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INTERVIEW/005: Keith Fisher & Ben Watson (AMM) - Kultur und WWII (SB)


Interview mit Keith Fisher und Ben Watson in Hamburg St. Pauli am 3. November 2011


Keith Fisher und Ben Watson sind langjährige Politikaktivisten in England, die, nach einer heftigen Auseinandersetzung mit der Führung, der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) den Rücken gekehrt und zusammen mit ihrem Freund und Streitgefährten Andy Wilson letztes Jahr die Association of Musical Marxists (AMM) und den eigenen Verlag Unkant gegründet haben. Im Anschluß an dem von der Assoziation Dämmerung veranstalteten Auftritt der drei AMM-Gründer am 3. November in einer Seemannskneipe in Hamburg St. Pauli [1] konnte der Schattenblick einigen Fragen, die der rege Diskussionsabend in Fred's Schlemmer-Eck aufgeworfen hatte, mit Fisher und Watson nachgehen.

Plakat mit einem Bild des Star-Trek-Vulkaniers Spock, der die 'Logik' des Headbanging preist - Foto: © 2011 by Schattenblick

Popkultur regt zum Nachdenken an
(Ein Plakat aus Fred's Schlemmer-Eck)
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Fangen wir zuerst mit der vielleicht schwierigsten Frage an. War es nicht bedauerlich, daß sich ein Teilnehmer der heutigen Diskussion aufgrund der hitzigen Debatte zu gehen veranlaßt sah?

Keith Fisher: Nein.

Ben Watson: Das war seine Strategie.

SB: Glaubt ihr das wirklich?

KF: Es war passiv-aggressives Verhalten.

BW: Gleich als er loslegte, war klar, worauf es hinauslaufen würde.

SB: Aber ihr hattet ihm gegenüber klare Vorteile, zunächst sprachlich, weil das Gespräch auf Englisch verlief, und zweitens seid ihr zu dritt gewesen, während er sich allein behaupten mußte. Hättet ihr ihm nicht vielleicht etwas mehr Raum geben müssen?

BW: Er hat doch mehr als genug Raum bekommen.

KF: Er hat ganz schön lange sprechen können.

SB: Das ist wohl wahr. Aber wäre es dialektisch betrachtet nicht sinnvoller gewesen, man hätte den Streitpunkt zum Thema Adorno und Jazz auf einer höheren Ebene behandelt, statt ihn auf die endgültige Kollision hinauslaufen zu lassen?

BW: Was ich ihm hätte sagen sollen war, daß unser komplettes Musikverständnis von tiefstem Respekt der schwarzen Musik gegenüber geprägt ist. Wir sind voller Bewunderung dafür, wie R&B und Punk die Welt verändert haben, und meinen, der Marxismus müsse sich damit auseinandersetzen und es sich zunutze machen, wie er es in der Blütephase der antifaschistischen Bewegung Rock Against Racism Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in Großbritannien getan hat. Aber Adorno einen Eurozentrismus anzulasten? Nun, vielleicht war er Eurozentriker. Das kann ich nicht beurteilen. Aber wenn ich seine Schriften lese, ist das ungemein anregend für mich. Von daher bin ich nicht damit einverstanden, wenn sich jemand über Adorno erhebt und ihn in eine bestimmte Schublade stecken will. Das finde ich richtig herablassend. Man kann sein ganzes Schaffen doch nicht einfach abtun. Wenn es etwas an seinen Ansichten zu kritisieren gibt, dann sollte man die relevante Textstelle zitieren. Erst danach können wir vernünftig darüber diskutieren. Aber ihn aufgrund eines Kritikpunktes generell verurteilen zu wollen, ist eine miese Art der Argumentationsführung.

KF: Es ist aber auch eine sehr gängige Art der Argumentationsführung, die wir aus Großbritannien bestens kennen. Sie rührt aus dem Eurokommunismus und dem Untergang des britischen Kommunismus her. Daß ich so reagierte, wie ich es tat, und den Streit auf die Spitze trieb, indem ich ihn fragte, ob er etwa behaupten wolle, Adorno sei ein elitärer Rassist gewesen, hatte seinen Grund darin, daß man immer wieder auf diese beiden Standardvorwürfe stößt: Er hätte 1968 die Studentenrevolte nicht unterstützt und den Jazz als Kunstform nicht anerkannt. Das hat sozusagen Tradition. Daher wollte ich ihn mit meiner zugespitzten Frage dazu bringen, sich zum über die Identitätspolitik vermittelten anti-europäischen, anti-westlichen, anti-männlichen und anti-weißen Standpunkt der traditionellen Linken zu bekennen, damit wir darüber hätten diskutieren können.

Tatsache ist, daß die Vorwürfe an die Adresse Adornos lediglich eine Chiffre sind. Im Kern ging es nicht um Adorno, sondern um die Frage, was man unter Politik versteht. Was mich verärgert hat, war die empörte Reaktion, als er erklärte, unsere Argumente seien allzu mechanisch, zu simplistisch, zu dogmatisch, zu einseitig et cetera, und voller Wut aufstand und die Kneipe verließ. Das hätte ich, als es losging, eigentlich vorhersagen können. Aber zunächst dachte ich wie du, daß der Diskussionsverlauf unfair sei, er gegen drei stünde und das Gespräch noch dazu auf Englisch, einer für ihn fremden Sprache, geführt wurde. Als der Streit jedoch bereits zehn Minuten andauerte und kein Ende in Sicht schien, habe ich meine Meinung revidiert. Während Ben noch mit ihm redete, habe ich innerlich zu mir selbst gesagt: "Er wird aufstehen und gehen." Und gleich darauf zog er seine Jacke an. Sein Verhalten hatte beinah einen ritualistischen Charakter.

BW: Aber ich habe ihn doch dazu gebracht, die Jacke wieder auszuziehen und noch eine Weile zu bleiben, nicht wahr?

KF: Ja, aber das gehört zum Auftritt offenbar dazu. Man kann Adorno kritisieren und anmerken, daß er gute und schlechte Seiten habe. Wenn man aber behauptet, daß zu seinen schlechten Seiten gehöre, er sei ein elitärer Rassist gewesen, dann haben wir ein Problem. Wäre es wahr, bräuchten wir über den Mann nicht weiter zu diskutieren.

BW: Wäre es der Fall, würde ich seine Bücher auch nicht mehr lesen wollen.

KF: Also ging es mir darum herauszufinden, ob unser Mitdisputant an diesem Abend das tatsächlich glaubt und wie er darauf gekommen ist.

SB: Er hätte natürlich antworten können, daß im Denken und Schreiben Adornos Elemente vorkommen, welche die damalige Zeit, die rassistisch geprägt war, widerspiegeln. Er hätte auch erwidern können, daß Adornos Sicht der Welt aufgrund seiner gehobenen gesellschaftlichen Stellung natürlich elitär geprägt war.

KF: Er hätte das klipp und klar sagen können, und darüber hätten wir dann auch mit ihm diskutiert. Warum befand sich Adorno in Los Angeles? Weil er auf der Flucht vor den Nazis war. Wovon hat er als Akademiker im Exil gelebt? Er hatte reiche Gönner. Kann man ihm das vorwerfen? Angesichts seiner Herkunft aus dem damaligen deutschen Großbürgertum nicht ernsthaft. Gibt es Textstellen in den Schriften, die ihn als ausgesprochenen Rassisten und Vertreter elitären Denkens ausweisen? Eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil hat er die Kulturindustrie und das ideologische Fundament des Kapitalismus kritisiert und für alle sichtbar gemacht.

BW: In Adornos Kritik der Kulturindustrie geht es nicht nur um die populäre, sondern vor allem um die klassische Musik. Er zeigt auf, welche Funktion klassische Bildung und Kultur im kapitalistischen System erfüllen. Sie dienen dazu, uns Respekt vor der bestehenden Ordnung einzuflössen, während kulturelle Errungenschaften in höher- und minderwertig eingeteilt werden, je nachdem, welche Gesellschaftsschichten sie konsumieren und produzieren. Für mich holt Adorno die Hochkultur von ihrem Sockel herunter und macht sie für jedermann begehbar. Seine Schriften sind daher demokratisierend und regen mich persönlich sehr zum Nachdenken an.

SB: Um auf das Thema der heutigen Veranstaltung und den Grund für eure Anwesenheit hier in Hamburg zu kommen, könnte es nicht sein, daß ihr drei, die ihr alle so um die fünfzig Jahre alt seid, der Popmusik eine emanzipatorische Bedeutung zuweist, was auf dem Höhepunkt der Gegenkultur in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vielleicht angebracht war, heute jedoch angesichts der beherrschenden Stellung der großen Medienkonzerne und der Austauschbarkeit der von ihnen über TV-Castingsendungen wie X-Factor gepushten "Künstler" nur noch illusorisch ist?

KF: Die Frage ist berechtigt. Tatsächlich ist es so, daß in Großbritannien die Infrastruktur, die früher Musikgruppen aus der Arbeiter- und unteren Mittelklasse gedeihen ließ, nicht mehr existiert. Die letzten Jugendzentren werden infolge von Austeritätspolitik und Sozialkürzungen geschlossen. Es gibt kaum noch Räume, wo die Kids gemeinsam Musik spielen und proben können. Das Umfeld, das zum Beispiel die Punk-Bewegung hervorbrachte, gibt es heute nicht mehr. Punk ging, wie wir wissen, aus der Pub-Rock-Szene mit Gruppen wie Doctor Feelgood und Ian Durys Kilburn & The High Roads hervor. In London beispielsweise gibt es inzwischen weit weniger Pubs als früher. Viele von ihnen sind entweder zu Immobilionbüros oder Anwaltskanzleien umgebaut worden.

BW: Man könnte das Gleiche über revolutionäre Politik sagen: Ihr seid doch nur Nostalgiker Rußlands von 1917. Warum wacht ihr nicht in der Welt des neoliberalen, technokratischen Kapitalismus endlich auf? Nun, weil er das Leiden zahlreicher Menschen voraussetzt - deswegen.

Ben Watson - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ben Watson
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Läßt sich in der heutigen Popmusik noch ein revolutionäres Potential verorten?

BW: Das ist die Art von Frage, die meines Erachtens ein heuchlerischer Musikexperte stellen könnte, nach dem Motto: Es gibt eine Gruppe. Die Kids machen dies oder das; das ist das große neue Ding. Nun, ich bin nicht derjenige, der den neuen musikalischen Heiland finden und verkünden möchte. Ich weigere mich, dies zu tun. Und die jungen Menschen, mit denen ich zu tun habe, respektieren mich dafür. Als ich jung war, habe ich immer alte Knacker gemocht, die mich und meinen Musikgeschmack kritisierten und ihren Standpunkt begründen konnten. Deswegen gefällt mir auch Adorno so. Der mag vieles, was ich nicht ausstehen kann und umgekehrt. Aber das macht die Auseinandersetzung mit seinem Denken und seiner Theorie gerade produktiv. Deswegen muß man sich zu den eigenen Ansichten bekennen und sie beim Namen nennen - ob nun als alter Knacker oder unbeleckter Jugendlicher.

KF: Ach Ben, das ist nun aber enttäuschend. Ich dachte, du würdest uns die neue Avantgarde, den letzten musikalischen Schrei präsentieren. Welche der heutigen Gruppen sollte man hören, wenn man inspiriert werden will? Wen sollte man im Konzert unbedingt sehen? Wüßte ich von einer neuen wichtigen politischen Strömung oder Entwicklung, würde ich dich natürlich sofort darüber in Kenntnis setzen.

BW: Na ja, ich weiß es auch nicht. Aber in Verbindung mit der Frage aus der Diskussion um die gesellschaftliche Funktion und Relevanz von Technomusik fiel mir "Coprophagism" von Evil Dick and The Band Members ein. Das ist eine von hervorragenden Musikern komponierte Satire à la Frank Zappa auf die Technomusik und wahrlich eine der witzigsten Stücke, die ich je gehört habe. Jeder, der sich Sorgen um Techno macht, sollte sich dieses Lied antun, denn es ist saukomisch und katapultiert jeden Hörer in ein ganz anderes Musikuniversum hinein.

SB: Eines der wichtigsten Themen bei der Diskussion betraf die Kreativität und Bedeutung der Improvisation für die Kunst im allgemeinen und die Musik im besonderen. Als Beispiele wurden James Joyces Experimentierroman Finnegan's Wake und der Free Jazz genannt. Es gibt jedoch gegensätzliche Beispiele der künstlerischen Vollendung in der schwarzen Musik wie die für Funk und Soul tonangebenden Aufnahmen und Auftritte James Browns. Wenn man das sehr strenge Regime bedenkt, das Soul Brother Number One bei seiner Gruppe, die JBs, führte, fragt man sich, woher die Kreativät kam. Wie lautet eure Antwort darauf?

BW: Da halte ich es mit Sun Ra, der einmal gesagt hat, daß Disziplin und Kreativität zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Da kommt die Vernunft bzw. das Vernunftdenken von Leuten wie Kant nicht mit. Es ist halt ein Paradox, daß häufig die tollste Musik unter Bedingungen der strengsten Disziplin entsteht.

SB: Auch Frank Zappa war als Zuchtmeister seiner Band bekannt. Lowell George hat er wegen Drogenkonsums hinausgeworfen.

BW: Captain Beefheart war nicht minder streng.

KF: Aber Ben, meinst Du in diesem Kontext nicht vielmehr die Mühe, die mit vielem Üben einhergeht?

BW: Ich denke, es ist eine Mischung, einerseits die gute Zusammenarbeit einer Gruppe von Musikern hinzubekommen und andererseits aus dem musikalischen Rohstoff ein vollendetes Kunstwerk zu kreieren.

SB: Ähnlich, wie man den Widerspruch zwischen Kreativität und Disziplin bestreitet, könnte man auch die Dichotomie zwischen Künstler und Handwerker als Illusion abtun.

KF: Stimmt. Disziplin, Üben, Handwerk und Kunst gehören zusammen. Wie Andy [Wilson] manchmal bei seinen Vorträgen erzählt, lautete sein Rang, als er Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre bei der Royal Navy diente, Artificer. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die künstlerische Avantgarde mit dem gleichen Begriff geschmückt. Die Unterscheidung zwischen Handwerker und Künstler leitet sich hauptsächlich aus den Mechanismen des Kunstmarktes und dessen Bestreben, den Gebrauchswert einzelner Produkte zu erhöhen, ab.

SB: Macht ihr selbst Musik? Spielt ihr irgendwelche Instrumente?

BW: Leider nicht. Bis auf Andy [Wilson] sind wir hauptsächlich Musikkonsumenten. Wir hören gern Musik und streiten uns ebenso gern darüber. Aber auch wenn man selbst keine Musik spielt, kann die Auseinandersetzung mit ihr und dem subjektiven Empfinden wertvoll sein. Die Reproduktion von Musik als Massenware hat daher etwas zutiefst demokratisch an sich. Gleichwohl hat es mich selbst immer weitergebracht, wenn Musiker mir erklärt haben, wie einzelne Aspekte ihres Schaffens funktionieren.

KF: Wenn man die Konfrontation bedenkt, die wir mit der Führung der SWP hatten, so hat das Ganze zunächst mit einem abgehobenen Disput über die Wissenschaftsphilosophie begonnen.

SB: Wann war das?

KF: So gegen Ende der neunziger Jahre flammte ein Streit über Kultur infolge der Auseinandersetzung um das Buch "Geschichte und Klassenbewußtsein" von George Lukács auf, das eine bestimmte Vorstellung davon transportiert, wie eine revolutionäre Partei zu funktionieren hat. Wir teilten diese Vorstellung nicht. Bezeichnenderweise waren es die gleichen Leute innerhalb der SWP, die das Buch von Lukács hochhielten, uns jedoch empfahlen, mehr Shakespeare zu lesen und in die Oper zu gehen, wo die Karten meistens recht teuer sind.

BW: Das war ihr Verständnis von Kultur. Ich dagegen lese Shakespeare, nachdem ich mir zuvor Gruppen wie Captain Beefheart & The Magic Band angehört habe. Dann liest man die Werke des größten britischen Dramatikers mit ganz anderen Augen. Wie Marx schon sagte, muß man die fortschrittlichsten Ideen von heute aufrufen, um die Vergangenheit zu verstehen. Wenn man sich mit einer Musik konfrontiert, die einen in seinen Hörgewohnheiten herausfordert, bekommt man eine Idee davon, wie bahnbrechend Shakespeares Bühnenstücke auf das damalige Publikum im elisabethanischen England gewirkt haben könnten.

SB: Wann habt ihr die Association of Musical Marxists ins Leben gerufen?

BW: Im Dezember letzten Jahres nach einer Konferenz zum historischen Materialismus. Auslöser war ein im Stile Pierre Bourdieus gehaltener Vortrag über französische Hip-Hop-Musik. Wegen des soziologischen Jargons war er zum Sterben langweilig. Bei der anschließenden Diskussion habe ich die Referentin gefragt, ob sie die Musik, die sie gerade besprochen hatte, mag. Sie tat die Frage als irrelevant ab, worauf ich den Einwand machte, es habe gar keinen Sinn, über Musik zu diskutieren, wenn man das eigene ästhetische Empfinden nicht miteinbringen will. Ebenso hätten die Klassenverhältnisse keinerlei Bedeutung, wenn man nicht selbst einen Standpunkt bezieht. An dieser Stelle stieg Andy [Wilson] in die Diskussion ein. Am Ende hatten wir beide das Gefühl, daß wir etwas unternehmen sollten, weil sich der britische Marxismus in Bezug auf die Kultur von der Wirklichkeit abgehoben hatte und zu einer Spielwiese für Akademiker geworden war. Bei unserem Ansatz geht es um die Frage, was den revolutionären Marxismus ausmachen und wie man die Populärkultur in seinen Dienst stellen könnte. Für mich persönlich geht es um die Aufrechterhaltung und Weiterführung jener Fragen, die mich seit meiner Jugend beschäftigen.

SB: Seid ihr mit den Ergebnissen der Gründung der AMM und des Verlags Unkant zufrieden?

BW: Ich bin jedenfalls niemals glücklicher gewesen, denn ich kann meine beiden Hauptinteressen, politische Betätigung und kulturelle Stimulierung, miteinander verbinden.

SB: Als Musikjournalist?

BW: Ich schreibe jetzt für den Unkant Verlag, bin aber kein Musikjournalist mehr, was zum Teil bedauerlich ist.

SB: Wie kommt das?

BW: Andy [Wilson] hat nach dem 11. September 2001 einen Artikel zu den Flugzeuganschlägen geschrieben und als Pamphlet veröffentlicht, was zu einer internen Krise bei The Wired, der Zeitschrift, für die ich damals arbeitete, führte. Da sich die Atmosphäre nicht besserte, bin ich vor sechs Jahren, als ich und meine Partnerin ein Kind bekamen, dort ausgestiegen. Danach habe ich mich erstmal als Hausmann nützlich gemacht und um unser Kind gekümmert, während meine Partnerin, die eine feste Einstellung hat, arbeiten ging. Seit einiger Zeit besucht unser Kind die Grundschule und ich habe wieder mehr Zeit. Deshalb habe ich letztes Jahr zugestimmt, als Andy [Wilson] vorschlug, meine Artikel zu Adorno in Buchform zu veröffentlichen.

***

SB: Keith, du hast heute abend in deinem Vortrag die besondere Rolle des Zweiten Weltkriegs in der britischen Geschichtsschreibung erläutert und dabei vor allem die blinden Flecken und die unterschiedliche Lastenteilung zwischen Ober- und Unterschicht hervorgehoben. Würdest du uns bitte etwas über jene Aspekte des Zweiten Krieges in Großbritannien erzählen, die wegen medialer Unterdrückung dort wenig und in Deutschland erst recht unbekannt sind?

KF: In bin in den sechziger, siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Osten Londons aufgewachsen. In diesem traditionell ärmeren Teil der britischen Hauptstadt fehlten damals noch ganze Häuserblocks und Straßenzüge wegen der deutschen Luftangriffe. Nichtsdestotrotz herrschte der Mythos vor, das britische Volk hätte durch alle Schichten und Bevölkerungsteile hindurch die Bürde des Krieges gemeinsam und gleichmäßig getragen. "We're all in it together", diese große Parole der Kriegspropaganda der Regierung Winston Churchills steckte noch allen Briten in den Köpfen. Die offizielle Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien lautet: Es gab keine Klassenunterschiede, Leid wurde gemeinsam geteilt und brachte die Menschen, ob nun Aristokraten aus dem Umfeld der königlichen Familie oder Arbeitslosen aus dem Londoner Osten, zusammen. Man hat das Bild eines geeinigten Volkes, das für ein idealistisches Ziel kämpft, installiert. Bei dem Ziel hätte es sich um die Rettung der Demokratie vor Tyrannei bzw. Barbarei gehandelt. Wie ich heute abend erwähnt habe, wurde der Faschismus damals nur selten als Feind genannt. Meines Erachtens hat das auch seinen Grund.

Seit 1945 wird in Großbritannien bei praktisch jeder innen- oder außenpolitischen Krise - ob nun die Anschlagsserie der IRA auf dem britischen Festland in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, der Falklandkrieg 1982, der Irakkrieg 2003 oder die Bombenangriffe im Juli 2005 auf das öffentliche Verkehrsnetz in London - der Geist des Zweiten Weltkriegs beschwört, als das Volk wie ein Mann hinter der militärischen und politischen Führung gestanden haben soll. Der Standardbegriff dafür lautet "The Spirit of the Blitz", als sich Großbritannien nach dem Fall Frankreichs erfolgreich den Luftangriffen Nazideutschlands entgegenstellte und dadurch Adolf Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht von der Idee einer Invasion abbrachte.

In den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren hat der Mythos vom Zweiten Weltkrieg in Großbritannien erste Risse bekommen. Das hängt einerseits mit der Forschung linker Historiker wie Ray Challinor, andererseits mit der Offensichtlichkeit zusammen, mit der die überlieferte Version immer wieder in Kriegszeiten zu Propagandazwecken instrumentalisiert wird wie zuletzt 1999 beim NATO-Überfall auf Jugoslawien in Verbindung mit der Kosovo-Krise und 2003 bei dem angloamerikanischen Einmarsch in den Irak. Seit dem Einbruch der Finanzkrise 2008 greift die britische Politelite zu drastischen Sozialkürzungen, Gebührenerhöhungen und Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen und versucht das Maßnahmenpaket als patriotische Großtat zu verkaufen. Die Bemühungen Londons, den "Spirit of the Blitz" in diesem Zusammenhang wieder aufleben zu lassen, läßt diesen zunehmend hohl erscheinen, sind es doch die Mittel- und Unterschicht, welche die Hauptlast des Abbaus der öffentlichen Verschuldung zu tragen haben, während das Großkapital der Londoner City vom Rückzug des Staats in den Sektoren Bildung, Gesundheit und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung profitiert.

Vor diesem Hintergrund bekommt die Frage, wie die Lasten damals im Zweiten Weltkrieg verteilt wurden, neue Brisanz. Es gibt auch eine größere Bereitschaft, die überlieferte, von der Populärkultur getragene Version der Ereignisse in Frage zu stellen. Die Forschungsergebnisse von Challinor fallen da auf fruchtbaren Boden. Sie zeigen zum Beispiel, daß man in Großbritannien den Zweiten Weltkrieg im allgemeinen und die Bombardierungen der Städte durch die deutsche Luftwaffe im besonderen ganz unterschiedlich erlebt hat, je nachdem, welcher Bevölkerungsschicht man angehörte. Jeder kennt die klassischen Bilder von Zivilisten in London, die in scheinbarer Harmonie die Bombennächte auf den Bahnsteigen des U-Bahnsystems zusammen überstanden. Tatsächlich ist es aber so, daß die Churchill-Regierung seinerzeit erst durch einen Ausbruch massiven zivilen Ungehorsams zur nächtlichen Öffnung der U-Bahnhöfe gezwungen werden mußte, nachdem sich das System der staatlichen Luftschutzbunker als vollkommen unzureichend erwiesen hatte. Die Bevölkerung im traditionell armen Ostlondon war den deutschen Luftangriffen weitaus stärker ausgeliefert als im reicheren Westen der Stadt. Im dortigen Nobelhotel Dorchester zum Beispiel lief der Betrieb auf Volltouren, die Restaurants und Bars waren rund um die Uhr offen, während es im Keller einen schwerbetonierten unterirdischen Bunker mit allem Komfort für die Reichen gab. Demgegenüber wurden allein im östlichen Hafenviertel Wapping 8000 arme Menschen nachts in ein mehrstöckiges Lagergebäude eingepfercht, das als provisorischer Luftschutzbunker mit nur acht Toiletten eingerichtet worden war. Während es einen kostenlosen Taxibetrieb für Opfer der Bombenangriffe in Westlondon gab, mußten die Verletzten im Osten bis zu acht Meilen zu den Krankenhäusern der Grafschaft Essex zu Fuß gehen oder getragen werden, um medizinisch behandelt zu werden.

Die klassenspezifischen Unterschiede der Kriegserfahrungen an der Heimatfront sind in der offiziellen Geschichtsschreibung fast gänzlich ausgeblendet worden. Das gleiche gilt sowohl für die rund hunderttausend eingetragenen Mitglieder der 1934 gegründeten Peace Pledge Union (PPU), die in Großbritannien vor und während des Krieges dagegen protestiert haben, als auch für die Krawalle in der Hafenstadt Plymouth, als die Menschen gegen den unzureichenden Schutz der Zivilbevölkerung vor Luftangriffen auf die Barrikaden gingen und einige von ihnen von Soldaten des dortigen Marinestützpunktes sogar erschossen wurden. Die britische Oberschicht interessierte sich nicht für die zivilen Kriegsopfer, es sei denn, es drohte eine Beeinträchtigung der Rüstungsproduktion. Schon damals gab es ein farblich abgestuftes Warnsystem vor Luftangriffen - ähnlich dem heutigen in den USA vor "Terroranschlägen". Die Farben reichten von gelb über orange und rot bis tiefrot. Um die Produktion kriegswichtiger Güter aufrechtzuerhalten, hat man dem System Purpur als zusätzliche Farbe hinzugefügt. Sie bedeutete, daß zwar ein Luftangriff bevorstand, aber daß man trotzdem seinen Arbeitsplatz nicht verlassen durfte.

SB: Ist es aber nicht so, daß die unterschiedliche Erfahrung des Krieges eine wesentliche Ursache des erdrutschartigen Sieges der britischen Arbeiterpartei und der dramatischen Niederlage der Konservativen unter Premierminister Winston Churchill bei der Parlamentswahl am 26. Juli 1945, nur zweieinhalb Monate nach der Kapitulation Deutschlands, gewesen ist?

Keith Fisher - Foto: © 2011 by Schattenblick

Keith Fisher
Foto: © 2011 by Schattenblick


KF. Zweifelsohne. Auch ein von der offiziellen Geschichtsschreibung ignorierter Aspekt der unmittelbaren Nachkriegsphase ist die Meuterei der britischen Armee in Nordafrika und im Nahen Osten, insbesondere in Ägypten, Gaza und der Region um den Suez Kanal. Dort wurden nach dem Sieg über das deutsche Afrika-Corps Soldatenräte gegründet. Zu den Anführern der Bewegung gehörte der spätere Labour-Politiker und britische Schatzmeister Dennis Healy. Bereits im Februar 1944 erhoben die Delegierten des Cairo Forces Parliament die Forderung nach einer Verstaatlichung der Banken, des Bergbaus und Transportwesens in Großbritannien nach Ende des Krieges. Ich denke, diese Entwicklung hat der Oberschicht in Großbritannien eine Heidenangst eingejagt. Mehrere Million kriegserprobter junger Männer kehrten nach Hause zurück, die gesellschaftliche Veränderung und soziale Gerechtigkeit als Belohnung für ihren Einsatz erwarteten. Von daher kamen die Zugeständnisse, welche die Vermögenden in Großbritannien nach Ende des Krieges machen mußten, nicht völlig unerwartet, denn eine Rückkehr zur Lage vor dem Ausbruch des Konfliktes, die von großer Arbeitslosigkeit und weitverbreiteter Armut gekennzeichnet war, wäre politisch nicht durchsetzbar gewesen. Die heimkehrenden Soldaten und ihre Familien bildeten das gesellschaftliche Rückgrat der Nachkriegspolitik der neuen Labour-Regierung, die den sozialen Wohnungsbau massiv forcierte und eine kostenlose staatliche Gesundheitsversorgung für alle einführte.

SB: Wenngleich Großbritannien nach wie vor einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat und als eine von nur fünf offiziellen Atommächten gilt, schrumpfen die britischen Militärkapazitäten aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes zusehends. Welche Auswirkung hat diese Entwicklung auf Londons Einfluß in Washington sowie innerhalb der Europäischen Union?

KF: Die Aufrechterhaltung der "special relationship" zu den USA ist für die britische Elite meines Erachtens weitaus wichtiger als das Verhältnis Großbritanniens zu den anderen EU-Mitgliedsländern. Nicht umsonst tätigt das britische Kapital den größten Teil seiner Auslandsinvestitionen in den USA, gefolgt von der EU an zweiter Stelle. Dies erklärt, warum sich London in der Außen- und Sicherheitspolitik stets an Washington orientiert, während es gleichzeitig bei allen innereuropäischen Debatten mitbestimmen will. Das Schwinden britischer Macht auf der internationalen Bühne, das mit dem Zweiten Weltkrieg, das dem Land sein Empire in Übersee kostete, einsetzte, wirkt bis heute fort. Nichts verdeutlicht dies besser, als die drastischen Kürzungen des britischen Wehretats. Zwar hält die konservativ-liberale Regierung von Premierminister David Cameron und Schatzmeister George Osborne - angeblich wegen Vertragsverpflichtungen - am Bau zweier neuer Flugzeugträger fest, aber der britische Staatshaushalt ist dermaßen ausgepumpt, daß diese künftig ohne Flugzeuge der Royal Air Force in See stechen und in erster Linie als Basisschiffe für amphibische Operationen benutzt werden sollen. Peinlich für Großbritannien ist auch die Tatsache, daß beide Schiffe weitestgehend im europäischen Ausland - in Frankreich und anderswo - gebaut werden. Das kommt daher, weil alle britischen Regierungen seit den Tagen Margaret Thatchers bemüht waren, London als internationale Finanzmetropole zu unterstützen und dabei die verarbeitende Industrie des Landes vor die Hunde gehen ließen. Inzwischen ist den Briten die Lust auf Militärabenteuer im Ausland ziemlich vergangen. Der illegale Einmarsch in den Irak 2003, gegen den es bereits im Vorfeld zu den größten politischen Demonstrationen in der Geschichte Großbritanniens gekommen ist, und das anhaltende Militärengagement in Afghanistan haben Unsummen verschlungen, während gleichzeitig daheim Schulen und Krankenhäuser wegen angeblich fehlender Steuereinnahmen geschlossen werden mußten. Damit wollen sich die meisten Briten nicht mehr abfinden.

SB: Anders als in Deutschland hat Großbritannien eine ungebrochene und starke Militärtradition, die sich anhand der häufigen Auslandsinterventionen aufzeigen läßt und bei großen Staatsereignissen wie der Trauerfeier 2002 für die Königinmutter mit ungeheuren Pomp zelebriert wird. Läßt diese Tradition, einschließlich der Bindung mancher Landes- und Bevölkerungsteile zu den verschiedenen Militäreinheiten wie zum Beispiel zu den schottischen Highland Regiments, angesichts der wirtschaftlichen Krise in Großbritannien mehr und mehr nach?

KF: Durchaus, wenngleich jene Tradition in Wirklichkeit niemals so stark gewesen ist, wie die Propaganda und die Kriegsfilme stets suggerierten. Die angeblich große Kriegsbegeisterung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien hat es in Wahrheit niemals gegeben. Das hängt damit zusammen, daß ein Gutteil der Bevölkerung den Ersten Weltkrieg, den Zusammenbruch der britischen, deutschen, französischen und russischen Armeen am Ende des Konfliktes, die Niederschlagung des Generalstreiks 1919 und die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre erlebt und folglich von den gewählten Politikern eine ziemlich schlechte Meinung hatten. Angesichts der heutigen miserablen Wirtschaftsaussichten und insbesondere der hohen Jugendarbeitslosigkeit hat die militärische Tradition in Großbritannien stark an Strahlkraft verloren.

SB: Die Perspektivlosigkeit und das Fehlen traditioneller Berufsmöglichkeiten wie zum Beispiel im Bergbau oder der Schiffsbauindustrie dürften dennoch dafür sorgen, daß viele britische Jugendliche eine Karriere beim Militär anstreben.

KF: Das ist wohl wahr. Die Rekrutierungsbüros können sich derzeit vor Bewerbern kaum retten. Dennoch sieht sich die Regierung in London nicht mehr in der Lage, die Streitkräfte auf dem bisherigen Niveau zu halten und muß im großen Stil Stellen streichen, Standorte schließen und auf den geplanten Einkauf bestimmter hochmoderner Waffensysteme verzichten.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0003.html

Der Tresen im Fred's Schlemmer-Eck - Foto: © 2011 by Schattenblick

Fred's Schlemmer-Eck
Foto: © 2011 by Schattenblick

18. November 2011