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INTERVIEW/038: RAUREIF - Stimme frei und Lieder neu ...    Achim Reichel im Gespräch (SB)


Ganz entspannt aus der Hängematte

Interview mit der Musiklegende Achim Reichel am 8. Januar 2015 in Hamburg - 1. Teil



Als die Rattles, eine der erfolgreichsten deutschen Rockbands ihrer Zeit, im Jahr 1965 zum ersten Mal in Recklinghausen auftraten, hieß es dazu in einem 1993 erschienenen Buch, das die Musikevents in der damaligen Vestlandhalle, die für die Zeit ungewöhnlich waren und überregionale Aufmerksamkeit erlangten, unter dem Titel "Beatgeschichte(n) im Revier" nachzeichnet: "Über die Zukunft macht sich Achim Reichel (21, Kellner) keine Sorgen. Selbst wenn die Beat-Masche einmal abklingen sollte. 'In den Beruf will ich auf keinen Fall zurück. Wenn es erforderlich sein sollte, werde ich mich umstellen und auf einer anderen Linie weiterkomponieren und spielen.'" [1]

Genau so ist es dann auch gekommen - allerdings nicht aus Not, sondern dem unbändigen Drang folgend, sich musikalisch immer wieder neu und anders zu erfinden und auf Entdeckungsreise zu gehen. Nach den Rattles kam Wonderland (Moscow), es folgten experimentelle Ausflüge in die psychedelische Musik mit AR & Machines, Shanties im Rocksound, neu vertonte Balladen und Gedichte alter und zeitgenössischer deutscher Dichter und eigene Texte ebenfalls in deutscher Sprache. In "Solo mit euch - mein Leben, meine Musik" (2010) bewährte sich Achim Reichel auch als Storyteller und absolvierte mit 100 Konzerten die erfolgreichste Tournee seiner bislang über 50jährigen Karriere.

Jetzt erscheint mit RAUREIF wieder ein Album aus eigener Feder. Kurz vor dem offiziellen Start am 23. Januar traf der Schattenblick den Musiker, Komponisten, Songtexter und 'Jäger der verloren gegangen Sprache' in seinem Tonstudio in Hamburg zu einem sehr entspannten, ebenso aufschlußreichen wie unterhaltsamen Gespräch. Im ersten Teil geht es um die neue CD und ihre Entstehungsgeschichte(n), um Businessmüdigkeit und die Liebe zu Musik und Sprache und um das Verhältnis zum Publikum, in einem zweiten um Einsichten und Aussichten eines gereiften Künstlers und um die alten Zeiten natürlich - und die neuen.

Foto: © 2015 by Schattenblick

Ganz entspannt in seinem Tonstudio: Achim Reichel
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Es heißt in der Ankündigung zum neuen Album, Sie hätten es aufgrund des Drängens Ihrer Fans produziert. Welche Gründe gab es sonst noch?

Achim Reichel (AR): Also Drängen ist nur bedingt richtig. Es kamen einfach nur ziemlich viele E-mails und wenn das immer mehr werden, die fragen, wann gibt es denn endlich mal wieder eine Platte, wo du nicht versuchst, alte Volkslieder aufzumöbeln oder Balladen zu vertonen, sondern einfach nur so erzählst von dir, wie du dich fühlst oder wo du heute stehst, halt so ein Album, wie ich sie zu meiner Warner-Zeit gemacht habe, wo dann auch "Kuddel Daddel Du", "Aloha heja he", "Fliegende Pferde" und "Kreuzworträtsel" entstanden sind, habe ich gedacht, es wär' doch mal an der Zeit, weil ganz ohne Musik leben kann ich nicht und will ich auch nicht.

SB: Was ist das Neue an der neuen CD?

AR: Fragt man einen alten Mann, was das Neue ist (lacht)? Das ist schwer zu beantworten. Das Neue ist, glaube ich, daß ich mich bei dieser Platte überhaupt nicht gefragt habe, wo die Schublade dafür ist. Wo willst du damit hin? Viele meiner Platten sind ja sogenannte Konzept-Alben. Und dieses hier ist wirklich eine Platte, wo wir uns über ein viertel Jahr Richtung Mittelmeer abgeseilt haben, und wenn man denn so zur Ruhe kommt, dann merkt man, daß man unruhig wird, man kann ja nicht nur so rumsitzen. Und zumal ich nie ohne Gitarre verreise, klimpert man da so vor sich hin und plötzlich denkt man, oh, was ist das denn, das ist ja schön, das sollte ich nicht vergessen. So entstanden neue, von den Stilistiken her sehr verschiedenartige Stücke, und da habe ich einfach gedacht, okay, dann erfüllst du den Leuten jetzt den Wunsch und bringst eine Platte raus, die zumindest zu 80% stimmt. Denn da ist ja nun auch ein Text von Fritz Graßhoff dabei, von Jörg Fauser und Kiev Stingl. Manches ist so ein bißchen küstenmäßig und anderes denn wieder nicht und da geht 's dann schon los.

Ich bin, ehrlich gesagt, ein bißchen businessmüde geworden. Wenn man mit großen Schallplattenfirmen zusammenarbeitet, wollen die ja nur an den großen Speck. Insofern habe ich mich da irgendwann zurückgezogen, weil ich dachte, "Hey, ich betrachte mich als einen zu erwachsenen, reifen Menschen, um mir solche plumpen Marktmechanismen reinzuziehen und zu bedienen." Das ist eben ein Teil meiner "Raureifheit", weil ich einfach zu oft feststellen mußte, wenn es richtig knallt im großen Umfang, dann wollen so viele Leute was von einem, das macht einen schon wieder ganz fertig. Was geblieben ist: Ich mag Musik einfach irre gern, das ist ein Teil von mir, ohne kann ich nicht leben - denke ich jedenfalls. Und insofern sind es einfach 13 Stücke und es ist, wie es ist.

SB: Die Themen sind ja zum Teil geblieben, die Liebe zum Beispiel, von der man hofft, daß sie ein Leben lang hält und die dann doch zerbricht. Ist das ein Ausdruck davon, daß das, was den Menschen bewegt, immer gleich bleibt?

AR: Vielleicht findet man einen so großen Inhalt, der tatsächlich nicht langweilig wird, auch wenn er das ganze Leben lang derselbe ist. Das Tolle an Musik ist ja, daß sie auch Dinge sagen kann, für die man keine Worte findet. Man versucht, irgendwie entstandene Löcher, Sehnsüchte oder Unerfüllheiten, die im wahren Leben möglicherweise schwer oder nur für die wenigsten zu stillen sind, mit der Musik zu verbinden, zwischen Traum und Wirklichkeit. Ich gehöre ja zu denen, die der Meinung sind, wenn der Mensch keine Phantasie hätte, dann wüßte er auch nicht, wie er den Karren aus dem Dreck kriegt. Insofern ist Phantasie eine ganz wichtige Sache. Auf welche Inhalte man die nun schneidert, ist ganz verschieden. Um beim Beispiel mit der Liebe zu bleiben - "Hab gedacht, wir würden uns für immer lieben, dabei ist es nicht geblieben" - okay, das lernt man irgendwann, wenn man schon etwas länger auf zwei Beinen rumläuft. Aber wir wollen ja nicht gleich in philosophische Tiefen abtauchen.

Foto: © 2015 by Schattenblick

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SB: Wer ist auf die Idee mit dem Frauenchor gekommen?

AR: Die Inseldeerns waren mal auf einer NDR-Veranstaltung. Das sind keine aufgebrezelten Wuchtbrummen, sondern ganz normale, erwachsene Frauen. Das fand ich schon mal sympathisch. Und dann haben die eine Chorleiterin, so was habe ich ja nun noch gar nicht erlebt. Ich sage jetzt mal salopp, 30 Weiber und eine Frau, die davorsteht und alles im Griff hat, das ist schon eine Offenbarung. Sie ist studierte Musikerin, eine Brasilianerin, und die hat zu mir gesagt, wenn du willst, können wir ja mal was zusammen machen. Das ergab sich dann bei den Cruise Days, einem Event im Hamburger Hafen, das der NDR übertragen hat. Da bin ich aufgetreten und die Mädels standen im Hintergrund und haben die Refrains dazu gesungen, so hier und da mal so. Das fand ich gut. Dann waren wir im Studio mit der neuen Platte und ich sage, "da sind ein paar Stücke, da möchte ich einen Frauenchor draufhaben." Denn guckten mich erstmal so ein paar Augen an und fragten: "Ist das dein Ernst? 30 Hausfrauen, was soll das denn?" - "Ja, warum nicht, das klingt toll!" - "Bist du dir da sicher?" - "Ja, wenn nicht, dann lassen wir es eben weg. Wo ist das Problem?" Ich meine, wenn man schon Angst davor hat, überhaupt etwas probieren zu wollen, ist man schon ziemlich festgefahren. Es schlägt dich ja keiner tot dafür. Was ich so gut finde an dem Chor ist, daß der eben genau nicht dieses Gospelüberdrehte hat, sondern die sind sowas von geradeaus, das hat mir spontan unheimlich gefallen, na ja, und so ist das zustandegekommen.

SB: Sie haben sich viel und intensiv mit der Lyrik deutschsprachiger Dichter befaßt. Beziehen Sie daraus auch Anregungen für Ihre eigenen Texte?

AR: Ich denke ja, auch wenn sich die Sprache etwas verändert hat. Von denen ist mir vorgemacht worden, daß Sprache Musik sein kann, daß es so etwas wie Sprachmelodik gibt. Man kann phonetisch mit Texten so umgehen, daß melodische Laute zustandekommen. Früher hat man gesagt, deutsch singen, das geht nicht, das ist alles so eckig und kantig. Das finde ich eben gar nicht. Man kann sogar beim Texten darauf achten, daß die Sätze einen gewissen Fluß haben, einen bestimmten, melodischen Aspekt.

SB: Wo würden Sie Ihre eigene Lyrik einordnen? Gibt es irgendeine Richtung, wo Sie sagen, da ungefähr würde ich das verorten?

AR: Das ist schwer zu vergleichen, weil unsere alten Dichterfürsten ja geschrieben haben, damit es gelesen wird und ich schreibe, damit ich singen kann; das ist etwas anderes. Deswegen läßt sich auch nicht alles vertonen, was mal geschrieben wurde. Bei meiner eigenen Lyrik - ich weiß gar nicht, ob ich selber überhaupt so hoch greifen würde - habe ich gemerkt, als ich mich ransetzte, die Texte zu machen, daß man mittlerweile, wie soll ich sagen, ein reiferer Mensch ist, wenn nicht sogar ein älterer (lacht). Viele Themen sind einfach nicht mehr kleidsam. Ich habe einen Karton, der ist voll mit Notizblöcken, weil immer, wenn ich irgendwo mal einen tollen Satz höre, dann schreibe ich ihn mir auf, und der landet dann irgendwo in der Schublade. Das mache ich schon seit Jahrzehnten so und ich habe gedacht, wenn dir was fehlt, guck da doch noch mal rein. Und dann guckte ich da rein und merkte, da warst du noch 10 Jahre jünger, 20 Jahre jünger..., da hast du noch ganz andere Themen angepackt. Da wird man denn so ganz anders nachdenklich.

Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Schreiben Sie Ihre Texte mit der Hand? Ich komme deswegen darauf, weil in dem Booklet zur neuen CD zu dem letzten Lied "Abschiedsbrief" steht: "Handschriftlich - das waren noch Zeiten".

AR: Ja, zumindest, solange sie sich noch bewegen, irgendwann, wenn sie fertig sind, tippe ich sie ab. Das ist ja auch so ein Prozeß. Manchmal ist eine Zeile dreimal da, aber in unterschiedlicher Weise, dann schreibt man das an den Rand. Dann hat man noch einen Gedanken, den man nicht vergessen will. Insofern sind Zettel immer auch merkwürdige Skizzen.

SB: Würden Sie sagen, daß das Schreiben mit der Hand das Denken befördert oder die Phantasie?

AR: Könnte ich mir vorstellen, aber mir geht es ganz oft so, wenn einen denn die Muse küßt, daß die Gedanken schneller sind, als man mit der Hand schreiben kann. Man wünscht sich eigentlich einen synchronen Fluß, bei dem die Gedanken das Tempo haben, in dem man schreibt, daß das irgendwie eins ist. Aber das kann ich nicht.

SB: Die Einfachheit und Klarheit von Aussagen geht oft mit Klischees einher. Wie entgeht man dem als Songschreiber oder muß man das gar nicht?

AR: Das ist Geschmackssache. Was für den einen ein Klischee ist, ist für den anderen völlig rein und unbefleckt. Dann kommt noch ein anderes dazu: Man kann aus einer Banalität mit dem richtigen Ausdruck etwas Wahrhaftiges schaffen. Wenn der Ausdruck stimmt, kann ein ganz einfacher Satz unendlich viel bedeuten oder Tiefe haben. Das ist das Interessante an Musik. Man kann "Hähnänähnänäh" singen und denken, was war das, war wohl nicht so wichtig, oder es gelingt einem, da einen Ausdruck reinzubringen, der die Worte zum Leben erweckt.

SB: Welches Lied auf dem neuen Album transportiert die aktuelle Botschaft des Achim Reichel, wenn 's denn eine gibt, am allermeisten?

AR: "In der Hängematte" (lacht).

SB: Ist das Ihr Favorit?

AR: Einer der Favoriten, ja doch. Einer wie "Dolles Ding", das habe ich ja wirklich mal erlebt, bei Rot rüberfahren mitten in der Nacht irgendwo. Ich steh vor dieser blöden Ampel und denke, das kann doch jetzt nicht wahr sein, hier ist überhaupt keiner, und du stehst brav wie ein Ferngelenkter vor so einem Automaten und wartest, daß er dich durchwinkt. Als Mensch darf man ja wohl hoffentlich noch irgendwie die Situation selber erfassen dürfen. Und denn bin ich losgefahren - war aber ein Fehler.

Bei diesem Reim von Stingl, der mittlerweile in Griechenland auf einer Insel lebt und ab und zu mal kommt und mich besucht, "Wie liebevoll du meinen Namen schriebst, als wenn du mich noch immer liebst", da habe ich echt gedacht: Wow! Und daß einem da so kleine Dinge eingefallen sind, wie ein Sinfonieorchester reinzubringen, obwohl das eigentlich nur zur Akustik-Gitarre gespielt wird, das macht dann Spaß. Das sind so kleine Spielereien, die erbastelt man sich im Studio.

SB: War das mit "Marianna" auch so?

AR: "Marianna" war anders. Da gibt es ja diesen Film "Hear my Song"... [2]

SB: ... die alten Männer auf dem Boot ...

AR: ... dieses verfallene Theater und dieser irische Sänger Joe Locke, der den Song gesungen hat. Ich saß vor der Glotze und hab' gedacht, "Wow, was ist denn das für ein Lied, das ist ja richtig schön". Hinterher stellte ich fest, was da alles drin ist, "La Traviata", das ist ja nun ganz lange her, eine "italienische Tangoserenade", aber der Song wird auch als altes deutsches Tango-Lied der 30er Jahre gehandelt. Das fand ich nun wieder interessant, wie verschiedene Einflüsse sich da so treffen und sich zu einem neuen Ganzen verbinden.

SB: "Reise, Reise", wie der Weckruf der Matrosen, hat mir auch sehr gefallen.

AR: Ja, okay, da weiß ich nicht, ob ich nicht einen Tick zu weit gegangen bin, ob das nicht schon fast zu schwülstig ist, daß der da in seiner Phantasie in alten Zeiten unterwegs ist und plötzlich Salz auf den Lippen spürt und natürlich sofort ans Meer denkt - aber oh, das ist das Salz seiner Tränen. Aber irgendwie fand ich das dann wieder ganz schön so.

SB: Das Lied von "Ole Pinelle" könnte ein Nachfolger von "Kuddel Daddel Du" werden. Ist da Absicht im Spiel?

AR: Nein, ich finde einfach nur, was man so Seemannsgarn nennt, kann gar nicht schräg genug sein: "Er spuckt dem Hai in den Rachen, da verreckt das Vieh", das ist doch irgendwie oberkrass.

SB: Das Gedicht von Fritz Graßhoff hat im Original sehr viel mehr Strophen. Warum und nach welchen Kriterien haben Sie es gekürzt?

AR: Für mich hat der Mann zu viel gewollt. Im Grunde genommen hat der Text mehrere Erzähler und mehrere Erzählebenen. Das in einem Lied unterzubringen, das wird kein Lied mehr, und wenn es allzu vielschichtig ist, wird es auch musikalisch unübersichtlich. Für mich ist das, was ich gelassen habe von dem Text, der eigentliche Kern der Sache.

Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Vom kürzlich verstorbenen Udo Jürgens, der auch im sehr fortgeschrittenen Alter noch eine ungeheure Bühnenpräsenz hatte - und da enden vielleicht schon die Vergleichbarkeiten -, heißt es jetzt nach seinem Tod aus dem Mund seines Cousins Andrej Bockelmann in einem Interview mit dem Stern: "Ich denke, Udo hat die Menschen nicht geliebt, ich hatte immer den Eindruck, dass ihn die Menschen, die ihm zujubelten, nicht wirklich interessiert haben." [3] Können Sie das bei einem Künstler mit dieser Ausstrahlung nachvollziehen?

AR: Ich versuche es gerade. Für mich ist da einiges widersprüchlich. Meines Erachtens ist ein Künstler ohne Publikum ein ganz einsamer, weil er seine Inhalte mit niemandem teilen kann. Ich denke, dieses Ding mit der Ausstrahlung ist ja auch ein Talent, das hat man oder man hat es nicht. Bestenfalls kann man darin Sicherheit entwickeln, man kann es ausbauen, kann damit arbeiten. Das ist bei Udo Jürgens ohne Frage der Fall gewesen. Es kann mir keiner erzählen, daß das einer war, der einsam mit seiner Musik in seinem Kämmerlein die Welt nicht mehr brauchte, das kann ich mir nicht vorstellen. Was ich nachvollziehen kann ist, daß die Menschen einem schon Anlaß geben, daß man hin und wieder sagt, "mein Gott noch mal, sollen sie mir nun leidtun, sind sie bekloppt oder was ist da eigentlich los?" Keiner läßt ein gutes Haar am Nächsten, so viel Neid, Mißgunst, Kriege, Hintertriebenheit ... Neulich sagte einer zu mir: "Wenn die Leute so doof sind, dann mache ich das eben für die." Was ist denn das für eine Einstellung? Mir ist ziemlich früh klar geworden, daß ein so langes Künstlerleben wie Udo Jürgens es hatte - meins ist ja nur wenig kürzer - ohne Publikum gar nicht möglich wäre.

Wenn ich jetzt versuche zu verstehen, komme ich natürlich auch auf den Gedanken, daß ein Künstler mit seinem Kram stranden kann oder bei dem Versuch, sein Publikum zu erreichen, einem Rundfunkredakteur begegnet, der sagt, "Du willst bei mir gespielt werden, paßt aber leider nicht ins Format. Da mußt du dich mal unserem Sendeformat angleichen". Die sogenannten Medienpartner, die man doch braucht, um Öffentlichkeit zu erreichen, wenn man nicht nur von der Bühne runter wirken will, sind ja oftmals mit ganz eigenen Maßstäben ihres Handelns unterwegs. "Unsere Hörer, denen können wir das nicht zumuten, die wollen gute Laune haben und nicht übers Leben nachdenken, das wird ja denn doch grübelig, das macht ja keinen Spaß mehr." Aber immer nur Tralala machen, den zeig mir mal, der das kann und trotzdem glaubhaft bleibt. Da kann man manchmal verzweifeln, und da wird es Udo Jürgens nicht anders gegangen sein als mir.

Foto: © 2015 by Schattenblick

Achim Reichel im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2015 by Schattenblick

Es gibt Sätze, die haben sich mir richtig ins Hirn gebrannt: "Achim, mach deinen Hit woanders, und wenn du ihn hast, dann spielen wir dich." Ich meine, es geht doch um eine gemeinsame Kultur, wenn man das so nennen will. Du singst, ich schreibe, ich mache Bilder und zusammen machen wir was. Und da ist es natürlich bei uns ganz besonders so, speziell in Deutschland mit seiner etwas schwierigen Vergangenheit, daß man Gegenwartskultur mittlerweile nur noch und einzig und allein als eine Ware begreift. Ich sehe darin eigentlich etwas, was übers Geld hinausgeht. Man muß es nicht unbedingt gleich neben die Religion stellen, aber irgendwo da in die Nähe (lacht). Es ist Musik, man kann sie nicht sehen und sie ist trotzdem da und kann einen berühren, einem unter die Haut gehen. Das ist schon doll. Wahrscheinlich waren Musiker ganz früher Schamanen, bis dann die Notenschrift kam und ein ganz anderes Ding anfing.

Der zweite Teil des Interviews erscheint in der morgigen Schattenblick-Ausgabe.


Anmerkungen:

[1] Horst-D. Mannel, Rainer Obeling, Beat Geschichte(n) im Revier, Journal Verlag, Recklinghausen 1993
[2] Hear My Song (1992) ist eine Filmkomödie des britischen Regisseurs und Drehbuchautors Peter Chelsom. Sie basiert auf der authentischen Lebensgeschichte des irischen Tenors Josef "Joe" Locke.
[3] http://www.stern.de/kultur/musik/udo-juergens-vetter-im-stern-udo-hat-die-menschen-nie-geliebt-2163102.html

20. Januar 2015


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