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HINTERGRUND/164: Frau am Steuer - zum 60. Geburtstag von Annette Humpe (arte)


arte Magazin - Das tägliche arte-Programm, 1.10. - 31.10.2010

Frau am Steuer

Sie brachte die Neue Deutsche Welle auf Touren und machte Die Prinzen zu Stars. Annette Humpe hat wie keine andere die deutsche Popmusik beeinflusst. Eine Hommage zum 60. Geburtstag.

Von Jörn Schlüter


Der Lieblingsort von Annette Humpe ist kein hipper Berliner Club in Mitte, sondern ihr Balkon. Sie schaut auf einen See herunter - die Stadt scheint weit weg, obwohl man mittendrin ist. Die Musikproduzentin mag es lieber ruhig und privat. Interviews? Wenn's denn sein muss. TV-Auftritte? Nur in Ausnahmefällen. Bühnen meidet sie, obwohl ihr 2004 gegründetes Duo Ich + Ich - das andere Ich ist der Sänger Adel Tawil - derzeit auf den größten des Landes steht. Nur eben ohne sie.

Das Lampenfieber ist schuld. Außerdem gibt Humpe den großen Altersunterschied zwischen ihr und ihrem 32-jährigen Sänger zu bedenken. Aber möchte man nicht trotzdem dabei sein, wenn die Leute frenetisch jubeln und die Emotionen hochschlagen? "Um Gottes Willen, auf gar keinen Fall", winkt sie ab, "ich bin keine Rampensau. Ich finde es toll, wenn Leute das können. Wie Adel - der reckt die Arme in die Luft und kann gar nicht genug Scheinwerfer auf sich gerichtet haben. Das wollen die Leute sehen." Für Ich + Ich schreibt Annette Humpe die Texte, ist manchmal in einem Song zu hören oder lässt sich in einem Musikclip blicken, den Konzerten aber bleibt sie fern. Früher hat sie während der Tourneezeit abends noch bei Adel angerufen und sich berichten lassen, bei welchem Lied sich die Leute unterhaken und bei welchem sie sich küssen. Heute reicht ihr ein Gespräch nach dem Ende der Tour. "Ich mache lieber das, was ich am besten kann." Songwriting und Musikproduktion meint sie. Annette Humpe gehört damit in Deutschland seit über 30 Jahren zu den erfolgreichsten ihres Fachs.


Ich + die anderen

Neben der Musik für deutsche Helden wie Rio Reiser und Udo Lindenberg denkt man immer dann an Annette Humpe, wenn es um Die Prinzen geht. Fünf junge Männer aus Leipzig waren das, die im Thomanerchor gut singen gelernt hatten. Annette Humpe machte das Quintett popfähig und produzierte drei Alben. "Damals erschien gerade der Song 'Tom's Diner' von Suzanne Vega, mit einer ganz billigen Rhythmusmaschine und einem tollen Groove", erinnert sie sich, "da dachte ich, super, ich mache einfach Chor, Chor, Chor und Rhythmusmaschine. Damit war das Konzept klar." Wieso sie immer den richtigen Riecher hat, bei den Prinzen, Nena, Lucielectric und jetzt bei Ich + Ich, ist schwer zu sagen. "Ich habe einen ganz durchschnittlichen Geschmack, eventuell mit etwas mehr Leidenschaft als andere", erklärt sie. "Ich höre wie ein Taxifahrer, ich möchte Strophe, Refrain, Strophe, Refrain. Ich möchte, dass der Chorus die Arme ausbreitet. Ich stelle etwas her, das mir gefällt, und dann kann ich mir schon nicht mehr vorstellen, dass das da draußen niemand gut findet."

Angefangen hat alles Ende der 1970er, als die junge Annette in Westberlin die Popband Neonbabies gründete - mit ihrer Schwester Inga, heute bekannt als Sängerin des Elektro-Popduos 2raumwohnung. 1980 rief sie die Band Ideal mit ins Leben, die Geschichte schrieb, weil sie mit Songs wie "Deine blauen Augen" oder "Eiszeit" die Neue Deutsche Welle anschob und klarstellte: Man kann relevante Popmusik machen, obwohl man deutsch ist. Dann kamen das Projekt DÖF und das Lied "Codo". Ich düse, düse im Sauseschritt - das war als Scherz gemeint, die Leute kauften die Single jedoch zehntausendfach. Über die Neue Deutsche Welle gebe es nichts mehr zu sagen, meint die Musikexpertin heute und lehnt Einladungen zu Retro-Chart-Shows ab.


Hausmusik

Annette Humpe wuchs im westfälischen Herdecke auf. Sie lernte früh Klavier spielen, und die Musik wurde für sie zur Flucht aus der kleinstädtischen Beklemmung. Weil die Eltern sieben Tage die Woche in ihrer Konditorei schufteten, wurde Annette eine Art Ersatzmutter für ihre sechs Jahre jüngere Schwester Inga, mit der sie schon zu Schulzeiten ihre erste Band gründete. Die Schwestern spielten Beatles-Lieder und traten auf Familienfeiern auf. Im Radio lief der Pop der 1960er. "In der Musik der Stones oder Beatles hörte ich von einer völlig anderen Welt. Nicht die, von der die Pastoren, Lehrer, Onkel und Tanten erzählten, damit es in meinem Kopf schön eng blieb", so empfand es die junge Annette. Nach dem Abitur floh sie nach Köln und studierte einige Semester Klavier und Komposition, bevor der Umzug nach Berlin zum Beginn ihrer großen Musikkarriere führte. Die musikalischen Wege von Inga und Annette kreuzten sich immer mal wieder. "Eine Zeitlang gab es eine Art Konkurrenz, aber jetzt nicht mehr, wir unterstützen uns", sagt die große Schwester.


Pflaster für die Seele

Jedes ihrer Lieder sei eine Art Flaschenpost, erklärt Annette Humpe. "Ich möchte in den Wohnzimmern und Küchen der Menschen sein und meine Hand auf die Schultern legen, einen Brief schreiben oder ein Polaroid schicken und sagen, guck mal, so geht's mir." Den Herzschlag des anderen hören, vom selben Stern kommen, ein Pflaster für die Seele sein - das sind nicht nur Songtexte. Natürlich spielen das Handwerk der erfahrenen Musikerin und die tolle Stimme Adel Tawils eine Rolle für den Erfolg von Ich + Ich. Doch vor allem spricht Annette Humpe den Menschen aus der Seele und in sie hinein, das ist die Kunst der Popmusik. Sind diese Lieder über Liebe und Alleinsein, Glück und Depression autobiografisch? Sicher, ein bisschen. "Ich habe ein breites Spektrum von Ich-feiere-und-ich-bin-fröhlich bis Ich-bin-depressiv", sagt sie, "ich bin glücklich, habe aber auch traurige Seiten, sonst könnte ich manche Lieder gar nicht schreiben."

Derzeit produziert Annette Humpe mit Max Raabe im Studio. Auf die Melancholie von Ich + Ich sollen Leichtigkeit und Humor folgen. "Ich habe richtig viel gearbeitet in den letzten dreißig Jahren, jetzt lässt der Ehrgeiz etwas nach. Jetzt könnte ich mir auch mal ein soziales Projekt vorstellen - jedenfalls mal etwas ganz anderes als Musik."


ARTE PORTRÄT
Mein Leben - Annette Humpe
SO - 24. Oktober - 17.00
Das Lampenfieber ist schuld


DISKOGRAFIE (AUSWAHL):
Ich + Ich: "Gute Reise" (2009), "Vom selben Stern" (2007), "Ich + Ich" (2005)
Annette Humpe: "Ich küsse Ihren Mann" (1990, Single), "Solo" (1990)
Ideal: "Platinum Collection" (2006), "Eitel Optimal - Das Beste" (1992), "Zugabe" (1983), "Bi Nuu" (1982), "Der Ernst des Lebens" (1981), "Ideal" (1980)
DÖF: "Tag und Nacht" (1985), "Codo" (1983)
Neonbabies: "Eiskalter Engel" (1983, Single), "Harmlos" (1982), "Neonbabies" (1981)


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Quelle:
arte Magazin - Das tägliche arte-Programm, 1.10. - 31.10.2010, Seite 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2010