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ENTWICKLUNG/1128: Informatik und Gehirnforschung - Modell zur Früherkennung von Krankheiten wie z.B. Demenz (idw)


FernUniversität in Hagen - 08.12.2014

FernUni-Informatiker nutzen Daten physiologischer Studien von neuen Nobelpreisträgern



Der 10. Dezember ist für Prof. Dr. Gabriele Peters und Dipl.-Inform. Jochen Kerdels ein besonderes Datum: An diesem Tag erhalten Edvard und May-Britt Moser zusammen mit dem US-Amerikaner John O'Keefe den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Daten aus neurophysiologischen Studien des norwegischen Forscherehepaars Moser haben die Leiterin des Lehrgebiets Mensch-Computer-Interaktion der FernUniversität in Hagen und ihr Wissenschaftlicher Mitarbeiter für ihre eigenen Grundlagenforschungen verwendet, die einmal in der Gehirnforschung eingesetzt werden könnten.

Der Physiologe Edward C. Tolman erkannte Ende der 1940er Jahre, dass Ratten ein zielgerichtetes Verhalten zeigen, wenn sie sich in einem Labyrinth bewegen. Er stellte die Theorie auf, dass die Ratten "eine Karte im Kopf" haben, mit der sie "navigieren", so Jochen Kerdels. Beweise für diese Theorie gab es zunächst jedoch nicht. Ein erster Hinweis darauf, dass Tolman recht haben könnte, wurde erst 1971 von John O'Keefe gefunden. Er identifizierte durch die direkte Messung einzelner Nervenzellen im Hippocampus von Rattenhirnen sogenannte "Ortszellen" ("Place Cells"). Diese Neuronen wurden immer dann aktiv, wenn das Tier an bestimmten Stellen in einem Raum war. Jede Ortszelle war hierbei nur für einen bestimmten Teil des Raumes zuständig, andere Zellen "feuerten" an anderen Stellen. Eine Gruppe von Ortszellen stellt somit eine Art Karte dar - ganz so, wie Edward Tolman es vorhergesagt hatte.

Daraus ergaben sich neue Fragen: Woher "weiß" die "Ortszelle", wo die Ratte gerade ist? Wie codieren die Zellen die Position der Ratte? Welche Fähigkeiten müssen diese Zellen haben? Wie kann man sie zu einem bestimmten Verhalten anregen?

In diesem Zusammenhang gelang dem Ehepaar Moser im Jahr 2005 eine entscheidende Entdeckung. Sie fanden sogenannte "Gitterzellen" ("Grid Cells") in einem Bereich des Gehirns, der dem Hippocampus vorgeschaltet ist und der diesem Informationen zuführt. Gitterzellen haben ein höchst ungewöhnliches Verhalten. Sie werden an regelmäßigen Positionen im Raum aktiv und erzeugen mit dieser Aktivität eine Art virtuelles Koordinatennetz, das aus gleichseitigen Dreiecken besteht.

Dieses Aktivitätsmuster weckte das Interesse des Forschungsteams aus Hagen, da ähnliche Muster in der Informatik bei "selbstorganisierenden Lernverfahren" zu beobachten sind. Dementsprechend wurde auf Basis dieser Verfahren ein theoretisches Modell der Gitterzellen entwickelt. Wie in der Neurowissenschaft üblich stellten die Mosers die Daten ihrer Experimente der Wissenschaft zur Verfügung. Mit diesen Daten "fütterte" das Hagener Lehrgebiet sein theoretisches Modell. Wie ihr biologisches Vorbild "feuerte" auch die simulierte Zelle an regelmäßigen Positionen: Im Hagener Modell zeigte sich ebenfalls die Zerlegung des Raums in dreieckige Strukturen. Dies lässt die Vermutung zu, dass der Aktivität von Gitterzellen ein Prozess zur Fehlerminimierung zugrunde liegt.

Mit Hilfe ihres theoretischen Modells können die Informatikerin und der Informatiker auch die Aktivität einer ganzen Population von Gitterzellen simulieren und erforschen, wie sich die Aktivitätsmuster der Zellen verändern, wenn man bestimmte Eigenschaften der simulierten Zellen verändert. Wie hängen zum Beispiel die Aktivitätsmuster der Gitterzellen von der Struktur der Eingabedaten ab? Und können die Aktivitätsmuster anderer Neuronenarten mit dem gleichen Modell beschrieben werden?

Die zentrale neue Annahme des Hagener Lehrgebiets ist, dass der Dendritenbaum einer Zelle nicht einfach nur Informationen sammelt, sondern eine komplexere Aufgabe erfüllt - er wird daher von dem Hagener Forschungsteam als "selbstorganisierende Karte" betrachtet. "Vor kurzem publizierte Ergebnisse aus der Neurobiologie stützen diese These", so Projektleiter Jochen Kerdels. Ein Dendritenbaum ist von seinem Aussehen und seiner Funktion her einer Baumwurzel ähnlich, nur sammelt er keine Nährstoffe, sondern Informationen. Je nachdem, welche Reize den Dentridenbaum treffen und an welcher Stelle dies im Dendritenbaum geschieht, wird die Zelle dazu angeregt, auf verschiedene Eingabemuster zu reagieren. Vorherige Modelle gingen bislang davon aus, dass ein Neuron nur auf ein einzelnes Eingabemuster reagiert.

Der Erforschung von Gitterzellen kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie in einem Hirnareal liegen, das mit hohen Gehirnfunktionen wie dem Abspeichern persönlicher Erlebnisse ("episodisches Gedächtnis"), dem Orientierungssinn oder auch der Verarbeitung von Sprache in Verbindung steht: "Man lernt dadurch etwas über Hirnfunktionen und nähert sich ein wenig der Antwort auf die Frage, was Bewusstsein ist", erläutert Gabriele Peters. Und zwar, ohne dass an lebenden Tieren geforscht werden muss.

Der Wissenschaftler und die Wissenschaftlerin sind sich darüber im Klaren, dass kurzfristig kaum praktische Anwendungsmöglichkeiten ihres Modells zu erwarten sind: "Das ist bei Grundlagenforschung nun einmal so", betont Prof. Peters. Das Modell könnte vielleicht in der Zukunft für bestimmte Krankheiten wie z.B. Demenz interessant werden: Was passiert, wenn mehr und mehr Neuronen absterben? Was, wenn der Dentridenbaum nur noch halb so lang ist? "Vielleicht kann man einmal voraussagen, wie sehr frühe Ausfallerscheinungen von Demenz aussehen." Dafür muss das Modell, das sich heute nur auf eine bestimmte Art von Eingabedaten - dem Bewegungsmuster von Ratten - bezieht, auf andere Gebiete übertragen werden. Die daraus gewonnenen Vorhersagen können dann wiederum von der Neurobiologie praktisch überprüft werden.

So arbeiten zwei auf den ersten Blick recht weit entfernte Wissenschaften - Informatik und Gehirnforschung - Fachgrenzen überschreitend eng zusammen.

Prof. Peters unterstreicht, dass sie und ihr Team keineswegs die ersten Forschenden sind, die sich damit beschäftigen, das Verhalten von Gehirnzellen vorherzusagen: "Andere Modelle sind aus neurobiologischer Sicht vielleicht sogar realistischer." Der Vorteil des an der FernUniversität entwickelten Modells liegt aber darin, dass die Zahl der Annahmen - also nur vermuteter Voraussetzungen - auf nur eine zentrale Annahme minimiert wurde. "So setzen wir etwa nicht die Existenz bestimmter Zellen voraus, die noch gar nicht entdeckt sind." Was oft erst nach Jahrzehnten gelingt. Oder auch nie.


Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.fernuni-hagen.de/universitaet/aktuelles/2014/12/05-am-grids.shtml
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Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution151

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
FernUniversität in Hagen, Susanne Bossemeyer, 08.12.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2014


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