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INITIATIVE/062: Praxis ohne Grenzen bekommt Zweigstellen im Land (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2010

Praxis ohne Grenzen
Hilfsprojekt mit hoher Resonanz bekommt Zweigstellen im Land

Von Dirk Schnack


Viele Ärzte sind bereit, bei der Praxis ohne Grenzen für hilfsbedürftige Menschen mitzuarbeiten. Medikamentenversorgung bleibt ungelöstes Problem.


Als Dr. Uwe Denker die ersten Gespräche für die Praxis ohne Grenzen führte, stieß er auf viel Verständnis die Bereitschaft zur Mitarbeit aber blieb überschaubar. Denker hatte damals den Eindruck, dass viele Kollegen im Ruhestand nichts mehr mit der Medizin zu tun haben wollten. Dieser Eindruck war falsch. Nachdem Denkers Projekt in Bad Segeberg erst einmal angelaufen war, stieg die Bereitschaft zur Mitarbeit enorm.

Inzwischen wechseln sich sechs Hausärzte und eine Internistin bei der ehrenamtlichen Arbeit in der wöchentlichen Sprechstunde (jeweils mittwochs von 15:00 bis 17:00 Uhr in Bad Segeberg am Kirchplatz 2) ab. Hinzu kommt ein Pool von elf Fachärzten, an die sie sich wenden können, wenn eine fachärztliche Diagnostik erforderlich ist. Damit nicht genug: "Ich habe auch Angebote von Kollegen aus Kiel und von der Westküste. Die würden nach Bad Segeberg kommen, wenn hier Not am Mann ist", berichtet Denker im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt.

Hinzu kommen zahlreiche medizinische Assistenzberufe, die unterstützend tätig sind. Auch ein Krankenhaus und ein Zentrallabor helfen bei Bedarf kostenlos. Außer in Bad Segeberg hat sich inzwischen auch in Stockelsdorf eine Praxis ohne Grenzen etabliert, weitere in anderen Regionen des Landes sind nicht ausgeschlossen, von Denker sogar erwünscht. Voraussetzung ist aber, dass sich vor Ort eine Gruppe von Kollegen organisiert, die die Sprechstunden ehrenamtlich übernehmen können. Der Segeberger Verein kann beim Aufbau beratend tätig werden und mit seinen Erfahrungen in der Umsetzung der Idee helfen. Entstanden ist die Idee der Praxis ohne Grenzen, wie berichtet, aus der Beobachtung Denkers, dass immer mehr Menschen in Schleswig-Holstein den Weg in die Arztpraxis bzw. in die medizinische Versorgung scheuen, weil sie nicht ausreichend krankenversichert sind oder weil sie die Praxisgebühr nicht mehr zahlen können. Zuzahlungen oder eine Versichertenkarte sind in der Praxis ohne Grenzen nicht erforderlich. Die behandelnden Ärzte arbeiten ohne Honorar. Dass sich dennoch so viele Mediziner beteiligen, wertet Denker als Indiz dafür, dass die Kollegen zwar die Bürokratie im ärztlichen Alltag ablehnen, keineswegs aber ihre erlernte Tätigkeit. "Hier können sich die Ärzte frei von Dokumentationspflichten und Abrechnungsvorgaben nur um die Medizin kümmern", sagt Denker. Bei den Behandlungen sind die Ärzte auf die Basismedizin angewiesen, teure Geräte stehen nicht zur Verfügung. Denker hält das für keinen Nachteil: "Wir haben alle gelernt, uns bei den Untersuchungen auf unsere Hände, Augen und Ohren zu verlassen. Wenn doch einmal ein Gerät oder eine weitergehende fachärztliche Meinung erforderlich ist, können wir darauf zurückgreifen", sagt Denker.

In jede Segeberger Sprechstunde kommen mittlerweile rund fünf Menschen im Durchschnitt. Das Spektrum ist so breit wie in einer normalen Hausarztpraxis. Es kommen Frauen zur Schwangerschaftsvorbereitung, chronisch kranke Menschen mit Diabetes, Herzproblemen oder Hypertonie, aber auch Menschen mit einer akuten Lungenentzündung. Der Andrang nimmt nach Denkers Beobachtung zu, viele müssen zunächst eine Hemmschwelle überwinden, bevor sie die Praxis ohne Grenzen betreten. Es sind Menschen, die sich die Behandlung im Krankenversicherungssystem aus unterschiedlichen Gründen nicht leisten können. Als Beispiel nennt Denker etwa früher selbstständige Handwerker, die die Prämien für die private Krankenversicherung nach einer Insolvenz ihres Betriebes nicht mehr aufbringen können. Menschen ohne Papiere zählen genauso zu den Patienten in der Praxis ohne Grenzen wie gesetzlich Versicherte, die die Praxisgebühr nicht mehr zahlen können. Denker weiß von einer Praxis in seinem Heimatort, die in einem Quartal 700 Euro abschreiben musste, weil 70 Menschen die Praxisgebühr schuldig blieben. Die Gründe für die Mittellosigkeit wer den in der Praxis ohne Grenzen nicht hinterfragt. Jeder Patient, der hier Unterstützung sucht, bekommt sie auch. "Keiner muss hier ein Armutszeugnis ablegen. Wir fragen auch nicht, weshalb jemand die Praxisgebühr nicht zahlen kann, aber noch ein Handy in der Tasche hat", stellt Denker immer wieder klar. Er betont die christlichen, diakonischen Grundsätze, nach denen Menschen in der Praxis ohne Grenzen geholfen wird.

Wer über die rein medizinische Behandlung hinaus Hilfe beim Weg in das Sozialversicherungssystem benötigt und wünscht, bekommt diese. Die Praxis ohne Grenzen arbeitet eng mit dem örtlichen Sozialamt und einem Behördenlotsen zusammen, der sich um solche Fragen kümmert. Auch das MediBüro in Kiel bekommt von der Praxis ohne Grenzen bei Bedarf ärztlichen Rat.

Denker könnte also zum Jahresende ein rundum positives Fazit ziehen - wenn nicht das ungelöste Problem der Medikamentenversorgung bliebe. Die Praxis und die angeschlossenen Apotheken dürfen nämlich keine Medikamentensammlungen durchführen. Bis zum Jahresende helfen ihnen die Apothekerkammer und der Apothekerverband Schleswig-Holstein durch ein Sponsoring, das die Kosten für die Arzneiverordnungen trägt. Mittelfristig aber will Denker erreichen, dass die Politik Medikamentensammlungen ermöglicht, damit Arzneimittel mit noch nicht abgelaufenem Verfallsdatum, die sonst im Müll landen, in den Praxen ohne Grenzen sinnvoll am Patienten eingesetzt werden können.

"Hier gehen Millionenwerte verloren. Wir wollen das Arzneimittelgesetz mithilfe von Gesundheitspolitikern aller Parteien ändern", sagt Denker. Auch in anderen Fragen will er sich politisch einmischen. Der gemeinnützige Verein Praxis ohne Grenzen fordert die Abschaffung der Praxisgebühr und die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf rezeptpflichtige Medikamente. Der 72-jährige Allgemeinmediziner Denker rechnet sich durchaus Chancen aus, diese Ziele zu erreichen. Zum einen, weil seine Idee auf ein breites Medienecho stößt - über das Projekt wird immer wieder in Zeitungen und im Fernsehen berichtet. Zum anderen, weil er über das Projekt auf viel Verständnis bei Politikern stößt. So informierte sich bereits Horst Köhler in seiner Zeit als Bundespräsident vor Ort über die Praxis ohne Grenzen in Bad Segeberg. Auch Termine mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen und mit vielen anderen Entscheidungsträgern stehen oder standen an.

Ein permanentes Problem bleibt die Finanzierung der Vereinsarbeit "Wir sind auf Spenden angewiesen", sagt Denker. Zwar arbeiten alle Mitarbeiter ehrenamtlich und auch der Behandlungsraum am Kirchplatz wird von der Diakonie noch bis Jahresende mietfrei zur Verfügung gestellt. Doch zum Jahresbeginn muss ein Mietvertrag ausgehandelt werden. Die dafür benötigten Mittel hofft Denker aus dem Spendenaufkommen decken zu können.


Dr. Uwe Denker, Organisator der Praxis ohne Grenzen.

Der Verein Praxis ohne Grenze - Region Bad Segeberg hat sein Spendenkonto bei der
Volksbank Raiffeisenbank eG Bankleitzahl 212 900 16 Kto-Nr. 56 800 000

Kontakt: Dr. Uwe Denker, Tel. 04551/83677, E-Mail dr.uwe.denker@t-online.de


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201012/h10124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2010
63. Jahrgang, Seite 34 - 35
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2011