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PFLEGE/484: Spezialisierte ambulante Palliativversorgung - Der bloß behauptete Anspruch (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 96 - 4. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Der bloß behauptete Anspruch

Von Matthias Lochner


Seit mehr als drei Jahren besitzt jeder Bürger einen Rechtsanspruch auf eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Doch »Recht haben« und »Recht bekommen« sind nicht nur vor Gericht zwei Paar Schuhe. Wie eine Studie zeigt, konnten 2009 nur 4.000 Menschen von ihrem Recht auf eine adäquate palliative Versorgung auch Gebrauch machen. Ein echter Skandal.


Die Begleitung und Behandlung von schwerkranken oder im Sterben liegenden Patienten ist in Deutschland immer noch nur völlig unzureichend gewährleistet. Wie eine Studie der »Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung« zur Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland zeigt, erhalten nur rund 71.000 Menschen eine professionelle Begleitung im letzten Lebensjahr, obwohl hierzulande über eine halbe Million Menschen diese bräuchte. Für die Studie »Im Spannungsfeld zwischen Bedarf und Wirklichkeit - Hospizliche Begleitung und Palliativ-Care-Versorgung in Deutschland 2010« (kurz: HPCV-Studie 2010) haben die Verfasser Daten aus dem Jahr 2009 von mehr als der Hälfte der Hospize, Palliativstationen, ambulanten Palliativteams und Hospizdienste in Deutschland erhoben.

Die jährlich durchgeführte Untersuchung hat präziser und differenzierter als in den Jahren zuvor das Verhältnis von Versorgungsbedarf und tatsächlich erbrachten palliativen wie hospizlichen Leistungen untersucht. So wird diesmal zwischen den einzelnen Formen der Begleitung genau unterschieden, da »nicht jedes Angebot für Schwerstkranke und Sterbende« die gleiche umfassende Qualität biete. Auf der einen Seite werden stationäre Hospize, Palliativstationen und Leistungserbringer der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) genannt, auf der anderen Seite ambulante Hospizdienste (siehe Infokasten).


Kleines Hospiz-Einmaleins

Stationäre Hospize sind kleine unabhängige Einrichtungen, die von einer speziell ausgebildeten Kraft geleitet werden. Sie haben das Ziel, durch medizinische Behandlung, bedarfsgerechte Pflege und psychosoziale Betreuung die Lebensqualität der Schwerstkranken und Sterbenden bis zu ihrem Lebensende in einer geschützten und wohnlichen Atmosphäre zu erhalten. Die Versorgung der Schwerstkranken übernehmen hauptamtlich tätige und speziell weitergebildete Pflegekräfte, niedergelassene Ärzte sowie ehrenamtlich tätige Mitarbeiter. Wer in ein Hospiz aufgenommen werden kann, ist gesetzlich geregelt. Die Finanzierung wird zu 90 Prozent von der jeweiligen Krankenkasse übernommen, zehn Prozent trägt das Hospiz selbst. Für die Patienten ist der Aufenthalt kostenlos.

Palliativstationen sind gesonderte Bereiche in Krankenhäusern, die sich durch ihre wohnlichere Bauart von den anderen Stationen abheben. Ziel ist es, die medikamentöse Therapie schwerstkranker und sterbender Menschen an das sich aktuell zeigende Symptombild anzupassen und die Lebensqualität durch multidisziplinäre Behandlung nach dem Palliative-Care-Konzept zu erhalten und zu verbessern. Nach erfolgreich angepasster Medikation sollen die Patienten wieder in ihren häuslichen Bereich entlassen und dort weiterbehandelt werden. Ein Teil der aufgenommenen schwerstkranken Menschen verbringt auf einer Palliativstation die letzte Lebensphase und verstirbt. Der Aufenthalt wird von der gesetzlichen Sozialversicherung finanziert.

In der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) wird die Arbeit verschiedener Berufsgruppen koordiniert, um Schwerstkranke und Sterbende in ihrer vertrauten Umgebung ganzheitlich zu versorgen, ihnen dort ein Sterben zu ermöglichen und eine Krankenhauseinweisung zu vermeiden. Sie umfasst ärztliche und pflegerische Leistungen, Notfallbereitschaft sowie die psychosoziale Unterstützung in Zusammenarbeit mit Seelsorge, Sozialarbeit und ambulanten Hospizdiensten. Durch die multiprofessionelle Ausrichtung können schwerstkranke und sterbende Menschen mit sehr ausgeprägtem Symptomleiden zuhause situationsgerecht behandelt und versorgt werden. Die Leistungen der SAPV werden von der gesetzlichen Sozialversicherung finanziert.

In ambulanten Hospizdiensten widmen sich vor allem Ehrenamtliche der spirituellen und psychosozialen Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen und ihrer Angehörigen. Spaziergänge, Gespräche und haushaltliche Unterstützung machen dabei den Hauptteil ihrer Arbeit aus. Sie helfen den schwerstkranken und sterbenden Menschen und ihren Familien, mit ihrer Situation umzugehen. Medizinische und pflegerische Tätigkeiten werden durch sie nicht erbracht. Ambulante Hospizdienste haben zumeist eine hauptamtlich tätige Kraft zur Koordination und mindestens 15 ehrenamtliche Mitarbeiter. Erfüllen sie die gesetzlich festgelegten Qualitätsanforderungen, können sie Zuschüsse der gesetzlichen Krankenkassen erhalten. Die Begleitung ist für Betroffene kostenlos.


Die Studie geht davon aus, dass 506.663 Menschen im Jahr 2009 palliative und hospizliche Begleitung benötigten. Grundlage für diese Annahme sind Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Davon wurden 22.886 Patienten (4,5 Prozent) in stationären Hospizen, 44.427 (8,8 Prozent) auf Palliativstationen und 4.000 (0,8 Prozent) durch SAPV-Teams begleitet. Darüber hinaus erhielten 38.897 Menschen (7,7 Prozent) eine Begleitung durch ambulante Hospizdienste. 396.453 schwerkranken oder im Sterben liegenden Patienten (78,2 Prozent) blieb hingegen im Jahr 2009 eine palliative und hospizliche Begleitung versagt, obwohl sie diese benötigt hätten.

Die Untersuchung hebt zudem mehrfach hervor, dass die Begleitung durch ambulante Hospizdienste von der professionellen Begleitung in stationären Hospizen, auf Palliativstationen oder durch SAPVT eams zu unterscheiden ist: »Diese Differenzierung ist notwendig, denn der Unterschied in der Versorgung der Schwerstkranken ist fundamental. Während von professionell Tätigen begleitete Menschen neben psychosozialer Begleitung auch spezialisierte medizinische und pflegerische Leistungen erhalten, zielt die Arbeit der ehrenamtlich Tätigen einzig und allein auf die psychosoziale Begleitung ab«, so die Verfasser der Studie.

Die zahlreichen ambulanten Hospizdienste, in denen - bis auf eine hauptamtlich tätige Kraft zur Koordination - alle ehrenamtlich arbeiteten, leisteten einen wichtigen Beitrag, indem sie Schwerstkranke und ihre Familien psychosozial begleiten. »Zweifellos ist das eine nicht zu unterschätzende Arbeit. Aus Patientensicht muss das Hospizangebot den Anspruch haben, Ängste und soziale Bedürfnisse von Schwerstkranken und Sterbenden ebenso ernst zu nehmen wie körperliche Beschwerden«, heißt es in der Untersuchung wörtlich. Insofern seien die ehrenamtlichen Dienste zur Sterbebegleitung als »sinnvolle Ergänzung«, jedoch nicht als professionelle und umfassende Begleitung zu betrachten. »Spezialisierte Pflege und professionelle medizinische Versorgung können nur stationäre Hospize, Palliativstationen und Teams der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) erbringen«, so die Autoren weiter.


Tabelle 2 Ergebnisse der HPCV-Studie 2010




Verstorbene, die
palliative und
hospizliche Be-
gleitung benötigen
Begleitung
in statio-
nären
Hospizen
Begleitun-
gen auf
Palliativ-
stationen
Begleitun-
gen durch
SAPV-Teams

Begleitungen
durch
ambulante
Hospizdienste
Menschen ohne
palliative und
hospizliche
Begleitung
absolut
506.663
22.886
44.427
4.000
38.897
396.453
bezogen auf den
Gesamtbedarf
100 %
4,5 %
8,8 %
0,8 %
7,7 %
78,2 %

Abbildung 4: Ergebnisse der HPCV-Studie 2010 -
Mißverhältnis zwischen Bedarf und tatsächlicher Versorgung
Begleitungen in stationären Hospizen
Begleitungen auf Palliativstationen
Begleitungen durch SAPV-Teams
Begleitungen durch ambulante Hospizdienste
Verstorbene, die paliative und hospizliche
Begleitung benötigten, aber nicht erhielten
4,5 %
8,8 %
0,8 %
7,7 %
78,2 %

Berücksichtigt man diese Differenzierung zwischen umfassender professioneller Sterbebegleitung und ehrenamtlicher psychosozialer Begleitung, so ist das Ergebnis der Studie noch alarmierender: »Die Zahl der Sterbenden, die jedes Jahr hospizliche und palliative Leistungen benötigen, aber keine entsprechende professionelle Unterstützung erhalten, liegt bei ungefähr 435.000 Menschen.« Diese Zahl ergibt sich aus der Summe derjenigen, die überhaupt keine Begleitung erhielten, sowie derjenigen, die lediglich eine psychosoziale Begleitung durch ambulante Hospizdienste erhielten. Eine umfassende professionelle Begleitung erhielten demzufolge lediglich 71.313 Patienten, also weniger als zwei Drittel (64,7 Prozent) derjenigen Schwerstkranken und Sterbenden, die begleitet wurden, und sogar nur 14,1 Prozent aller Verstorbenen, die palliative und hospizliche Begleitung benötigt hätten.

Die Studie führt aus, dass vor allem in Pflegeheimen die Versorgung mit Palliativangeboten, »also mit Pflege und Medizin, die nicht mehr heilt, aber die quälenden Symptome bekämpft«, unverändert schlecht sei. Dies betreffe hunderttausende Patienten, denen der Zugang zu stationären Hospizen verwehrt werde. Leistungserbringer und Kassen hätten sich darauf geeinigt, »dass alle 709.000 Pflegeheimbewohner Deutschlands keinen Anspruch darauf haben, in ein stationäres Hospiz aufgenommen zu werden«, beklagte denn auch der Geschäftsführende Vorstand der »Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung« Eugen Brysch.

Der Studie zufolge ist der Übergang von einem Pflegeheim in ein Hospiz schwer möglich und die palliativen Angebote für die 1,2 Millionen an Demenz Erkrankten in Deutschland kaum vorhanden. »Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ausgerechnet diejenigen, die schon durch Minuten-Pflege vernachlässigt werden, haben keine Chance, lindernde Palliativ-Hilfe zu erhalten«, kritisierte Brysch in einer Pressemitteilung. Deutlich wird das auch an den Zahlen des spezialisierten ambulanten Palliativangebots (SAPV). Lediglich rund 4.000 Patienten wurden im vergangenen Jahr von spezialisierten ambulanten Palliativteams zuhause begleitet. Zwar gibt es seit dreieinhalb Jahren einen Rechtsanspruch auf diese Form der Versorgung, sie ist der Untersuchung zufolge in Deutschland aber kaum verfügbar. »Das ist nicht hinnehmbar, schließlich wollte der Gesetzgeber hier im Jahr rund 80.000 Menschen versorgen«, so Brysch weiter.

»Die Studie führt in ihrem Ergebnis klar vor Augen: Die Hoffnung der Politik, auch weiterhin vorrangig mit ehrenamtlichem Engagement die Qualität des Lebens in den letzten Wochen, Monaten und Jahren fördern zu können, ist nicht länger aufrechtzuerhalten«, heißt es im Fazit der HPCV-Studie 2010. Die Arbeit der ehrenamtlich tätigen Menschen im Bereich der hospizlichen Begleitung sei sehr wertvoll, müsse aber durch professionelle pflegerische und medizinische Angebote in bestehenden Einrichtungen wie Krankenhäusern und Altenheimen ergänzt werden. »Um Fürsorge und Selbstbestimmung in den letzten Wochen, Monaten und Jahren des Lebens allen Menschen, die es wollen und benötigen, zu ermöglichen, ist noch viel zu tun. Ein 'Weiter so!' darf es nicht geben. Politik und Gesellschaft sind gefordert, endlich den notwendigen fundamentalen Wandel in der Gesundheitsversorgung der Schwerstkranken und Sterbenden einzuleiten«, so die Autoren weiter.

Die »Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung« fordert unter anderem denn auch, dass jeder pflegebedürftige Mensch eine individuelle und ganzheitliche Pflege erhält, der seit 2007 bestehende Rechtsanspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung flächendeckend umgesetzt wird, besonders für demenziell Erkrankte ein höherer pflegerischer und ärztlicher Betreuungsaufwand abrechenbar wird, die Bundesregierung eine fristbezogene Zielkonzeption für die ausreichende hospizliche und palliative Versorgung in Deutschland formuliert und das Bundesgesundheitsministerium einen jährlichen Bericht zur Lage und Entwicklung der hospizlichen und palliativen Versorgung in Deutschland vorlegt.


IM PORTRAIT

Matthias Lochner
Der Autor, Jahrgang 1984, studierte Deutsch, Geschichte und Katholische Theologie für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität zu Köln. Er ist seit 2001 Mitglied der ALfA und seit Mai 2007 Vorsitzender der »Jugend für das Leben« (JfdL), der Jugendorganisation der ALfA. Als freier Journalist publiziert Matthias Lochner regelmäßig auch in »LebensForum«.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 96, 4. Quartal 2010, S. 26 - 27
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2011