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SUCHT/547: Onlinesucht - "Wir haben großen Handlungsbedarf!" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2008

Onlinesucht

"Wir haben großen Handlungsbedarf!"


Eindringlich wies Prof. Dr. Rainer Thomasius im Arbeitskreis Interdisziplinäres Ethik-Seminar darauf hin, dass zwar noch große epidemiologische Studien fehlten, dass aber jetzt schon eindeutige Belege vorlägen, denen zufolge Kinder und Jugendliche zunehmend der so genannten Onlinesucht verfallen. Rainer Thomasius ist der ärztliche Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

Zu Beginn des Seminars hatte Dr. Ingrid Schneider von BIOGUM (Forschungsgruppe Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt) provozierend gefragt, was denn dieses Thema mit Medizin-Ethik zu tun habe. "Wäre es nicht besser, nicht vorschnell zu pathologisieren, das Internet als Chance zu sehen, auch wenn es Schattenseiten dieser ortlosen Kommunikation gibt?" Zu diesen Schattenseiten gehöre die Gefahr, "dass wir von falschen Identitäten getäuscht werden, ohne dass wir die Möglichkeit haben, dem nachzugehen". Gerade Kinder und Jugendliche, so Ingrid Schneider, gehen mit der neuen Technik unbefangen um, es entstehe so leicht die Gefahr, dass sie in eine Scheinwelt eintauchten. Und: "Kinder mit Defiziten werden dies nicht durch neue Techniken kompensieren können. Ob aber das Internet solche Defizite auslöst, ist wohl noch nicht gesichert."


Was lockt hier besonders?

Rainer Thomasius stellte fest, seit sich vor 1993 vor allem männliche Computerspezialisten dem Internet gewidmet hätten, sei die Zahl der Freizeitnutzer gewaltig gestiegen. Zigmillionen Menschen verbrächten heute jeweils täglich etwa 120 Minuten im Netz (verglichen mit 225 Minuten vor dem Fernseher). Hinzu kämen Kinder und Jugendliche, die zwischen drei und vier Stunden vor dem Schirm sitzen. Als besonders attraktiv erscheine die weite, zeitlich unbegrenzte und kostengünstige Verfügbarkeit. Bei den bevorzugten Spielen in Netz lockten Kinder und Jugendliche vor allem die Fortschritte im jeweiligen Spiel und die damit zusammenhängenden Belohnungen. Hier sei eine Ausprägung von Verhalten mit suchtähnlichem Charakter durchaus möglich, sagte Rainer Thomasius und nannte Telepräsenz, Zeitvergessenheit, Immersion: "Eine unsichere Bindungsorganisation erfährt passagere Beschwichtigung, die narzistische Regulierung gelingt, es entstehen Fantasien von Macht und Stärke." Als Persönlichkeitsmerkmale der betroffenen Kinder und Jugendlichen seien festgestellt worden: Impulsivität, geringe autonome Stabilität, Depressivität und Aggressivität sowie die Komorbidität mit Suchtmittelgebrauch, hier vor allem Tabak und Alkohol. "Ist dies alles eine Folge der Internet-Nutzung? Darüber wissen wir noch nichts. Aber Entzugssymptome lassen sich durchaus feststellen."


Weitere Untersuchungen nötig

Wer sich, wie die bislang spärlich untersuchten Kinder und Jugendlichen, stundenlang im Netz aufhalte, vernachlässige andere Vergnügungen, "wir können hier, ähnlich wie beim pathologischen Glücksspiel, von Missbrauch und Abhängigkeit sprechen". Letztlich sei es ziemlich gleichgültig, wie man das einordne, die Reaktionen der Betroffenen ähnelten jedenfalls denen anderer Menschen mit bereits klassifiziertem Suchtverhalten. Zu den Entzugssymptomen gehören nach den Worten von Rainer Thomasius aggressives Verhalten, Scham wegen der eigenen Aggressivität, ein Gefühl der Leere und depressive Verstimmung. Wie viele Kinder und Jugendliche letztlich von exzessiver Internetnutzung betroffen seien, stehe noch nicht fest, es gebe keine gesicherte Zahl. Etwa drei Prozent der untersuchten Jugendlichen erfüllten die Kriterien des problematischen Internet-Gebrauchs, hier könne man von Abhängigkeit sprechen. Nach einer Wiener Studie zeigen mindestens neun Prozent der Untersuchten ein missbräuchliches Verhalten - damit sind wir schon bei zwölf Prozent. "Wir müssen explorieren, ob die Internetnutzung zur heute üblichen Entwicklung Jugendlicher gehört, wir dürfen nicht nur nach süchtigem Verhalten fragen", mahnte der Wissenschaftler. Gesichert seien inzwischen die Auswirkungen dieses Konsums: Konzentrationsschwierigkeiten und Schulangst, die Leistungsbereitschaft werde beeinträchtigt. Noch wisse niemand, wie solchem Verhalten vorgebeugt werden könne, da gebe es keine Studien, bestehe also erheblicher Forschungsbedarf: "Wir brauchen Kenntnisse über die Selbst- und Beziehungswelt junger Menschen - wie steht es mit deren Selbstwertregulierung und Empathiefähigkeit?" Zur möglichen Rückfallprophylaxe gehörten der Abbau von Selbstunsicherheit und sozialer Angst. Dazu gebe es im UKE seit gut einem Jahr ein entsprechendes Programm unter dem Titel "Lebenslust statt Online-Flucht". Es dauere zehn Stunden, und damit gelinge es, die Internet-Nutzung zu reduzieren. Allerdings reagierten die jungen Menschen häufig mit Essstörungen und aggressivem Verhalten, sodass hier eine weitere Therapie angesagt sei. "Insgesamt", so Rainer Thomasius, "haben wir gewaltigen Handlungsbedarf, wenn ich nur an den Mangel an zuverlässigen Informationen denke. Nötig sind epidemiologische Untersuchungen, wir brauchen exakte Diagnostikinstrumente und eine entsprechende Therapieforschung!"


Hilfe per Mail

Nach eigenen Aussagen ist Gabriele Farke aus Buxtehude selbst betroffen gewesen von der Online-Sucht. Ihre Reaktion: Sie gründete HSO - Hilfe zur Selbsthilfe bei Onlinesucht. Aufgrund der dabei gewonnenen Erfahrungen sagt sie, das gehe vor allem auch die Erwachsenen, die Eltern an, "die Kinder und Jugendlichen, die sich an uns wenden, sind häufig alleingelassen, sie kommen aus gestörten Familien". Von Onlinesucht spreche sie, wenn das Leben ins Internet integriert werde und nicht umgekehrt. Die bei HSO Rat Suchenden sind nach eigenen Aussagen 100 bis 120 Stunden im Internet - wöchentlich! Sei die Onlinesucht noch vor wenigen Jahren als harmlose Randerscheinung des gesellschaftlichen Lebens angesehen worden, sei inzwischen besorgtes Interesse festzustellen: "Es wird zunehmend erkannt, dass die Betroffenen sozusagen das Leben verlassen und in immer mehr Isolierung versinken. Das Leben steckt für diese Menschen im Rechner. Nimmt man ihnen den Rechner, nimmt man ihnen das Leben." Die Betroffenen - HSO geht von rund zwei Millionen aus - gehen nicht mehr aus dem Haus, sie sind nicht mehr in der Lage, in den Bus zu steigen - sie haben Angst vor dem realen Leben, die Schule hört für sie auf zu existieren, der Verlust des Arbeitsplatzes folgt, schon scheinen nach Aussage von Gabriele Farke Hirnschädigungen belegt zu sein. HSO arbeitet ausschließlich per E-Mail "anders erreichen Sie diese Menschen nicht!", mehr als 1000 Mitarbeiter machen inzwischen mit. Zwar sei die Onlinesucht noch nicht offiziell als Krankheit anerkannt, die Krankenkassen aber bezahlen bereits für die Beratung, "das läuft dann unter der Ziffer von nicht näher bezeichnetem abnormen Verhalten". Zu den Ratschlägen von HSO gehören: entfernen Sie die Computer aus dem unmittelbaren Wohnbereich, erstellen Sie einen konkreten Tages- und Wochenplan für Ihre Online-Sitzungen, reden Sie offen über das Suchtproblem, hinterfragen Sie sich genau, was Sie im Internet suchen (und finden?), das Sie in der Realität nicht haben. HSO hat überdies ein Sicherungsprogramm entwickelt, mit dessen Hilfe die Eltern per E-Mail informiert werden, wenn sich das Kind ein- und ausloggt. So können die Erwachsenen auch vom Arbeitsplatz aus kontrollieren, ob zu Hause alles in Ordnung ist. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.onlinesucht.de. (wl)


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2008 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2008/200812/h081204a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2008
61. Jahrgang, Seite 70 - 72
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Karl-Werner Ratschko (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2009