Spenderorganen in diese Richtung gehen kann. Erste Tendenzen habe ich ja heute mit dem Verfassungskommentar vorgestellt, der einerseits sagt, daß es sich um Sterbende handelt, denen man andererseits Organe entnehmen darf. Das geht bereits in die von Ihnen angesprochene Richtung und mündet in Überlegungen, daß man den Organmangel reduzieren könnte, wenn man Menschen, die aus altruistischen Gründen ohnehin sterben wollen, verstärkt zur Organspende heranzieht. Deswegen glaube ich, daß gerade die Widerspruchsregel diesen Druck aus dem Kessel nehmen würde, weil wir einfach mehr Organe hätten.

SB: Herr Knoepffler, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.elsa-jena.de/seminar-2013/referenten/prof-dr-nikolaus-knoepffler/

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

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30. Dezember 2013