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PSYCHOLOGIE/037: Interview - Die Kinder- und Jugendmedizin steht vor neuen Herausforderungen (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

»Wir müssen radikal umdenken«


Die Kinder- und Jugendmedizin steht vor neuen Herausforderungen. Selten geht es in Deutschland noch um akute Erkrankungen, vielmehr sind Allergien, Übergewicht und psychische Störungen zu einem Massenphänomen bei jungen Menschen geworden. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp fordert deshalb eine Neuorientierung in Politik und Praxis: Statt besonders gefährdete Kinder und Jugendliche vor Krankheit zu schützen, müsse oberstes Ziel sein, die Gesundheit aller Heranwachsenden zu fördern.



DJI: Herr Professor Keupp, sind Sie ein Perfektionist?

KEUPP: Nein, überhaupt nicht. Ich bin durchaus ein Mensch, der frühzeitig den Mut zur Lücke entdeckt hat. Wie kommen Sie darauf?

DJI: Fast 95 Prozent der Eltern hierzulande bewerten den Gesundheitszustand ihres Nachwuchses als gut oder sogar sehr gut. Trotzdem schlagen Sie Alarm.

KEUPP: Sie haben Recht, die meisten Eltern halten ihre Kinder für körperlich und seelisch gesund. Ähnliches sagen die Jugendlichen selbst über ihre Gesundheit. Diese positiven Ergebnisse der ersten großen Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit in Deutschland, der sogenannten KiGGS-Studie, die das Robert Koch-Institut durchführte, sprechen für die Erfolge der modernen Medizin, die akute Erkrankungen wie Scharlach oder Masern erfolgreich zurückgedrängt hat. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen, die Schätzung liegt bei 20 Prozent, kämpft heute allerdings mit neuen gravierenden Gesundheitsproblemen.

DJI: Mit welchen neuen Gesundheitsproblemen?

KEUPP: Heute leiden etwa 23 Prozent der Kinder und Jugendlichen an chronischen Krankheiten wie Asthma, Allergien und Übergewicht. Die Wissenschaft spricht von der neuen Morbidität. Zu ihr gehört auch das, was mich als Psychologen ganz besonders beunruhigt: der hohe Anteil an psychischen und psychosomatischen Störungen, von denen 15 Prozent betroffen sind. Sie verweisen noch viel stärker als körperliche Symptome auf veränderte Lebenswelten und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Heranwachsende umso mehr psychische und körperliche Probleme haben, je ungünstiger die materielle Situation ihrer Familien ist. Zusätzlich kann dann auch der Migrationsstatus das Erkrankungsrisiko erhöhen.

DJI: Woran liegt es, dass so viele Kinder psychische oder psychosomatische Probleme haben?

KEUPP: Es hat sicher viel mit den extrem beschleunigten Lebensverhältnissen in unserer Gesellschaft zu tun. Die Ursachen sind aber komplex. Beim einen trägt die Reizüberflutung durch zu viel Aktivität, durch Fernsehkonsum, Video und Computerspiele die Hauptschuld, bei anderen sind Bewegungsmangel, Termindruck, Konflikte in der Familie oder auch die Schule wesentliche Ursache. Mit dem Eintritt in die Schule nehmen die Probleme der Kinder jedenfalls extrem zu.

DJI: Sie meinen, Schule macht krank?

KEUPP: So zugespitzt formuliert, wäre das sicher falsch, aber von Schülern wird heute in der Tat sehr viel verlangt - mehr als von früheren Generationen. Die Kinder lernen mittlerweile Leistungsdruck und Konkurrenz kennen, bevor sie mit sich selbst vertraut sind. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann hat dafür einmal die schöne Metapher gefunden, dass die soziale Ozonschicht um die Kindheit und Jugend deutlich geschrumpft ist. Gerade in die Schule wird viel mehr reingepackt, als die Heranwachsenden leisten können. Das liegt auch daran, dass Eltern häufig erwarten, dass die Schulen all das erledigen, was sie selbst in der Erziehung nicht hinbekommen haben: die Medienerziehung, die Umwelterziehung und so weiter.

DJI: Ich wette aber, Sie selbst fordern jetzt gleich, dass die Schule dringend mehr Gesundheitserziehung betreiben muss.

KEUPP: Natürlich ist die Schule der Ort, an dem man die Kinder - und übrigens auch deren Eltern - am besten erreichen kann, auch für die Gesundheitsförderung. Aber wir brauchen dafür kein neues, weiteres Schulfach, sondern eine neue Lernkultur.

DJI: Welche Lernkultur wäre denn gesünder?

KEUPP: Wir brauchen eine »bewegte Schule«, die sich nicht nur auf die möglichst effektive Vermittlung von Kulturtechniken konzentriert. Es geht darum, dass wir in den Schulen neben dem kognitiven Lernen auch soziale Kompetenzen und Partizipationschancen vermitteln. Notwendig ist mehr Projektarbeit, genügend Pausen und Bewegung. Ganztagsschulen bieten hier gute Möglichkeiten. Und sie haben noch einen zweiten positiven Effekt: Sie holen die jungen Menschen vom Fernsehen und Computer weg. Gerade Kinder aus sozial benachteiligten Familien sitzen oft drei bis fünf Stunden täglich davor und das, nachdem sie schon Stunden in der Schule verbracht haben. Sie bewegen sich entsprechend zu wenig und ihre Ernährung besteht weitgehend aus Fast Food und Süßigkeiten.

DJI: Die Weltgesundheitsorganisation nennt Übergewicht als die häufigste Todesursache.

KEUPP: Bundesweit sind 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig, ein Anstieg um 50 Prozent in den letzten zehn Jahren. Falls sich nichts ändert, wird die Zahl der Personen mit gestörter Blutzuckerregulation, erworbener Diabetes, Herz- und Kreislauferkrankungen steigen. Übergewicht von vornherein zu verhindern, heißt also zunächst, hohe Folgekosten für das Gesundheitssystem einzudämmen. Als Psychologe geht es mir aber vielmehr darum, dass diese Kinder einen hohen Preis an Lebensfreude zahlen, denn sie sind in einem gewissen Sinne behindert: Sie haben nicht wie Gleichaltrige Spaß beim Fußballspielen oder Klettern, werden in der Schule oft gehänselt und schlagen sich womöglich mit sinnlosen Diäten herum.

DJI: Aber der Bund investiert doch Millionen in Gesundheitskampagnen wie »fit statt fett«. Ist das alles nur wirkungslose Wohlfühlpolitik?

KEUPP: Investitionen in Prävention und Gesundheitsaufklärung sind auf jeden Fall sinnvoll, aber oft erreichen sie nicht die Richtigen. Und auch über die tatsächliche Wirkung der verschiedenen Projekte weiß die Forschung noch zu wenig. Es fehlt eine koordinierte Herangehensweise auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Kommission des 13. Kinder- und Jugendberichts hat hier einen auffälligen Mangel an Beweisen entdeckt: viele allgemeine Betrachtungen, aber sehr wenig konkrete Belege für erfolgreiche Prävention.

DJI: Leidet unsere Gesellschaft nicht auch an einer Art Gesundheitswahn? Kinder und Jugendliche, die dick oder schwierig sind, gelten gleich als krank.

KEUPP: Das Risiko, dass überforderte Lehrer, Eltern oder Ärzte schnell eine Krankheit feststellen, ist groß. Die Pharmaindustrie verzeichnet bei Medikamenten, die Kinder oder Jugendliche disziplinieren oder ruhig stellen sollen, erschreckend hohe Zuwachsraten. Die Verordnung von Psychostimulanzien wie etwa Ritalin hat sich von 2000 bis 2007 fast vervierfacht; bei Elf- bis 14-Jährigen sind im Jahr 2007 davon mehr Präparate verschrieben worden als für Erkältungskrankheiten. Nur Pillen zu verteilen, ist aber die falsche Lösung.

DJI: Was wäre der bessere Weg?

KEUPP: Man muss bei der Therapie der neuen Kinderkrankheiten vielmehr die Komplexität der gesellschaftlichen Einwirkungen auf die Kinder und Jugendlichen berücksichtigen. Ärzte werden so verstärkt zu Lebens- und Gesundheitsberatern: Sie müssen zuhören statt abhören.

DJI: Sind die Mediziner auf diese neuen Aufgaben vorbereitet?

KEUPP: Die Kinderärzte sind diejenigen Fachärzte, die sich schon am meisten in diese neue Rolle gefunden haben. Allerdings macht dies ihnen das deutsche Gesundheitssystem nicht leicht, denn sie bekommen diese Beratungsleistung schlicht nicht bezahlt. Die aktuelle Gebührenverordnung ist ja eine Krankheitsverordnung: Je schlimmer die Krankheit ist, die der Arzt diagnostiziert, desto mehr kann er abrechnen. Notwendig wären Systeme nach dem Vorbild der »Health Maintenance Organizations« in den USA, die für die Gesunderhaltung der zugehörigen Mitglieder belohnt werden und nicht für möglichst hohe Krankschreibungsraten.

DJI: Sind Ärzte überhaupt die richtigen Ansprechpartner, um Heranwachsende und Familien für Gesundheit zu sensibilisieren?

KEUPP: Ärzte, Sozialarbeiter, Lehrer oder öffentlicher Gesundheitsdienst - sie alle müssen in einem Netzwerk zusammenarbeiten und ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen. Momentan fällt aber auf, dass gerade Ärzte diesen Netzwerken oft fernbleiben. Deshalb brauchen wir Arzthonorare für die aktive Beteiligung an diesen Netzwerken. Aber auch die Netzwerke selbst benötigen Geld, um eine lückenlose und langfristige Zusammenarbeit auf einem guten professionellen Niveau zu ermöglichen. Wir müssen einsehen, dass wir nur durch dauerhaftes Fördern und Betreuen das Verhalten der jungen Menschen ändern können.

DJI: Das öffentliche Gesundheitswesen kann den Betroffenen aber nicht lebenslang Gesundheitspolizisten zur Seite stellen.

KEUPP: Das wäre auch völlig falsch. Wir brauchen keine Gesundheitspolizisten, ganz im Gegenteil. Wir müssen radikal umdenken: Nicht die Prävention darf das oberste Prinzip sein, sondern die Gesundheitsförderung. Prävention bedeutet ja »Krankheit verhindern«. Statt Krankheit zu verhindern, sollten wir besser Gesundheit in dem Sinne fördern, dass Heranwachsende mit den Ressourcen ausgestattet werden, die sie dazu befähigen können, ihr Leben gut in die eigene Regie zu nehmen.

DJI: Was ist der Unterschied?

KEUPP: Es ist ein völlig aussichtloses Unternehmen, wenn die Gesellschaft versuchen würde, alle Kinder ausfindig zu machen, deren Gesundheit auf irgendeine Weise gefährdet ist. Die Gefahr, dass dieses Präventionsdenken alle Familien unter Verdacht stellt, ist groß. Todesfälle wie der des vernachlässigten Bremer Jungen Kevin sind erschreckend, aber die Privatsphäre der Menschen muss gewahrt bleiben.

DJI: Das geplante neue Kinderschutzgesetz wurde in der gerade vergangenen Legislaturperiode gekippt. Was ist schief gelaufen?

KEUPP: Die Kinderschutzdebatte war reduziert auf das Aufspüren von Risikofamilien und war deshalb gefährlich. Nur in dem integrierten Ansatz von Förderung, Hilfe und Schutz kann ein sinnvoller Ansatz für die Kinder- und Jugendhilfe liegen. Im Augenblick werden zum Beispiel Familienhebammen damit beauftragt, so etwas wie einen sozialen TÜV bei Familien mit Neugeborenen durchzuführen. Auf welcher Grundlage sollen sie aber bei einer Familie mit anderem kulturellen Hintergrund und damit anderen Lebensgewohnheiten einschätzen, wann ein Kind tatsächlich in Gefahr ist?

DJI: Was muss die Politik nun dringend anpacken?

KEUPP: Wir brauchen eine grundlegende Neuorientierung in Politik und Praxis. Es reicht nicht, nur nach Ursachen von Krankheiten und Störungen zu fragen, vielmehr muss die Frage im Vordergrund stehen, was denn eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ausmacht, welche Ressourcen und Kompetenzen sie dafür benötigen und wie man diese allen Heranwachsenden zur Verfügung stellen kann. Hier ist es notwendig, die möglichst optimale Förderung von Kindern und Jugendlichen zu einem Ziel gesamtstaatlicher Politik zu erklären. Mit anderen Worten: Es erfordert gemeinsame Anstrengungen von Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Familienpolitik, damit das Ziel der Chancengerechtigkeit erreicht werden kann.

DJI: Das klingt sehr abstrakt, was bedeutet das für die Politik?

KEUPP: Die Kommission des 13. Kinder- und Jugendberichts hat ihrer Arbeit die Konzepte der Salutogenese des israelischen Gesundheitsforschers Aaron Antonovsky und der »Verwirklichungschancen« im Sinne des Nobelpreisträgers Amartya Sen zugrunde gelegt, die nach den für ein gesundes Aufwachsen erforderlichen Ressourcen fragen. Die uns vorliegenden Daten belegen eindrucksvoll, dass vor allem die wachsende Armut von Heranwachsenden ein besonderes Gesundheitsrisiko darstellt. Auf dieser Grundlage sind von der Politik verstärkte Anstrengungen zur Überwindung von Armut zu fordern. Die Einführung einer »Kindergrundsicherung« könnte hier ein wichtiger Schritt sein. Eine Initiative von Verbänden und Fachleuten fordert diese Maßnahme seit langem. Die Kindergrundsicherung von 500 Euro sollen alle Kinder bekommen, unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern, unabhängig von der Kinderzahl in einer Familie, unabhängig vom Alter der Kinder. Die Kindergrundsicherung soll der Besteuerung unterliegen und damit sozial gerecht sein.

DJI: Brauchen wir auch andere Gesetze?

KEUPP: Die meisten vorhandenen Gesetze sind zwar gut, aber ihnen fehlt eine Bezogenheit aufeinander, die eine optimale Nutzung von Hilfsmöglichkeiten ermöglicht. Da gibt es das Gesetzbuch, das die Kinder- und Jugendhilfe regelt, eines für den Behindertenbereich und eines für das Gesundheitssystem. Und es gibt natürlich entsprechend viele verschiedene Geldtöpfe. Die dringend notwendige Kooperation wird oft blockiert, weil sich gleich drei unterschiedliche Systeme um die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen kümmern sollen: das Gesundheitswesen, die Kinder- und Jugendhilfe und die Eingliederungshilfe für Kinder mit Behinderung. Wir brauchen deshalb endlich eine große Lösung, die die Juristen der Regierungen allerdings erst noch entwickeln und ausarbeiten müssen.

DJI: Was meinen Sie mit großer Lösung?

KEUPP: Lassen Sie es mich am Beispiel von Kindern mit körperlicher Behinderung erklären. Diese Heranwachsenden müssen ja nicht nur mit ihrer Behinderung fertig werden, sondern sie haben auch andere gesundheitliche Probleme. Sie ernähren sich vielleicht falsch, haben eine Allergie oder Verhaltensstörung. Für die Eltern ist es heute ein echter Spießrutenlauf herauszufinden, wo sie für welches Problem die nötige Hilfe bekommen. Während sich Akademikereltern hier mit viel Mühe vielleicht noch einen Weg bahnen können, um ihren Kindern die beste Förderung zukommen zu lassen, ist es doch kein Wunder, dass Kinder mit bildungsfernen Eltern oder mit Migrationshintergrund unter diesen Umständen von Beginn an schlechtere Chancen haben. Aber jedes Kind, ob behindert oder psychisch auffällig, ob reich oder arm, hat nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen das Recht darauf, im höchstmöglichen Maße gesund aufzuwachsen. Und das gilt auch für jene fünf Prozent, deren Gesundheit die Eltern bei der Studie des Robert Koch-Instituts weniger gut bewerteten.

Interview: Birgit Taffertshofer


Der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp ist Vorsitzender der Sachverständigenkommission, die in diesem Sommer den 13. Kinder- und Jugendbericht zum Thema gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe vorlegte. Die Geschäftsführung hatte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) inne. Der 300-seitige Bericht sucht unter anderem nach den Möglichkeiten der Verbesserung und Vernetzung der unterschiedlichen Systeme, die sich um die Gesundheit der Heranwachsenden sorgen sollen. Außerdem formuliert die interdisziplinär besetzte Kommission konkrete Empfehlungen für Politik und Praxis, um in fünf Jahren überprüfbare Gesundheitsziele zu erreichen. Der Bericht mit dem Titel »Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen« kann per E-Mail unter parlament@bundesanzeiger.de bestellt werden.
Zusätzliche Informationen zum Thema sind im Internet unter www.dji.de/Thema/09/07 zu finden.


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2009