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ENTWICKLUNG/696: Biomedizintechnik - Von der Zelle zum funktionalen Gewebe (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 01/02 - 2010
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Von der Zelle zum funktionalen Gewebe

Wie Spezialreaktoren die Züchtung menschlichen Gewebes optimieren

Von PD Dr. Cornelia Kasper


Das Tissue Engineering ist ein rasant wachsendes interdisziplinäres Forschungsgebiet, das zum Ziel hat, künstliche Gewebe zu erzeugen. Damit wächst besonders die Hoffnung der Patienten, die auf ein neues Organ oder Ersatzgewebe warten. Eine Wissenschaftlerin des Instituts für Technische Chemie erklärt, wie mit Hilfe von Spezialgefäßen, so genannter Bioreaktoren, die Herstellung von Knochen- und Knorpelgewebe oder auch Haut optimiert werden kann.


Die zunehmende Lebenserwartung der Menschen in den Industrienationen hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren ein stetig steigender Bedarf an "Ersatzgeweben und Ersatzorganen" zu verzeichnen ist. Darüber hinaus ist es noch immer ein Problem, dass der hohen Zahl notwendiger Transplantationen eine viel zu geringe Zahl verfügbarer Spenderorgane gegenüber steht. Zugleich steigt mit zunehmendem Lebensalter die Zahl der erkrankten, verletzten oder gealterten Organe rasant an. Das Tissue Engineering, auch Gewebekonstruktion oder Gewebezüchtung genannt, ist ein Bereich der so genannten regenerativen Medizin, der es ermöglicht, humane Ersatzorgane oder -gewebe aus menschlichen Zellen zu erzeugen.

In der Literatur finden sich erste Beschreibungen zur Verpflanzung oder Züchtung künstlicher Gewebe und Organe bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Doch erst 1975 gelang es Wissenschaftlern, Hautzellen als Gewebeverband im Labor künstlich zu züchten. Seither wird versucht, nahezu jedes Gewebe des menschlichen Körpers im Labor "nachzubauen". In den letzten zehn bis zwanzig Jahren sind vor allem die Gewebe des menschlichen Stützapparates Gegenstand intensiver Forschungsarbeiten gewesen. Zunehmend sind aber viel komplexere Organe in den Fokus der Wissenschaft gerückt. So wird zum Beispiel daran gearbeitet, eine "Ersatz-Bauchspeicheldrüse" zu züchten. Hierdurch soll es möglich werden Diabetes-Patienten zu heilen, indem insulinproduzierende Zellen in einer "Kapsel", dem so genannten Bioreaktor, dem Patienten eingepflanzt werden und dort die Funktion des defekten Organs unterstützen oder übernehmen sollen. Aber auch die Züchtung verschiedener Zellen des Nervensystems ist in den Blickpunkt des Interesses gerückt, denn es werden Hoffnungen darauf gesetzt, neurodegenerative Krankheiten wie Morbus Alzheimer oder Morbus Parkinson sowie auch Schäden anliegender Nerven nach schweren Unfällen mittels Tissue Engineering zu lindern oder gar zu heilen.


"Zutaten" für das Tissue Engineering

Für die erfolgreiche Züchtung funktioneller Gewebe benötigt man verschiedene "Zutaten". Abhängig vom Zielgewebe werden diese unter möglichst physiologischen Bedingungen, zum Beispiel durch physikalische Stimulation, im Labor in geeigneten Spezialbioreaktoren zu Gewebeverbänden herangezüchtet. Heute werden vor allem patienteneigene, so genannte autologe Zellen (vor allem adulte Stammzellen), für die künstliche Gewebezüchtung eingesetzt. Diese Zellen kann man dann auf körperverträglichen 3-D-Stützgerüsten (biokompatible Matrices) in komplexen Nährmedien unter Zusatz verschiedenster Wachstums- und Differenzierungsfaktoren (zum Teil unter Einsatz mechanischer Stimulation wie etwa Druck, Zug, Drehung, oder Durchblutung) zu funktionellen Geweben ausdifferenzieren. Diese so entstandenen Gewebe haben den Vorteil, dass sie bei Reimplantation in den Patienten keine Abstoßungsreaktion auslösen.


Spezialbioreaktoren für das Tissue Engineering

Die Züchtung eines funktionellen 3 D-Gewebekonstrukts setzt eine optimale Versorgung der Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen in einem geeigneten Bioreaktor voraus. Dieser Bioreaktor muss vor allem eine geeignete Ausstattung an Sensoren aufweisen, die es ermöglichen, "lebenswichtige" Zell-Funktionen wie zum Beispiel Stoffwechselaktivität, zu erfassen und die Kultivierungsparameter wie Temperatur, pH-Wert oder Durchblutung zu messen und steuern. Nur so kann unter kontrollierten und reproduzierbaren Bedingungen funktionelles Gewebe entstehen. Im Gegensatz zu den "statischen Bedingungen", unter denen die zellbesiedelten Trägerstrukturen (scaffolds) einfach in Medium in Zellkulturplatten kultiviert werden, werden für Tissue Engineering-Anwendungen Bioreaktoren eingesetzt, in denen die Zellen unter "dynamischen Bedingungen" gezüchtet werden. Die am häufigsten eingesetzten Systeme sind so genannte Spinnerflaschen, Perfusions-Systeme und Rotating Wall Vessel-Reaktoren (RWVR). Diese Reaktortypen sind schematisch in Abbildung 2 dargestellt. In den Spinnerflaschen wachsen die Zellen auf Trägermaterialien, die durch Rühren im Medium in Bewegung gehalten werden. Auch bei Perfusionskultur-Systemen wachsen die Zellen auf Trägermaterialien, welche durch Drehung mit Medium durchströmt werden. In den Rotating Wall Vessel-Reaktoren (RWVR) dagegen befinden sich die zellbesiedelten Träger ständig sozusagen im freien Fall, was auf die Zelle schonend wirkt.


Forschungsarbeiten und Kooperationen

Knochen, Knorpel und Haut

Knorpel- und Knochendefekte kommen häufig vor und werden durch Unfälle, Tumore, entzündliche oder altersbedingte Erkrankungen hervorgerufen. Ein weiteres Problem bei Knorpelschäden ist, dass Gelenkknorpel sich kaum selbst regenerieren. Oft werden als letzte Konsequenz künstliche Gelenke eingesetzt, die jedoch eine eingeschränkte Lebensdauer haben. Eine der neuen Heilungsmethoden ist die so genannte Autologe-Chondrozyten-Transplantation (ACT). Bei dieser Methode werden patienteneigene Knorpelzellen (die so genannten Chondozyten) ex vivo, das heißt im Labor, vermehrt und anschließend in den Patienten reimplantiert. Diese Methode kann zu einer Regeneration von Knorpelgewebe führen. Bei Knochendefekten wird häufig die autologe Knochentransplantation angewandt, bei der das Knochenmaterial meistens aus dem Beckenkamm des Patienten entnommen und an die Defektstelle verpflanzt wird. Dieser Eingriff bedeutet aber, dass beim Patienten ein zusätzlicher invasiver Eingriff durchgeführt wird, der nicht nur das Risiko einer Infektion an der Entnahmestelle birgt, sondern auch Schmerzen verursachen kann. Bei großen Defekten zum Beispiel der Röhrenknochen ist diese Methode jedoch nicht ausreichend. Als Alternative werden tiefgefrorene Knochen von Spendern (aus Leichen) implantiert. Kritisch dabei sind sowohl das mögliche Infektionsrisiko mit Bakterien oder Viren durch das Spendermaterial als auch mögliche Abstoßungsreaktionen.

Haut gehörte zu den ersten künstlich hergestellten Geweben. Hautersatz ist vor allem für die zahlreichen schwerstbranntverletzten Patienten lebensrettend. Denn wenn große Bereiche der Haut verbrannt sind und den Körper des Patienten somit nicht mehr vor Infektionen nach außen schützen, stirbt der Patient häufig in Folge dieser Infektionen. Darüber hinaus wird auch geeignetes Ersatzhautgewebe zur Behandlung von Narben benötigt. Nicht selten werden Patienten zum Beispiel nach schweren Verbrennungen aufgrund der ausgeprägten Narbenbildung

In der Arbeitsgruppe "Zell- und Gewebekulturtechnik - Tissue Engineering" des Instituts für Technische Chemie (TCI) werden Spezialreaktoren für die Züchtung von Knochen- und Knorpelgewebe sowie Haut entwickelt und optimiert. Hierbei ist vor allem auch die Integration geeigneter Sensorik wie etwa Sauerstoff, pH-Wert oder Glukose von großem Interesse, mittels derer die Entwicklung der Zell- und Gewebestrukturen quasi "beobachtet" werden kann. Für die Züchtung biologisch funktionellen Gewebes müssen während der Kultivierung der Zell-Matrix-Konstrukte oft auch physiologische Reize in Form von mechanischer Stimulation der Zellen durch zum Beispiel Druckbelastung, Zugkraft oder Scherkräfte eingebracht werden. Am Institut für Technische Chemie sind in Kooperation mit einem Partner aus der Traumaforschung (Prof. Martijn van Griensven, Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie, Wien) Systeme entwickelt worden, in denen adulte Stammzellen durch die Einwirkung dieser mechanischen Stimulation gezielt in Knochengewebszellen differenziert werden können. Diese Reaktoren wirken quasi wie "Fitness-Kammern", in denen die Zellen auf ihren künftigen Einsatz trainiert werden. Außerdem ist am TCI ein Perfusions-Bioreaktor für die Testung von Biomaterialien entwickelt worden. In diesem Bioreaktor können mehrere verschiedene Materialien parallel auf ihre Eignung als Trägermaterial zum Beispiel für die Knochen- und Knorpelgewebszüchtung untersucht werden. Hierbei werden biologische (zum Beispiel Kollagen) und auch synthetische Materialien (zum Beispiel Keramiken, Polymere) mit Zellen besiedelt und unter dynamischen Flussbedingungen und optimaler Versorgung kultiviert.

Menschliche Haut stellt zum Beispiel die Grenzfläche zwischen dem menschlichen Körper und der Umwelt dar. Die Zellen an der Unterseite der Haut haben vornehmlich Kontakt zu Flüssigkeiten, die Zellen an der Oberfläche der Haut hauptsächlich mit Gasen (Luft). In vielen der heute im Tissue-Engineering verwendeten Bioreaktoren werden die Gewebestücke submers, das heißt komplett von Medium bedeckt, kultiviert. Daher wurde in Kooperation mit dem Zentrum für Regenerative Medizin in Tübingen (PD Dr. Lothar Just) am Institut für Technische Chemie ein neuartiges Bioreaktorsystem entwickelt, welches zum Beispiel im Bereich der Züchtung von Haut zu deutlich besseren Ergebnissen führen soll. Hierbei werden die Gewebeproben in einem Aerosol (Nebel) aus zerstäubtem Nährmedium platziert. Die Versorgung mit Nährstoffen findet über die Aerosoltröpfchen statt, welche auf dem Gewebestück kondensieren. Ein temperierbares Wasserbad sorgt für eine konstante Temperatur im Reaktorinnenraum. Durch eine sehr dünne Edelstahlfolie im Boden des Reaktors wird der Ultraschallgeber vom sterilen Innenraum des Reaktors separiert.


Nervenregeneration

In einer Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Herrn Prof. Peter Vogt (Klinik für Plastische-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, MHH) arbeitet das Institut für Technische Chemie schon seit einigen Jahren an der Entwicklung von automatisierten Spezialgeräten sowie Bioreaktoren für den Einsatz und zur Herstellung so genannter Nerveninterponate, mit deren Hilfe größere Gewebeschädigungen durch den Einsatz von Transplantaten oder Implantaten überbrückt werden können.

Unfälle, Geburtstraumata oder Tumore können zu Defekten an peripheren Nerven, zum Beispiel an Händen, Füßen, Armen, Beinen oder im Gesicht, führen. Zur Heilung ist es wichtig, durch ein solches Nerveninterponat die Defektstrecke zu überbrücken. Im klinischen Alltag werden daher Nervendefekte bei Vorhandensein geeigneten Spendergewebes durch einen patienteneigenen Spendernerven versorgt, dessen Entnahme allerdings mit weiteren Defekten und Funktionsausfällen verbunden ist. Die zur Verfügung stehenden eigenen Nerventransplantate reichen zudem oft nicht aus, um den Defekt komplett zu rekonstruieren. Aus diesem Grund wird nach alternativen Möglichkeiten des Nervenersatzes geforscht.

Die proteinhaltigen Fäden der Spinnen der Gattung Nephila clavipes besitzen für die regenerative Medizin günstige Eigenschaften: Sie fördern das Zusammenhaften und die Teilung von Zellen und werden darüber hinaus vom körpereigenen Abwehrsystem weitgehend toleriert und körperverträglich abgebaut. Spinnenseide ist extrem elastisch, ihre Zugfestigkeit ist ungefähr fünfmal stärker als Stahl.

Für die Gewinnung des Seidenmaterials wird das Haupt-Schleppseil der Spinnen verwendet, das die Tiere als Sicherheitsseil und Baumaterial für die Radien verwenden. In den Forschungslabors werden unter der Leitung von Frau Dr. Kerstin Reimers die Spinnen liebevoll und erfolgreich gezüchtet und deren Spinnenseidenfäden "geerntet". Hierzu sind am Institut für Technische Chemie verschiedene automatisierte Spezialgeräte entwickelt worden. Die Spinnen übrigens überleben diese Prozedur natürlich und werden nach getaner Arbeit mit einem Futtertier belohnt. Außerdem wurde am TCI eine so genannte Reepmaschine zur Herstellung von Seilen/Tauen aus Spinnenseidenfäden entwickelt und gebaut. Diese Seile können vor allem auch zur Wiederherstellung defekter Sehnen eingesetzt werden.


PD Dr. Cornelia Kasper Jahrgang 1965, ist seit 2006 Privatdozentin am Institut für Technische Chemie an der Leibniz Universität Hannover. Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeiten sind Zellkulturtechnik, Tissue Engineering, Entwicklung von Bioreaktorsystemen und Optimierung der Prozesstechnik, Funktionalisierung und Testung von Biomaterialien für das Tissue E ngineering, sowie Stammzellexpansion und -differenzierung.
Kontakt: kasper@iftc.uni-hannover.de


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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 01/02 - 2010, Seite 8-11
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
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Das Heft kostet 6,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2010