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ENTWICKLUNG/702: Elektrogesponnene Fasern für die regenerative Medizin (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 01/02 - 2010
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Elektrogesponnene Fasern

Trägermaterial und Wirkstoffdepot für die regenerative Medizin

Von Birgit Glasmacher und Andreas Szentivanyi


Erkrankungen können die Funktionen von Zellen, Gewebe oder Organen im menschlichen Körper erheblich beeinträchtigen. Die Regenerative Medizin träumt von einem umfangreichen Ersatz für den Menschen: Ein neues Herz für den Infarktpatienten, eine neue Lunge für die an Krebs erkrankte Raucherin, eine Niere statt Dialyse. Bisher gibt es dies nur als Organspende. Unter Tissue Engineering versteht man die Kultivierung von lebendem Gewebe zur Wiederherstellung der geschädigten Organe.


Durch die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung und die damit höhere Morbidität gewinnt das Feld der Regenerativen Medizin zunehmend an Bedeutung. So werden zum Beispiel Konzepte und Produkte zur Behandlung von Herz- und Gefäßerkrankungen oder Therapien für den Ersatz von Knochen erforscht. Ein Behandlungsansatz ist dabei die Nachbildung von biologischen Strukturen durch Werkstoffe, die für den Menschen gut verträglich sind und gegebenenfalls vom Körper abgebaut werden können. Aktuell wird dabei überwiegend der Ersatz von biologischen Strukturen wie Haut oder Gefäßen angestrebt. Aber auch der Ersatz höherer biologischer Systeme - wie sie in Organen vorliegen - wird verfolgt, ist jedoch aufgrund der durch die Natur vorgegebenen Komplexität sehr viel schwieriger umzusetzen. Erste Publikationen berichten über die Nachbildung einzelner Teilfunktionen von Organen wie das Gefäßsystem der Lunge oder die räumliche Fixierung von Leberzellen durch sphärische Trägermaterialien.

Functional Tissue Engineering beschäftigt sich mit dem Ersatz von biologischen Strukturen. Diese Disziplin umfasst zum einen die Bereitstellung eines geeigneten Gerüsts, des so genannten Scaffold, auf dem die Besiedlung mit Zellen durchgeführt werden kann. Zum anderen wird versucht, das Wachstum der Zellen beziehungsweise des Gewebes durch die Einbringung geeigneter Signalsubstanzen wie Wachstumsfaktoren oder Proteine in den Scaffold gezielt zu beeinflussen. Eine weitere Herausforderung beim Tissue Engineering stellt die Kultivierung des Gewebes dar. Dies kann in vitro in einer Kultur mit stehendem Nährmedium (statisch) oder mit bewegtem Nährmedium (dynamisch) im Bioreaktor erfolgen. Die Wahl der Kultivierungsmethode hat dabei entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Besiedlung und den Zustand des ausgebildeten Gewebes.


Herstellung von Trägerstrukturen mittels Elektrospinning

Der Scaffold dient als Träger- oder Gerüststruktur für das zu kultivierende biologische Gewebe. Er gibt dessen räumliche Struktur vor und hat Einfluss auf das Verhalten von Zellen. Ein Verfahren zur Herstellung von Scaffolds ist das Elektrospinning. Hierbei wird eine Polymerlösung oder -schmelze in einem elektrischen Feld verstreckt und in eine Fasermatte aus Nano- und Submikronfasern überführt. Dazu wird die Polymerlösung mittels einer Pumpe aus einem Reservoir durch eine Düse geleitet, die an eine Spannungsquelle angeschlossen ist. Die Polymerlösung wird nach dem Austritt aus der Düse aufgrund der elektrischen Ladung in Richtung eines unter- oder oberhalb der Düse befindlichen Kollektors gezogen, wobei es zu einer starken Verstreckung der Faser kommt. Dadurch verringert sich der ursprüngliche Faserdurchmesser um mehrere Größenordnungen. Der Enddurchmesser ist dabei von der verwendeten Polymer- Lösungsmittelkombination und deren Eigenschaften wie etwa Zähigkeit, Oberflächenspannung oder Leitfähigkeit sowie den Prozessparametern (elektrische Spannung, Flussrate, Abstand zwischen Düse und Kollektor) abhängig. Auch Umgebungsparameter wie Luftfeuchtigkeit und Temperatur beeinflussen die Faserablage.

Mit diesem Verfahren können elektrogesponnene Mikro- und Nanofaserscaffolds hergestellt werden, die mit ihrer Mikrostruktur die Extrazellularmatrix (EZM) in natürlichem Gewebe nachbilden. Dazu werden Faserdurchmesser von hundert Nanometer bis ein Mikrometer angestrebt. Es ist außerdem möglich, der Polymerlösung Proteine der EZM wie Kollagen oder Fibronektin beizumischen und sie gemeinsam zu elektrospinnen. Dadurch können Anknüpfpunkte bereitgestellt werden, die das Verhalten von Zellen in Bezug auf deren Migration, Vermehrung und Gewebebildung beeinflussen. Diese selektive Funktionalisierung einzelner Fasern ist gegenüber der nichtspezifischen Proteinadsorption - zum Beispiel durch Eintauchen des gesamten Scaffolds in eine proteinhaltige Lösung - von Vorteil.

Die Herstellung von elektrogesponnenen Fasermatten aus reinen Proteinlösungen ist prozesstechnisch schwierig und kostenintensiv, da eine große Proteinmenge benötigt wird. Außerdem sind Proteine in Reinform nur mit speziellen organischen Lösungsmitteln zu verspinnen. Nachteilig ist dabei, dass diese Lösungsmittel die Proteine zumeist negativ verändern. Es wird deshalb ein Ansatz verfolgt, bei dem eine Mischung aus einem synthetischen Polymer und Proteinen verwendet wird (>blend<). Als Polymer eignet sich Polyethylenoxid (PEO), da es wasserlöslich ist und die Proteine dadurch nicht denaturiert werden. Die Wasserlöslichkeit wird nach dem Spinnvorgang aufgehoben, indem die Fasermatten unter vorheriger Zugabe von Vernetzungsadditiven zur Polymerlösung mittels UV-Licht vernetzt werden. Im wässrigen Milieu liegen die Fasern deshalb als Hydrogel vor.

In einer Studie wurde die Eignung von Fasermatten basierend auf Kollagen/PEO-, Fibrinogen/PEO- sowie Polysialinsäure/PEO-Lösungen als Zellsubstrat untersucht. Nach der Kultivierung der Fasermatten war eine gute Zellanhaftung und -morphologie zu beobachten. Es hat sich gezeigt, dass der beschriebene Ansatz mit vergleichsweise geringem Aufwand und kosteneffektiv zu realisieren ist. Faserdurchmesser und Porengröße innerhalb der Matten sind ebenfalls von Bedeutung für die Beeinflussung des Verhaltens von Zellen; so können die Zellen bei zu geringer Porengröße nicht in den Scaffold eindringen. Deshalb wird durch die Variation von Prozessparametern eine kontrollierte Einstellung von Faserdurchmesser und Porengröße angestrebt.


Einbringung von metallischen Nanopartikeln in PEO-Fasern

Elektrogesponnene, biohybride Protein/PEO-Faserscaffolds haben großes Potenzial, durch die Bereitstellung biochemischer Anknüpfpunkte eine Einflussnahme auf das Zellverhalten in der Besiedlungsphase zu ermöglichen. Die Faser dient dabei als Wirkstoffdepot. So können die Fasern auch eine Lenkung des Zellwachstums bewirken. Um die Chancen der Einbindung anorganischer Substanzen in die Fasern zu evaluieren, wurden der Polymerlösung metallische Nanopartikel (NP) hinzugegeben. Durch die frei werdenden Metallionen in der Umgebung der Zellen können verschiedene Effekte auf das Verhalten der Zelle bewirkt werden - zum Beispiel die Verhinderung beziehungsweise Verzögerung des Bewuchses oder sogar eine Verstärkung der Zellvermehrung. In einer ersten Studie wurde die Beimischung von Kupfer-, Silber- und Goldnanopartikeln in Kollagen/PEO-Lösungen untersucht. Obwohl es während des Mischvorgangs zu einer leichten Agglomeration der Nanopartikel kam, war der anschließende Elektrospinningprozess stabil und die Partikel wurden erfolgreich in die Fasern integriert. Der Effekt der Nanopartikel war lokal begrenzt: In partikelfreien Bereichen wurde nur ein geringer oder gar kein Effekt auf die Zellen registriert.

Silber- und Kupferpartikel wirkten toxisch. Goldpartikel induzierten dagegen ein Zellwachstum. Auf Basis dieser ersten Ergebnisse kann ein Ansatz verfolgt werden, bei dem unterschiedliche Zellpopulationen und -typen innerhalb eines komplex gestalteten Scaffolds mittels Faserstrukturen voneinander separiert werden. Ein wichtiger Einflussfaktor ist dabei der Stoffaustausch und der damit einhergehende Transport von Metallionen beziehungsweise -partikeln. Bei in vitro Versuchen wurde festgestellt, dass die selektive Wirkung der Nanopartikel zum Beispiel davon abhängt, wie oft das Nährmedium der Zellkultur ausgetauscht wird und somit die Konzentration von Ionen in der Umgebung der Zellen reduziert wird.


Charakterisierung der am Elektrospinningprozess beteiligten Chemikalien

Um die Wirkung der am Elektrospinningprozess beteiligten Substanzen zu ermitteln, wird die Veränderung beziehungsweise Denaturierung von Proteinen entlang der Prozesskette untersucht. Dazu wird eine Polymer/Protein-Lösung (PEO/Albumin, PEO/Alkaline Phosphatase) mit Hilfe der Fourier-Transformations-Infrarotspektroskopie (FTIR) in Gegenwart der verschiedenen, am Prozess beteiligten Substanzen charakterisiert. Durch den Vergleich der gemessenen FTIR-Spektren kann die Wirkung der Chemikalien auf die Proteine beziehungsweise eine mögliche Interaktion ermittelt werden. Dabei wird die Änderung der Sekundärstruktur anhand der Spitzenwerte (Peaks) der Amid-I-Bande festgestellt. Es hat sich gezeigt, dass eine Interaktion zwischen Albumin und den chemischen Substanzen auftritt, Bild 4a indiziert aber, dass es zu keiner Proteindenaturierung aufgrund der Wechselwirkung mit den Prozesschemikalien gekommen ist. Im Gegensatz dazu wurde bei Mischung mit Alkalischer Phosphatase auf eine teilweise Denaturierung geschlossen.


Freisetzungskinetik von Wachstumsfaktoren (Depots)

Elektrogesponnene Polymerfasern können ebenfalls durch Beimischung von Proteinen oder Wachstumsfaktoren funktionalisiert werden. Die Fasern dienen dabei als Depot, aus denen die Faktoren in das umgebende Medium freigesetzt werden und so im Rahmen der Kultivierung des Scaffolds die Anhaftung, das Einwachsverhalten und die Differenzierung der ausgesäten Zellen beeinflussen. Dabei ist besonders die Kinetik der Freisetzung, also die Menge an freigesetzten Substanzen pro Zeit, von Bedeutung. Dazu werden die Schlüsselmechanismen der Freisetzungskinetik bestimmt, um den Vorgang nach definierten Vorgaben gestalten zu können. Es wird untersucht, ob diese Mechanismen vom Faserdurchmesser der beigefügten Proteinmenge oder der Zugabe weiterer chemischer Substanzen abhängen. Als Modellprotein wurde Albumin ausgewählt, das in eine wässrige Lösung aus PEO, Vernetzungssubstanzen sowie einem Fotoinitiator gegeben wird. Um die Freisetzungskinetik zu untersuchen, werden Fasermatten mit bekanntem Gewicht in eine definierte Menge Pufferlösung bei einer Temperatur von 37 Grad Celsius gelegt. Mittels Bradford-Test wird die Proteinkonzentration in der Lösung bestimmt. Es zeigt sich, dass die Albuminfreisetzung zweiphasig verläuft: In den ersten 48 Stunden erfolgt eine schlagartige Freisetzung (>burst-release<) großer Mengen von Albumin. Der genaue Mechanismus ist dabei noch ungeklärt. Bis zum Versuchsende nach 168 Stunden wird das Albumin kontinuierlich durch Diffusion freigesetzt. Diese Vermutung wurde durch den Vergleich der gemessenen Freisetzungsrate mit einem theoretischen Modell für Diffusion bei zylindrischen Körpern bestätigt.


Anwendungen für elektrogesponnene Scaffolds

Hier besteht die Herausforderung in der makroskopischen Gestaltung von mittels Elektrospinning hergestellten Scaffolds. Die durch Tissue Engineering zu ersetzenden, biologischen Vorbilder der Gewebe oder Organe, haben häufig eine komplexe, dreidimensionale Geometrie, worauf die Form des Kollektors, auf dem die Fasern abgelegt werden, ausgerichtet sein muss. Die Gestaltung folgt dabei zunächst der für das Produkt gewünschter Endgeometrie. Dabei muss eine mögliche Schrumpfung der Fasermatte eingeplant werden. Unkompliziert zu fertigen sind zum Beispiel schlauchförmige Strukturen, die als Ersatz von Blutgefäßen dienen können. Hierzu wird ein rotierender, zylinderförmiger Kollektor besponnen, bis die gewünschte Schichtdicke erreicht ist. Schwieriger zu realisieren ist dagegen die Geometrie einer menschlichen Aortenklappe in Bild 7b. Die dreidimensionale Form mit ihren Höhenunterschieden und unvermeidbaren scharfen Kanten führt zu einer sehr ungleichmäßigen Ablage. Um das Ergebnis der Ablage zu verbessern, können zum Beispiel Luftdüsen verwendet werden, welche die Fasern in die vorgegebene Form bringen. Eine weitere Anwendung liegt in der Beschichtung von Implantaten mit Fasern, wie hier am Beispiel einer kardiovaskulären Gefäßstütze (Stent) in Bild 7c gezeigt, um die Interaktion mit den im Blut befindlichen Zellen oder dem umliegenden Gewebe zu beeinflussen.


Zusammenfassung

Die Herstellung von Trägermaterialen für die Regenerative Medizin auf Basis polymertechnischer Verfahren ist ein geeigneter Ansatz, da die Gestaltungsmöglichkeiten sehr vielseitig sind. Die Vorteile des Elektrospinnings liegen in der Möglichkeit der Kombination von verschiedenen Polymeren und Wirkstoffen in derselben Fasermatte. Zudem ist der grundsätzliche Prozessaufbau vergleichsweise leicht zu reproduzieren und der Kostenrahmen überschaubar. Aktuelle Forschungen befassen sich unter anderem mit der Beurteilung der Prozessierbarkeit einzelner Substanzen sowie der Charakterisierung des Freisetzungsverhaltens von beigefügten Wirkstoffen. Zielsetzung ist die Erzeugung von Strukturen mit physiologischen Porengrößen, Faserquerschnitten sowie die Beladung mit geeigneten Substanzen. Ein so gestaltetes und als Wirkstoffdepot fungierendes Trägermaterial könnte die nötige Dauer der Kultivierung bis zum vollständigen Bewuchs mit Zellen verringern, indem das Einwachsverhalten, die Zellmigration und die Differenzierung der Zellen beschleunigt werden.


Danksagung

Die Forschungsarbeiten wurden finanziell von der DFG durch das REBIRTH-Programm (Exzellenzcluster 62/1) unterstützt. An den Arbeiten waren maßgeblich Dipl.-Ing. Holger Zernetsch und Tanmay Chakradeo, M.Sc. vom Institut für Mehrphasenprozesse beteiligt.


Prof. Dr.-Ing. Birgit Glasmacher Jahrgang 1958, leitet seit 2006 das Institut für Mehrphasenprozesse an der Leibniz Universität Hannover und ist Sprecherin des Vorstands des Zentrums für Biomedizintechnik (zbm) der Fakultät für Maschinenbau. Sie ist Generalsekretärin der European Society for Artificial Organs sowie Vorstandsmitglied der International Federation for Artificial Organs. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen mehrphasiger Strömungen, Visualisierung und Simulation sowie Verfahrenstechnik in der Medizin (Tissue Engineering, Kryo-, Bioreaktor- und Scaffoldtechnik).
Kontakt: glasmacher@imp.uni-hannover.de

Dipl.-Ing. Andreas Szentivanyi, M.Sc. Jahrgang 1975, ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Oberingenieur am Institut für Mehrphasenprozesse an der Leibniz Universität Hannover.
Kontakt: szentivanyi@imp.uni-hannover.de


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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 01/02 - 2010, Seite 22-26
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.
Herausgeber: Das Präsidium der Leibniz Universität Hannover in
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2010