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PFLEGE/676: Tagungsrückblick - Sexualität einen Raum geben (idw)


Universität Witten/Herdecke - 17.03.2016

Tagungsrückblick: Sexualität einen Raum geben

Eine Sexualbegleiterin erzählt aus ihrem Alltag, ein Jurist fragt "Gibt es ein Recht auf Sexualität?"


Obwohl unsere Gesellschaft immer älter wird, ist die Diskussion um sexuelle Bedürfnisse von älteren Menschen noch immer ein Thema, über das man lieber nicht spricht. Dies gilt insbesondere für den Zusammenhang von Sexualität und Demenz. In der professionellen Pflege kann dieses Thema jedoch nicht einfach verschwiegen werden, gehört Sexualität doch zu den Grundbedürfnissen. Aber wie verändert sich unsere Sexualität im Alter? Was bedeutet Demenz für die Intimität in Partnerschaften? Und wie sieht es mit dem Recht auf Sexualität in den Pflegeeinrichtungen aus?

Derartige Fragen standen bei der Tagung "Sexualität einen Raum geben", die am 24. Februar 2016 vom Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) an der Universität Witten/Herdecke (UW/H) veranstaltet wurde, im Mittelpunkt. Während der Schwerpunkt am Vormittag auf wissenschaftlichen Grundlagen lag, stand der Rest des Tages für den Brückenschlag in die Praxis.

Theoretische Grundlagen

Der Pflegewissenschaftler Christian Müller-Hergl (Dialog- und Transferzentrum Demenz) vermittelte Grundlagenwissen zum Thema Sexualität und Alter. Dabei betonte er in seinem Vortrag den Aspekt der Intimität, der in der Alterssexualität an Bedeutung gewinnt. So können Männer, die im Alter häufiger Sex haben, besser schlafen und ihr psychisches Wohlbefinden steigern. Während Frauen, die im Alter häufiger Sex haben, weniger ängstlich sind. Auf die Ergebnisse einzelner wissenschaftlicher Studien ging Müller-Hergl in seinem Grundlagenvortrag näher ein. Im Anschluss widmete sich der Pflegewissenschaftler Georg Franken (Dialog- und Transferzentrum Demenz) der Frage, welcher Zusammenhang zwischen Sexualität und Demenz besteht? Dabei erläuterte er zunächst, was Demenz für die Intimität in Partnerschaften bedeutet? Die Lust auf Sex schwindet bei Ehepartnern mit den Belastungen, die sie als pflegende Angehörige gegenüber ihrem Partner empfinden. Und wie sieht es mit den Pflegenden in Organisationen aus, was den Umgang mit Sexualität anbelangt? "Intime Verhaltensweisen", so Franken, "gehören in Pflegeheimen ein Stück weit zum Alltag, wobei Pflegende eher eine problemorientierte Haltung einnehmen."

Der abschließende Vortrag am Vormittag kam von Andrea Bergstermann (Einrichtungsleitung Altenwohnheim im Hermann Kleiner Haus, Dortmund). Bergstermann hat über viele Jahre in der Altenpflegeausbildung zum Thema Umgang mit Sexualität unterrichtet. An diesem Tag stellte sie verschiedene Leitfragen vor, die in ihrem Unterricht eine zentrale Rolle spielten. Leitfragen wie etwa "Welche unterschiedlichen Bedeutungen kann Sexualität für den älteren Menschen haben?" oder auch: "Welche Faktoren beeinflussen die Sexualität pflegebedürftiger älterer Menschen am meisten?".

Brückenschlag in die Praxis

Für Pflegeeinrichtungen stellt der Umgang mit Sexualität eine echte Herausforderung dar. Am Nachmittag eröffnete Bettina Stange mit einem Erfahrungsbericht aus der stationären Altenpflege (Pflegedienst und Heimleitung; Qualitätsmanagerin, Berlin). "Aus Heimleitungsperspektive ist es ein Prozess, in dieses Thema hineinzukommen", so Stange. In ihrem Vortrag veranschaulichte Stange diesen Prozess an einzelnen Fallbeispielen. So erzählte sie beispielsweise die Geschichte von Herrn B. und Frau D. Beide Personen hatten eine Demenz im Frühstadium, als sie sich im Pflegeheim einander annäherten. Auch die Tochter von Frau D. war offen gegenüber dieser Beziehung. Aber mit der Zeit zog sich ihre Mutter immer weiter zurück, während Herr D. auch weiterhin auf seine sexuellen Bedürfnisse pochte, sich schließlich aber ebenso wie Frau D. immer weiter zurückzog. Die Lösung des Problems: Herr D. bekam Besuch einer Sexualassistentin. "In dem Augenblick", so Frau Stange, "ist Herr D. wieder aus dem Zimmer gegangen. Er war wie ausgetauscht." Für Frau Stange, so das Resümee am Ende ihres Vortrags, kann ein offener Umgang mit Sexualität in Pflegeeinrichtungen nur gelingen, wenn die Mitarbeiter stärker in die Thematik mit eingebunden werden - etwa durch Fallbesprechungen und Teamsitzungen.

Auch rechtliche Fragen sind zu berücksichtigen. Dies verdeutlichte der Jurist Theo Kienzle (Aus-, Fort- und Weiterbildung: Recht in der Pflege und Betreuung, Mosbach) in seinem Vortrag zu Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes. Zur Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung gehört auch Sexualität. Bemerkenswert war sein Hinweis auf die Unverletzlichkeit der Wohnung, die in Pflegeeinrichtungen häufiger übergangen werde. Denn wer im Heim wohnt, darf sich dort sexuell frei entfalten und auf seiner Privatsphäre bestehen, solange er oder sie keine verbotenen sexuellen Handlungen praktiziert. Das Recht auf Sexualität ist auch ein wesentliches Thema für die Sexualbegleiterin Stephanie Klee (Agentur für Begleitung, Service, Vermittlung und Bildung, Berlin). In ihrem Vortrag gab sie Einblicke in ihren Alltag. So kämpft sie mit teils konträren Auffassungen von Betreuern, Pflegenden und Angehörigen, wenn es um das Ausleben sexueller Bedürfnisse ihrer Klienten geht. Dabei machte sie allerdings schnell klar, dass Sexualität im Alter viel mit Intimität, Krankheiten und Zerbrechlichkeit zu tun hat. Sexualität auf der anderen Seite aber ebenso ein Grundbedürfnis wie Arbeiten, Essen und Trinken darstellt.


Nach der Tagung werden einzelne Videos auf dem YouTube-Kanal des DZD frei zur Verfügung gestellt. Hier der Link dazu:
https://www.youtube.com/user/DialogzentrumDemenz

Außerdem wird es weitere Beiträge zu der Tagung auf dem Blog des DZD geben, der unter folgender Adresse erreichbar ist:
http://dzd.blog.uni-wh.de/

Weitere Informationen zur Tagung bei
Detlef Rüsing
E-Mail: dialogzentrum@uni-wh.de

• Über DZD:
Zu den Schwerpunkten des Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) gehört es, den Dialog zwischen Forschung und Praxis in der Versorgung Demenzerkrankter zu fördern. Das DZD wird seit 2005 seitens des NRW- Gesundheitsministeriums (MGEPA) und der Pflegekassen NRW gefördert und ist Teil der Landesinitiative Demenz-Service NRW. Es ist am Department Pflegewissenschaft (Fakultät für Gesundheit) der Universität Witten/Herdecke angesiedelt.

Über UW/H:
Die Universität Witten/Herdecke (UW/H) nimmt seit ihrer Gründung 1982 eine Vorreiterrolle in der deutschen Bildungslandschaft ein: Als Modelluniversität mit rund 2.300 Studierenden in den Bereichen Gesundheit, Wirtschaft und Kultur steht die UW/H für eine Reform der klassischen Alma Mater. Wissensvermittlung geht an der UW/H immer Hand in Hand mit Werteorientierung und Persönlichkeitsentwicklung.
Witten wirkt. In Forschung, Lehre und Gesellschaft.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution226

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universität Witten/Herdecke, Kay Gropp, 17.03.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2016

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