Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


PFLEGE/691: Thomas Sitte von der Deutschen Palliativstiftung - In Würde sterben (ProMosaik)


ProMosaik - 7. November 2016

Thomas Sitte von der Deutschen Palliativstiftung: in Würde sterben

Interview von Milena Rampoldi, ProMosaik


Anbei ein neues Thema für ProMosaik, das der Palliativmedizin oder besser gesagt der Palliativversorgung. Wie für die Menschen mit Behinderung, geht es ProMosaik auch im Falle der Palliativpatienten darum, den Menschen und sein soziales Teilnahmerecht in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht uns um die Diskriminierung kranker Menschen und ihre Ausgrenzung. Zum Thema der holistischen Palliativversorung habe ich Dr. med. Thomas Sitte, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Palliativstiftung, befragt. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel zum Thema verfasst und setzt sich für einen würdevollen Tod aller Menschen ein. Wie wir widersetzt er sich der aktiven Sterbehilfe. Weitere Informationen zur Stiftung finden Sie hier auf der Seite der Deutschen Palliativstiftung.

Milena Rampoldi: Was ist Palliativmedizin als holistischer Ansatz?

Thomas Sitte: PalliativVERSORGUNG, nicht PalliativMEDIZIN ist im besten Sinne holistisch. Sie sollte (!) immer den ganzen Menschen sehen, gerade auch in der Wechselwirkung mit seinem Umfeld. Also Geist, Körper, soziale Beziehungen. Mir ist völlig klar, dass dies eine Idealvorstellung ist, die von der Wirklichkeit immer wieder eingeholt und relativiert wird. Die klassische, therapeutische, kurative Medizin ist in der Regel reduktionistisch. Nur durch die Reduktion auf wesentliche Teilaspekte des Individuums und der Erkrankung an sich, kann eine kurative Behandlung leitliniengerecht durchgeführt werden.

Warum habe ich Versorgung und Medizin gleich im ersten Satz so hervorgehoben. Eben deshalb, weil Palliativmedizin häufig auf den ärztliche Teilaspekt beschränkt wird, gelegentlich erweitert um die spezifisch fachliche Palliativpflege. Doch wenn wir einen Menschen mit all seinen körperlichen Beschwerden und insbesondere mit seinen immer vorhandenen Ängsten und seelischen Nöten im letzten Lebensabschnitt bis zu seinem Tod begleiten UND behandeln wollen, dann kommen wir nicht umhin, ihn und sein soziales Gefüge als Ganzes zu sehen.

Anders herum. Wenn der holistische Ansatz angemessen umgesetzt wird, dann höre ich immer wieder: "Ich traue mich das jetzt gar nicht zu sagen, aber das war jetzt ja wirklich schön. Ich habe jetzt viel weniger Angst vor meinem eigenen Sterben."

Palliativmedizin ist für mich für die Menschenrechte von Bedeutung, weil sie die Würde des Menschen wahrt. Welche sind ihre großen Herausforderungen, um diesem ethischen Grundsatz auch gerecht zu werden?

Es geht bei der Palliativversorgung noch um mehr als "nur" um die Wahrung der Menschenwürde. In den Menschenrechtsverträgen ist noch geregelt: "das individuelle Recht auf Leben, Privatsphäre, auf den höchstmöglichen Gesundheitszustand, Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln und auf Anwendung der Forschungsergebnisse fest:

  • Das Recht auf Privatsphäre (Art.17 IPbpR)
  • Der höchstmögliche Gesundheitszustand ist ein fundamentales Menschenrecht (Universale Erklärung der Menschenrechte Paragraph 25,1 1948, Präambel der Weltgesundheitsorganisation)
  • Der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln und Gesundheitsdiensten ist ein Menschenrecht. (Paragraph 12 Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 1966)
  • Der Zugang zu Forschungsergebnissen ist ein Menschenrecht. (Paragraph 15 Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) (Quelle Dr. Christiane Fischer, MEZIS).

Zudem ist Palliativversorgung sogar eine Form der Prävention im Sinne der WHO-Definitionen, denn es werden Probleme, Beschwerden und Verschlechterungen, die sonst im Krankheitsverlauf entstehen würden, gelindert oder verhindert. Das nennt man Tertiärprävention (Primärprävention: Krankheit wird verhindert, Sekundärprävention: Krankheit wird im Progress aufgehalten, Tertiärprävention: Symptome und Belastungen werden gelindert oder verhindert).

Die Patientenwürde wird viel strapaziert. Oft wird sie hergenommen um zu beweisen, dass Lebensverkürzung bei Leiden zwingend notwendig ist. Aus gut gemachter palliativer Praxis wissen wir aber, dass wegen Leidens (!) niemand sterben muss, das ist immer lindernd behandelbar. Nur wissen das zu wenige Menschen, auch viel zu wenigen Experten ist dies klar, wie die Diskussion im Deutschen Bundestag letztes Jahr gezeigt hat. Glücklicherweise konnten unsere Argumente sich durchsetzen und der geschäftsmäßigen "Sterbehilfe" wie in der Schweiz oder gar den Benelux-Ländern konnte dauerhaft ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden.

Schön ist es, dass Sie nach der Wahrung der Würde des Menschen gefragt haben. Denn die Menschenwürde ist unverminderbar. Jeder Mensch ist gleich würdig und wert. Da gibt es kein mehr oder weniger. Leider wird die Menschenwürde oft missachtet, mit Füßen getreten, nicht gewahrt und beschützt. Aber: sie ist immer vorhanden. Ich habe die selbe Würde wie ein Schwerstpflegebedürftiger mit angeborenen schwersten Behinderungen, der niemals "Herr seiner Sinne" war, dabei aber doch durch unsere Hilfe Wohlbefinden genießen kann.

Wie können wir als Gesellschaft durch unser sozio-politisches Handeln aufzeigen, dass wir die Palliativmedizin verbessern können?

Unsere Gesellschaft ist gefordert, sie ist sogar herausgefordert. Und die Gesellschaft sind Sie und ich. Wenn WIR nichts tun, um hospiz-palliatives Wissen und Denken und Handeln zu verbreiten, wird sich nichts zum Besseren wenden, sondern es geht auf die slippery slope in Richtung "Schönes Sterben" (Euthanasia, wie der Angelsachse und Niederländer noch passend sagt). Nur wenn die Möglichkeiten bekannt sind, werden sie angewandt. Ein wichtiger, aber sehr behäbiger Weg, ist die Umsetzung des Budapest Commitments mit dem Charta- Prozess. Dazu als Ergänzung viel effektiver und sofort wirksam sind einfache, verständliche Werbeaussagen. Meine Vision ist die globale Kampagne für hospiz-palliatives Denken analog zu einer Kampagne für Benetton oder IKEA. Nur so bringen wir die Möglichkeiten der Versorgung zeitnah an die Patienten, die diese Versorgungsformen jetzt schon brauchen.

Welche Mythen herrschen immer noch in der Gesellschaft vor, wenn man von Palliativpflege spricht?

"Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben". Das galt vor 50 Jahren. Damals war es neu. Gleichzeitig führte der Griff in den "Giftschrank" zu den "Suchtgiften" und "Betäubungsmitteln" (alles furchtbar antiquierte Wortschöpfungen!) dazu, dass immer wieder Leiden gelindert und Leben verkürzt wurde, weshalb man erst sehr spät die richtigen Medikamente einsetzte. Heute wissen wir doch, durch richtige Palliativmedizin, und hier ist der Begriff passend, wird Leiden gelindert und oftmals zugleich Leben verlängert. Das zweite ist die Eingrenzung auf Pflege und/oder Medizin. Palliativversorgung ist immer Multiprofessionell. Da müssen etliche, alle Berufsgruppen an einem Strang ziehen. Bei so vielen Beteiligten braucht es dann einen Kümmerer, der alles koordiniert und es auch einmal sagt, wenn es zuviel wird. Leider übernehmen immer weniger Hausärzte aus schlichtem Zeitmangel diese Aufgaben, obgleich sie es gerne weiter täten. Aber auch für die Hausärzte hat eine Stunde eben nur 60 Minuten, der Tag nur 24 Stunden und nicht mehr.

Wie wichtig sind Übersetzungen von Büchern zum Thema, um die Kenntnis auch den MigrantInnen zugänglich zu machen?

Aus Sicht der PalliativStiftung sind sie einer der notwendigen Schlüssel zum Erfolg. Es sollten möglichst kultursensible Übertragungen sein und nicht wortgetreue Übersetzungen. Da wird es dann wirklich richtig schwierig. Deshalb versuchen wir uns mit der PalliativStiftung erst einmal an Übersetzungen in möglichst viele Sprachen, das ist schon sehr aufwändig. Das ist schon einmal eine gute Grundlage.

ProMosaik ist der Meinung, dass Kranke und auch Menschen mit Behinderung zur Gesellschaft gehören. Daher das Zauberwort "Inklusion". Wie kann man dieses Konzept auch in die Palliativmedizin einbeziehen?

Ich habe ja oben schon gesagt, dass die Würde des Menschen nicht mehr oder weniger sein kann. Die Fähigkeiten einer Gesellschaft zeigen sich gerade daran, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht. Da gibt es einen wunderbaren Artikel von Prof. Fleßa zur "Letztverlässlichkeit" als eigenständigen, volkswirtschaftlichen Wert. Es ist sogar für die Gesellschaft wichtig, dass die leistungsfähigen Träger des Bruttosozialproduktes sich darauf verlassen können, dass sie in Krankheit und Hilflosigkeit entsprechend den ihnen eigenen Vorstellungen versorgt werden.

Zum Thema Inklusion fällt mir spontan ein, es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis man mit einer größeren Gruppe von vielleicht ungewohnt lautierenden Menschen mit Behinderungen, die auch noch nicht äußerlich schön im klassischen Sinne sind in ein Restaurant zum Essen und Feiern gehen kann, ohne dass man angegafft wird und neu eintretende Kundschaft auf der Schwelle wieder kehrt macht. Was heute unter Inklusion läuft, wirkt aus meiner Sicht immer wieder wie ein Feigenblatt, um Defizite in der Inklusion zu verstecken.

Da gibt es noch viele und sehr, sehr dicke Bretter zu bohren.

Genauso werden schwerkranke und sterbende Menschen oft vor den Gesunden - vielleicht auch gut meinend - abgeschirmt. Ein Hospiz in einem Wohngebiet mindert den Verkaufswert der Nachbargrundstücke. Sie können dies gerne einen Skandal nennen. Doch Angebot und Nachfrage regeln den Preis und so ist eben die marktwirtschaftliche Realität ...

Ein Traum unserer Stiftung ist ein PalliMobil als XXXXL-Version eines Wohnmobils, mit dem wir auch schwerstpflegedürftige Menschen dorthin fahren können, wo sie noch einmal gerne hinwollen. Sei es an den Ballermann oder in die Elbphilharmonie! Wenn das möglich wird UND sich dann niemand der anderen Gäste daran stört, dann ist echte Inklusion gelungen.

Was wir jetzt machen können? Hospize sollten mitten im Leben entstehen und nicht an den (Stadt)Rand gedrängt werden. Gut sterben sollte man auch im Krankenhaus und Pflegeheim können. Und auch z.B. in beschützenden Werkstätten oder inklusiven Schulen. Und natürlich und besonders auch daheim. Ich könnte Ihnen da von Problemen berichten, an die Sie wohl kaum im Traum denken würden. Nach dem Tod sollten wir die Verstorbenen nicht durch den Bestatter reflexartig "entsorgen" lassen, sondern in Würde am vertrauten Ort ausreichend lange Abschied nehmen können. Rechtlich ist das schon längst möglich. Nach dem Tod sollten wir natürlich und ungehemmt mit Hinterbliebenen umgehen können. Haben Sie es vielleicht selber schon erlebt, dass Ihnen ein Mensch entgegen kam, der gerade ein Elternteil, seinen Lebensgefährten oder gar sein Kind verloren hat und Sie hätten am liebsten die Straßenseite gewechselt? Ich kenne das Gefühl aus beiden Perspektiven.


Dr. phil. Milena Rampoldi ist Chefredakteurin des Presseportals ProMosaik.


URL des Artikels bei ProMosaik:
https://promosaik.blogspot.com.tr/2016/11/thomas-sitte-von-der-deutschen.html

*

Quelle:
Presseportal ProMosaik
Dr. phil. Milena Rampoldi
E-Mail: info@promosaik.com
Internet: www.promosaik.com
www.promosaik.blogspot.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang