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PFLEGE/358: Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs legt Bericht vor (BMG)


Bundesministerium für Gesundheit - Donnerstag, 29. Januar 2009

Neue Perspektiven für die Pflege

Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs legt Bericht vor


In Berlin hat heute der Vorsitzende des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, Dr. h.c. Jürgen Gohde, den Bericht des Beirats an Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben.

Ulla Schmidt begrüßte den einstimmig vom Beirat beschlossenen Bericht: "Eine neue Definition der Pflegebedürftigkeit ist Voraussetzung für eine bessere Teilhabe pflegebedürftiger Menschen. Die Vorschläge des Beirats sind sehr gelungen, sie weisen in die richtige Richtung. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wird den tatsächlichen Hilfebedarf des Einzelnen besser abbilden. Die oft kritisierte 'Minutenpflege' muss der Vergangenheit angehören. Das neue Konzept fragt: Wie stark ist die selbstständige Lebensführung eingeschränkt? Das kommt vor allem altersverwirrten Menschen zugute."

Seit Einführung der Pflegeversicherung wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit als zu eng und zu verrichtungsbezogen diskutiert. Besonders der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung, der etwa bei demenzkranken Menschen häufig auftritt, werde bisher zu wenig berücksichtigt. Deshalb wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, den Pflegebedürftigkeitsbegriff zu überarbeiten. Der Beirat war im November 2006 beauftragt worden, konkrete und wissenschaftlich fundierte Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein darauf aufbauendes neues Begutachtungsverfahren zu erarbeiten. Der Auftrag schloss auch die Frage ein, wie sich Änderungen finanziell auf die Pflegeversicherung und andere Sozialleistungsbereiche auswirken.

In seinem Bericht macht der Beirat Vorschläge für ein neues, praxistaugliches Begutachtungsverfahren und für mögliche Neuregelungen. Er gibt darin Hinweise auf strukturelle und finanzielle Folgen eines neuen Begriffs. In einem ergänzenden Bericht wird der Beirat voraussichtlich im Mai konkrete Umsetzungsvorschläge machen.

Der Beiratsvorsitzende Dr. Gohde hob hervor, dass im Unterschied zum jetzigen Begutachtungsverfahren der Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbständigkeit sei. "Dies führt zu mehr Gerechtigkeit in der Berücksichtigung der Beeinträchtigungen von Menschen und hilft zudem Ungleichbehandlungen zwischen Kindern und Erwachsenen sowie körperlich und geistig Behinderten zu vermeiden," so Gohde.

Den vollständigen Bericht sowie weitere Informationen finden Sie unter:
http://www.bmg.bund.de/DE/Ministerium/ministerium__node.html


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Informationen zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff / Begutachtungsverfahren

Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs

Im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 ist festgelegt, dass es mittelfristig einer Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs bedürfe, die die aktuellen Erkenntnisse der Pflegewissenschaften berücksichtige. Das Bundesministerium für Gesundheit setzte daher den Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs im November 2006 ein.

Seit Einführung der Pflegeversicherung wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit im SGB XI als zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch diskutiert. Dadurch würden wesentliche Aspekte, wie beispielweise die Kommunikation und soziale Teilhabe, ausgeblendet und der Bedarf an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung, insbesondere bei Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, zu wenig berücksichtigt.

Der Beirat war beauftragt, konkrete und wissenschaftlich fundierte Vorschläge für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein damit eng verbundenes neues Begutachtungsverfahren zu erarbeiten. Der Auftrag schloss auch die Frage mit ein, wie sich Änderungen finanziell auf die Pflegeversicherung und andere Sozialleistungsbereiche auswirken.


Das neue Begutachtungsverfahren

Ein Kernergebnis der Beiratsberatungen stellt das von der Univ. Bielefeld und dem MDK Westfalen-Lippe erarbeitete neue Begutachtungsverfahren dar. Gegenüber dem bisherigen Begutachtungsverfahren beinhaltet es mehrere wesentliche Veränderungen:

Im Unterschied zum jetzigen Begutachtungsverfahren ist der Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten und der Gestaltung von Lebensbereichen.

Das neue Instrument zielt auf eine umfassende Berücksichtigung von Pflegebedürftigkeit, vermeidet also die Reduzierung von Pflegebedürftigkeit auf Hilfebedarf bei bestimmten Alltagsverrichtungen. Es erfasst sowohl körperliche als auch kognitive/psychische Beeinträchtigungen (z.B. Demenz)

Das Instrument beinhaltet die explizite Erfassung wesentlicher, präventionsrelevanter Risiken (krankheitsbedingte Risiken, Umweltfaktoren und verhaltensbedingte Risiken) und nimmt eine systematische, kriteriengestützte Einschätzung des Bedarfs an Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation vor.


Modularer Aufbau des Begutachtungsverfahrens

Zur Ermittlung des Pflegebedarfs werden die Ergebnisse der Module 1-6 zusammengeführt. Jedes Modul umfasst eine Gruppe artverwandter Aktivitäten, Fähigkeiten oder einen Lebensbereich und enthält mehrere Unterpunkte ("Items" oder "Merkmale"), zu denen der Gutachter eine Einschätzung liefern soll:

1. Mobilität: Fortbewegung über kurze Strecken und Lageveränderungen des Körpers.

2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Gedächtnis, Wahrnehmung, Denken, Urteilen, Kommunikation (geistige und verbale "Aktivitäten").

3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: Verhaltensweisen, die mit einer Selbstgefährdung oder mit der Gefährdung anderer verbunden sein oder andere Probleme mit sich bringen können, sowie psychische Probleme wie Ängstlichkeit, Panikattacken oder Wahnvorstellungen (Selbständigkeit im Umgang mit inneren Handlungsimpulsen und Emotionen).

4. Selbstversorgung: Körperpflege, sich Kleiden, Essen und Trinken sowie Verrichtungen im Zusammenhang mit Ausscheidungen.

5. Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: Aktivitäten, die auf die Bewältigung von Anforderungen und Belastungen infolge von Krankheit oder Therapiemaßnahmen zielen, z. B. Medikamenteneinnahme, Wundversorgung, Umgang mit körpernahen Hilfsmitteln oder Durchführung zeitaufwändiger Therapien innerhalb und außerhalb der häuslichen Umgebung.

6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte: Einteilung von Zeit, Einhaltung eines Rhythmus von Wachen und Schlafen, sinnvolles (bedürfnisgerechtes) Ausfüllen von verfügbarer Zeit und Pflege sozialer Beziehungen.

Durch das erweiterte Verständnis von Pflegebedürftigkeit und die Abkehr vom Maßstab der Pflegezeit greift das Instrument zentrale Punkte auf, die in den vergangenen Jahren immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen gegeben haben.


5 Bedarfsgrade statt 3 Pflegestufen

Wie das derzeitige Verfahren arbeitet auch das neue Begutachtungsinstrument durch die Einteilung in Abstufungen, sogen. "Bedarfsgrade". Zur Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit werden die Ergebnisse aus den sechs Modulen zusammengeführt und in einem Punktwert zusammengefasst, der je nach Höhe zur Zuordnung in einen der fünf Bedarfsgraden der Pflegebedürftigkeit führt. Diese reichen von "geringer" über "erhebliche", "schwere" und "schwerste Pflegebedürftigkeit" bis zu "besonderen Bedarfskonstellationen". Die fünf Bedarfsgrade treten an die Stelle der bisherigen drei Pflegestufen und ermöglichen eine differenziertere Einschätzung als bisher. Da nicht nur die Zahl, sondern auch Definition und Inhalt jedoch unterschiedlich von den heutigen "Pflegestufen" sind, ist eine inhaltliche Gleichsetzung von bestimmten Abstufungen nicht möglich.


Erprobung und Bewertung des neuen Begutachtungsverfahrens durch den Beirat

Das neuentwickelte Begutachtungsinstrument wurde im Jahr 2008 einer praktischen Erprobung und wissenschaftlichen Bewertung unterzogen. Der Beirat stellt dazu fest, dass die Reliabilität (Grad der Zuverlässigkeit einer Messung) als "gut" und die Validität ("Wird das gemessen, was gemessen werden soll?") als "sehr gut" zu bezeichnen ist. Es hat sich als praxistauglich und unbürokratisch erwiesen. Die Lebenslagen von Menschen mit Demenz werden angemessen berücksichtigt.


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Quelle:
Bundesministerium für Gesundheit, Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 3 vom 29. Januar 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2009