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INTERVIEW/059: Magma heiß - klagen, schweben, Musik leben ...    Christian Vander im Gespräch (SB)


Ohne Zugeständnisse an den Zeitgeist voranschreiten

Christian Vander und Magma in der Markthalle Hamburg am 13. Oktober 2016


Der 1948 in der Nähe von Paris geborene Schlagzeuger, Komponist und Sänger Christian Vander kam bereits in jungen Jahren mit hochklassigem Jazz in Berührung. Schon als Kind hörte er auf dem Plattenspieler seiner Tante den Drummer Art Blakey mit seinen Jazz Messengers, und im Haus seiner Mutter gingen Jazzgrößen wie Elvin Jones und Chet Baker aus und ein. Doch auch die zeitgenössische symphonische Musik eines Carl Orff, Maurice Ravel oder Igor Strawinsky klingen in seinen Kompositionen an, mit denen er vor allem durch die Gruppe Magma über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt geworden ist. Sein großes Vorbild in künstlerischer wie menschlicher Hinsicht ist der Saxophonist John Coltrane, dessen instrumentale und kompositorische Grenzgänge zu den wichtigsten Impulsgebern des modernen Jazz gehören.

1969 von einem Kreis mehrerer Jazzmusiker gegründet, wurde Magma im Lauf der 70er Jahre immer stärker von den Kompositionen und dem Schlagzeugspiel Christian Vanders geprägt. Bemerkenswert ist auch der Scat-Gesang des Ausnahmeschlagzeugers, bei dem er seine Solostimme in schnellem Wechselspiel mit den Instrumentalstimmen der Band einsetzt und dessen eindrückliche Wirkung durch die Kunstsprache Kobaïanisch unterstrichen wird. Nachdem sich Magma 1984 vorläufig aufgelöst hatte, spielte Christian Vander in anderen Projekten Musik zwischen Jazz und Fusion, in der sich die künstlerische Richtung, die er bei Magma eingeschlagen hatte, kontinuierlich weiterentwickelte. 1996 hat sich die Gruppe Magma, die seit jeher in wechselnden Besetzungen und Instrumentierungen existierte, neu formiert und gibt seitdem überall auf der Welt Konzerte.

So auch in der Hamburger Markthalle, wo Magma am 13. Oktober in einer achtköpfigen Besetzung auftrat, die die hochkomplexe rhythmische Textur und die repetitive, vor allem mit dynamisch wechselnden Zeitmaßen arbeitende Melodik der Kompositionen Vanders auf beeindruckende Weise ins Werk setzte. Magma ist ein Live-Erlebnis par excellence und wird, wie im Konzert angekündigt, am 2. und 3. Februar 2017 mit einem aus 28 Musikerinnen und Musikern bestehenden Orchester im legendären Olympia in Paris auftreten. Vor seinem Auftritt in der Markthalle nahm sich Christian Vander die Zeit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.


Im Backstage-Bereich sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Christian Vander
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben Schlagzeuguntericht von Elvin Jones erhalten und sich selbst zu einem Ausnahmekünstler am Schlagzeug entwickelt. Gibt es für Sie noch andere Inspirationen unter den Drummern des Jazz und Rock, und welche Namen fallen Ihnen ein, die für besonders innovative und ausgefallene Spielweisen stehen?

Christian Vander: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe nicht direkt Unterricht bei Elvin Jones [1] gehabt. Elvin Jones verbrachte einige Zeit bei uns im Haus, als er zusammen mit Bobby Jaspar [2] in einer Bigband spielte. Er war der beste Freund von Bobby Jaspar, und auch meine Mutter war eng mit Bobby Jaspar befreundet. Als er Elvin Jones meiner Mutter vorstellte, sagte er zu ihr: "Von diesem Menschen wird man noch hören." Elvin Jones hat dann von Zeit zu Zeit bei uns gewohnt, bevor er mit John Coltrane spielte. Als ich danach die Vereinigten Staaten besuchte, habe ich ihn oft in New York besucht. Elvin Jones hat mich ins Professionel Percussion Center mitgenommen und mir Material gegeben. Wir standen uns immer nahe, und er war ein bißchen wie ein Vater für mich.

Um auf die Frage nach den Schlagzeugern einzugehen: Was Elvin Jones betrifft, so konnte man verstehen, was er zum Ausdruck brachte, weil er John Coltrane traf. Es war für beide ein Glück, einander zu begegnen, sie haben sich wirklich gefunden. Wenn man sich erlauben darf, Elvin Jones' Qualitäten hervorzuheben, bezogen sich diese wie bei John Coltrane nicht nur auf die Musik. Wenn es nur die Musik gewesen wäre, wäre man dessen vielleicht überdrüssig geworden, aber das geht über die Musik hinaus. Das ist selten bei Musikern. John Coltrane und Elvin Jones sind Teil einer Magie, die man nicht übersetzen kann. Solche Menschen sind sehr selten, glaube ich.

Es gibt natürlich noch einen großen Schlagzeuger, der viel zu früh gestorben ist und unglücklich ums Leben kam, Tony Williams [3]. Aber auf diesem hohen Niveau - ich mag das Wort Genie nicht - des Engagements in der Musik denke ich an Elvin Jones. Danach gibt es sicherlich auch Schlagzeuger oder Musiker, die sich sehr in die Musik einbringen. Vielleicht suchen sie aber auch nach der Musik, die man hören möchte. Ich finde die Musik häufig ein bißchen verzettelt, wenn Sie meine Meinung hören wollen. Das bedeutet, daß man einer CD oder Platte nicht mehr trauen kann. Man hört den Klang eines Stücks und beim zweiten fragt man sich, ob das derselbe Musiker oder dieselbe Gruppe ist.

Früher war es so, daß die Musik charakteristisch blieb, wie Kind of Blue und was Miles Davis noch alles machte. Denn man hatte das Vertrauen, daß man eine Atmosphäre aus Klang und Musik schafft, verstehen Sie? Heute geht das auseinander. Ich habe keine Musik gefunden, mit der ich zufrieden bin. Und das schon seit sehr langer Zeit. Denn ich mußte ja weitermachen. Als John Coltrane fort war, mußte ich weitermachen. Zu Anfang wollte ich nicht weitermachen. Ich wollte ihm folgen. Er ist fortgegangen, ich wollte auch fortgehen. Aber nun gut, ich bin aufgewacht und habe mir gesagt: Nein, das ist nicht möglich, das hätte er vielleicht nicht gewollt (lacht). Ich habe Magma gegründet, weil mir etwas fehlte. So sieht's aus. Die Musik von Coltrane hatte ich ja, sie war da.

Wenn ich von Musik lernen will, wenn ich mich weiterentwickeln will, höre ich John Coltrane und erlebe immer neue Überraschungen. Man hört die Setzung der Noten anders, die Bewegung im Raum. Je mehr man lernt und wächst, desto besser versteht man die Weiterführung, die Positionierungen im Raum. Am Anfang hört man eine Passage auf eine gewisse Art und Weise und am Ende zeigt sich, daß es überhaupt keine besondere Art und Weise gibt. Das geht nur mit der Zeit und vor allem nur dann, wenn man den starken Wunsch hat zu lernen.


Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick

Fotos: © 2016 by Schattenblick

SB: In Ihren neueren Produktionen gibt es mitunter Passagen, die an den Jazzrock der siebziger Jahre erinnern, etwa im Interplay von Gitarre und Keyboards. Heute gilt die auch Fusion genannte Musik dieser Zeit bei manchen als zu kalt und technisch zu perfekt. Wie beurteilen Sie die damals bekanntesten Acts wie das frühe Mahavishnu Orchestra oder die Miles Davis Band Mitte der 70er, und wo hat Magma sich in dieser musikalischen Landschaft positioniert?

CV: In der Tat hatte das Mahavishnu Orchestra am Anfang etwas, das anders war. Das war schon eine gute Gruppe. Ich meine das, was Billy Cobham [4] gemacht hat und all dies. Diese Sache hatte etwas Neues. Was Miles Davis betrifft, habe ich das, was er in den 70er Jahren gemacht hat, nicht eigens verfolgt. Miles ist ein eigentümlicher Mensch; es gab eine Zeit, da sagte man, daß er wie eine Katze ist. Er kann eine ganze Gruppe irgendwohin mitnehmen, aber dann stellt er sie vor eine Mauer, und das, was er vorschlägt, läßt die Leute erstarren. Er selbst nimmt eine Dachrinne an der Wand entlang und wechselt in ein anderes Feld, läßt die Leute aber vor der Mauer stehen. Er war ein egoistischerer Mensch - wenn man das so bezeichnen darf -, jedenfalls ichbezogener als jemand wie John, der sehr, sehr großzügig war. Für Miles Davis zählte, daß er Miles Davis war. Ich habe durchaus Hochachtung vor ihm, und ich habe ihn vor allem in den 50er und 60er Jahren gehört. Aber gut, es war nicht das, was ich gesucht habe.

Bei Weather Report gab es vielleicht ein oder zwei gute Sachen. Das erste, was ich gehört habe, mochte ich sehr, Nubian Sundance und Mysterious Traveller. Ich hatte allerdings zunehmend das Gefühl, daß sie in eine Richtung verfielen, die, wenn sie sie weiterverfolgen, bei Middle Jazz oder New Orleans endet. Und genau das ist passiert. Ich habe es gespürt und ich habe mich abgekoppelt, bevor es geschah, und es ist so gekommen. Das ist kompliziert. Ich habe mich beim Komponieren noch nie auf das aktuelle Zeitgeschehen bezogen, ich bin nie von einer Mode beeinflußt worden oder von den verschiedenen Neuschöpfungen, die präsentiert wurden. Ich habe allein gearbeitet, so als ob eine andere Welt da draußen nicht existierte. Und ich glaube, das ist das einzige Mittel, um nicht schlechten Einflüssen oder Moden zu unterliegen.

Als ich einmal Nubian Sundance hörte, war ich gerade dabei, an einem ähnlichen Stück zu arbeiten. Als ich merkte, daß wir gewissermaßen dieselbe schöne Idee hatten, habe ich sie sofort fallengelassen. Ich hatte mir ausgedacht, in die Aufnahme Applaus einzublenden. Eben dies wurde auf Nubian Sundance gemacht. In dem Moment bestand, ohne daß ich mir dessen bewußt war, eine starke Verbindung. Aber davon abgesehen habe ich immer allein gearbeitet, in aller Stille, und in dieser Stille habe ich versucht, mich von diesen Einflüssen zu befreien. Mit der Mode verhält es sich, wie einst Jean Cocteau sagte: "Die Mode kommt aus der Mode." Und das häufig sehr schnell.

Das ist wie bei jemandem, der ein neues Keyboard hat und einen künstlichen Klang benutzt. Sechs Monate später ist das verbraucht. Also muß man sehr genau aufpassen. Weil uns kein Orchester oder dergleichen zu Hause zur Verfügung stand, wie es ein Debussy hatte - wenn er an einer Flötensequenz arbeiten wollte, stand ihm ein ganzes Orchester zur Verfügung -, uns diese Mittel also fehlten, habe ich manchmal Akkorde von synthetischen Instrumenten oder ähnliches benutzt. Aber ich habe nie Mißbrauch betrieben mit fertigen Klängen oder Gadgets. Ich war der Meinung, daß das eine bloße Mode war. Wir haben es so gemacht wie wir konnten. Ganz im Gegenteil versuche ich, Kompositionen zu machen, in denen es drei Stimmen gibt, wenn man drei Stimmen auf der Bühne hat. Ich will nicht, daß sie im Studio entstehen, wenn 15 Musiker versammelt sind. Dabei geht die Ausdruckskraft verloren. 15 wirkliche Stimmen, ja. Aber wenn man sie herstellt, indem man Noten hinzufügt, verliert man den grundlegenden Ausdruck. Wo ist die Melodie? Wenn jemand sie gut singt, sie gut verbreitet, hat man sofort dieses Gefühl oder diesen Schauder - was noch besser ist.

SB: John Coltrane, mit dem Sie sich sehr verbunden fühlen, war von tiefempfundener Spiritualität bestimmt, was sich auch in seiner Musik ausdrückte. Zugleich gehörte er einer rassistisch unterdrückten Minderheit in den USA an, was viele Jazzmusiker dieser Zeit dazu veranlaßte, sich für die Bürgerrechtsbewegung einzusetzen oder sich anderweitig zu politisieren. Wie wirkt sich ein solches Spannungsfeld auf die künstlerische Entwicklung aus?

CV: John Coltrane wurde in einem eher wohlsituierten Umfeld geboren. Er konnte Musik machen und Musik studieren. Er hatte diese Probleme nicht. Später wollten die Black Panther ihn unbedingt davon überzeugen, daß er sich ihrer Sache anschließt. Er hat dem ein wenig entsprochen, sich aber nicht wirklich engagiert. Das einzige Mal, daß er dies tat, war, glaube ich, als Martin Luther King ermordet wurde und er das Stück Alabama schrieb [5].

Er war von alledem eher losgelöst, auch wenn er sich engagiert hat. Die Black-Panther-Bewegung wollte John Coltrane für sich gewinnen, doch dann wäre seine Entwicklung vielleicht in eine ganz andere Richtung verlaufen. Ich glaube, John Coltrane ist über diese Dinge hinausgewachsen. Die Künstler, die sich engagiert haben, waren sehr damit beschäftigt und ihre Musik entwickelte sich in eine andere Richtung als die Coltranes. Man denke etwa an Archie Shepp [6] und andere Musiker, die am Ende sehr auf antirassistische Diskurse und ähnliches festgelegt waren. John Coltrane ist über die Probleme hinausgegangen.

Ich glaube, daß man weder Politik noch andere Konflikte dieser Art in die Musik hineinlassen sollte. Man wünscht sich, sehr schöne Dinge zu machen, wie bestimmte Klassiker es konnten, um von Bach, Debussy oder Ravel gar nicht erst zu reden. Man hat das Bedürfnis, etwas Schönes zum Ausdruck zu bringen, gleichzeitig zerreißt es einen. Und schließlich finden sich die Menschen mit ihrem Leiden und ihrem inneren Schmerz darin wieder oder auch nicht. Ich habe kein leichtes Leben und spüre vielleicht eine gewisse Zerrissenheit, aber die Musik geht darüber hinaus. Ich sage nicht: "Oh, ich leide. Ich teile euch mit, wie sehr ich leide." Nein, man muß versuchen, sich von diesen ganzen Dingen freizumachen. Das ist sehr schwer zu erklären. Man hat den Wunsch, die Dinge leicht zu machen. Ich versuche nach und nach zu einer Musik zu kommen, die sich in der Schwebe befindet, wo man nicht mehr weiß, ob die Zeit in die eine oder die andere Richtung verläuft. Man ist in der Schwebe, man ist leicht, frei von Gewicht und Schwere. Und an diesen neuen Dingen, die kommen werden, arbeite ich Schritt für Schritt.


Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick

Fotos: © 2016 by Schattenblick

SB: Sie haben die starke Orientierung der Musik Magmas an europäischen Musiktraditionen unter anderem mit ihrer polnisch-baltischen Herkunft und dem Wunsch, sich von der konventionellen Popstilistik abzuheben, begründet. Wie sehr, meinen Sie, sind Musiker in einer global vernetzten Welt, in der Musik aus jedem Kulturkreis gehört wird und sich zahlreiche weltmusikalische Hybridformen entwickelt haben, dennoch in ihrer lokalen und regionalen Kultur verankert?

CV: Genau davon habe ich vorhin gesprochen. Mir liegt im Gegenteil daran, meine Wurzeln zu bewahren. So hat mir ein Freund, der Schlagzeuger ist, erzählt: "Ich gebe in Afrika Conga-Kurse, weil sie da alle mit elektronischem Schlagzeug spielen." Für mich ist das wie eine verkehrte Welt. Ich höre lieber einen Menschen, der seine eigene Kultur entwickelt, seine Lebensweise, seine Traditionen, als einen, der ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem nimmt, das ihm in gewissem Sinne gar nicht eigen ist, das nicht zu ihm gehört, weil er es nicht leben kann. Ich liebe bestimmte afrikanische Musik oder auch andere Musik sehr. Aber wenn sie von Menschen gespielt wird, die es auf diese Weise versuchen, glaube ich nicht, daß mich ein intensiver Schauer ergreift.

Ich habe schon viel Musik gehört, aber ich liebe besonders die Musik, die von sehr, sehr weit her kommt. Es ist heute wirklich schwer, Menschen zu finden, die integer sind, Menschen, die nicht beeinflußbar sind. Zu der Zeit, als Magma aufkam, spielten alle Leute in Frankreich angelsächsische Musik, englische Gruppen, amerikanische Gruppen. Was mich angeht, fand ich das bedauerlich. Es hat mich traurig gemacht, wenn man keine persönliche Note mehr hat.

Als wir zum ersten Mal in London spielten, 1973, hat man uns beleidigt, weil wir Franzosen waren. Als wir im Marquee Club in London ankamen, dem angesagten Ort, wo die großen Gruppen ihre Auftritte hatten, hat man hat uns "frogs" für Franzosen genannt. Dann haben wir angefangen, Köhntarkösz zu spielen, eine Musik aus einer vollkommen anderen Welt. Und das englische Publikum hat sofort positiv reagiert und fand das fantastisch. Der Vorbehalt hat sich direkt ins Gegenteil gekehrt. Sie meinten bis dahin: "Französische Gruppen, die spielen unsere Musik, aber zwangsläufigerweise weniger gut." Eben das habe ich in Frankreich festgestellt: Alle kopierten die englischen Gruppen, die englischen Gitarristen, den Stil. Da kamen wir aus einem total anderen Universum.

Ich habe daraus den Schluß gezogen zu versuchen, mich von alledem zu lösen. Was schwierig ist, denn ich habe nichts übernommen. Trotz des tiefgreifenden segenspendenden Einflusses der Musik John Coltranes hört man selbst in den Anfängen Magmas nicht eine einzige Note von ihm. Das, was mich an John berührt hat, ist seine Spiritualität, die Tiefgründigkeit seiner Musik. Aber ich war nie versucht zu sagen: "Also, laßt uns ein bißchen Coltrane spielen." Nein. Nein, denn ich meine: Das ist er, das ist sein Weg. Wunderbar! Das sage ich mir mein ganzes Leben. Vielleicht kann ich mich an das, was er tatsächlich erreicht hat, eines Tages vom Ausdruck her annähern.

Ich wurde gefragt, was das Kobaïanische bedeutet? Ich habe komponiert und die kobaïanischen Worte sind praktisch parallel dazu entstanden. Aber die Bedeutung ist nicht so furchtbar wichtig, sie ist verknüpft mit der Musik. Es handelt sich um expressive Musik, man muß anhand der unterschiedlichen Nuancen spüren, was sie zu erzählen scheint. Wenn die Leute mich dennoch fragen, was das Kobaïanische bedeutet, weil man es nicht versteht, dann ist das mein Fehler. Das heißt, daß die Musik nicht ausdrucksstark genug ist. Denn John Coltrane hat keine artikulierten Klänge gespielt und ich habe verstanden, was er mir damit gesagt hat. Als Saxophonist spielt er nicht einfach irgend etwas ohne Seele, ohne Gefühl. Es ist dasselbe wie mit Worten zu sprechen, es sind Worte des Schmerzes, aber er sagt es mit dem Saxophon. Es sind keine Worte, aber man versteht es.

Ich habe John Coltrane so intensiv studiert, daß ich 1966, als ich Johns Sopransaxophon-Intro auf dem Album Live At The Village Vanguard Again! hörte, zu einem Freund sagte - ich war vielleicht 16 Jahre alt -, daß er sterben wird. Er hat es zum Ausdruck gebracht. Ich wußte nicht einmal, daß er krank war. Sogar die Menschen um ihn herum wußten es nicht. Und ich habe es von John gehört. Bei der Art, wie er ansetzte, das Vibrato sowie das Einsetzen des Sopransaxophons, hatte ich das Gefühl, er macht eine Art Seppuku [7].

Er hatte ein ganz bestimmtes Niveau erreicht. Da stand er bereits mit einen Fuß in einer anderen Welt, das konnte man erkennen. Das war unvorstellbar. Mir war klar, daß er sterben wird. Da er zu der Zeit 40 Jahre alt war, erschien das unmöglich. Nun gut, er hat es zum Ausdruck gebracht und bewegte sich auf höchstem Niveau. Seine letzte Platte Expression beweist es. Mit diesem Klang befand er sich bereits zur Hälfte in einer anderen Welt. Das ist außergewöhnlich.

SB: Magma hat dieses Jahr eine Tournee durch China absolviert. Wie wurden Sie dort aufgenommen, und haben Sie vielleicht sogar eine Nähe der chinesischen Kultur zu Ihrer Musik entdeckt?

CV: Wenn man es einfach ausdrücken will, habe ich mich dort weniger wiedergefunden als in Japan. Das ist meine ganz persönliche Meinung und nicht die Meinung aller Musiker, die dort waren. Ich hatte nur den einen Wunsch, daß anschließend nach Japan reisen. Und ich hatte den Wunsch, mich in Japan aufzuhalten. Ich habe mich in Japan viel wohler gefühlt. In China habe ich mich nicht wirklich wiedergefunden. Es ist vielleicht ein nebensächlicher Punkt und "künstlich" wäre das falsche Wort, aber alles schien dort wie am Schnürchen zu laufen. Ich glaube, daß es nicht die geringste Störung geben darf, nicht das kleinste Problem, weil die Desorganisation ansonsten total wäre. So könnte man es vielleicht sagen. In Japan hingegen sind die Leute präsent, es gibt eine unglaubliche Liebe und viel Herz. Es gibt etwas, das uns nahe ist und dennoch weiß ich nicht, ob diese Kulturen eine Verbindung haben, aber ich fühle mich in Japan viel wohler. In China habe ich eine Art Kälte empfunden.

SB: In Japan interessiert man sich sehr für die klassische deutsche Musik ...

CV: Sie interessieren sich auch für das französische Chanson (lacht), was mich im übrigen ein bißchen enttäuscht hat. Es war aber das einzige, was mich enttäuscht hat, das nur mal in Klammern gesagt ...


Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick Im Gespräch - Fotos: © 2016 by Schattenblick

Fotos: © 2016 by Schattenblick

SB: Als 1969 Magma und damit der Mythos Kobaïa begannen, sollen auch ökologische Motive als Grund für die Auswanderung ins All angegeben worden sein. Das war damals noch etwas Neues. Wie kommt es, daß Sie das Problem der Naturzerstörung, das heute alle Welt beschäftigt, damals schon wahrgenommen haben?

CV: Ich glaube nicht, daß die Ökologie das Problem ist, ich glaube, es handelt sich um eine Frage der Erziehung. In Frankreich wurden die Leute nicht für die Ökologie erzogen. Ich glaube, daß die Leute in Deutschland viel früher daran interessiert waren. Das ist schon lange so. Aber ich habe immer instinktiv die Natur verteidigt. Ich hatte Freunde, die einen Teil eines Flusses besaßen. Bei einem Besuch fiel mir auf, daß er zunehmend verschmutzte, da habe ich ungefähr 20 Leute mobilisiert, und im Zeitraum von zwei bis drei Jahren haben wir diesen Teil des Flusses gereinigt. Er ist wieder so geworden wie vorher. Die Fische kamen wieder. Das ist einfach, wenn jeder ein bißchen so handelt. Ich bin kein Ökologe, ich bin von mir aus ökologisch eingestellt.

Wir haben uns in diese Mentalität in Frankreich nicht eingebunden gefühlt, darum haben wir diese Welt erfunden, Kobaïa. Laurent Thibault, mit dem wir die Idee zusammen entwickelt haben, formulierte es so: Auf die Frage "'Was ist das, Kobaïa?", antwortete er: "Kobaïa, das ist die Erde" - seine Formulierung -, "das ist die Erde ohne die Idioten" (lacht). Das war seine Weise, Kobaïa zu definieren.

SB: Sie sollen damals mit anderen Musikern in einer gemeinschaftlichen Lebensform oder Kommune gewohnt haben. Auch in der Bundesrepublik gab es damals diverse Musikerkommunen. Halten sie den Anspruch, nicht nur zusammen zu arbeiten, sondern auch gemeinsam zu leben im Zeitalter maximaler Individualität für überholt?

CV: Für mich war es eher ein Fehlschlag. Das gab es sogar in den USA, daß Musiker ein ganzes Viertel bewohnten. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Weil es immer das gleiche ist: Ein Typ arbeitet um drei Uhr morgens an seinem Instrument, ein anderer will um diese Zeit schlafen. Das hat nicht funktioniert, wie nach einer Weile klar wurde. Wir haben einige Monate in einem Haus gearbeitet, das wir uns gemietet hatten. Das ging von einem Amerikaner aus, der Magma gehört hatte und meinte: "Das ist die beste Gruppe der Welt!" (lacht). Er hat uns tatsächlich diesen Ort angeboten, um zu proben. Wir haben uns zu Beginn alle dort zusammengetan. Nach kurzer Zeit funktionierte das überhaupt nicht mehr. Es gab sofort Meinungsverschiedenheiten zwischen den Leuten. Wenn wir uns trafen, um zu spielen, funktionierte das besser. Ich war also auch ein wenig enttäuscht. Eine Weile habe ich mich sogar zurückgezogen. Jeder für sich. Vielleicht ist das auch etwas, das den Franzosen anhängt: der Egoismus und der Individualismus. Ich weiß nicht, ich kann sowieso nur über Frankreich sprechen, weil ich hauptsächlich dort gelebt habe.

SB: Vor 11 Monaten wurde ein Anschlag auf das Bataclan in Paris verübt, wo Magma schon auf der Bühne stand. Seitdem herrscht Ausnahmezustand in Frankreich, die Menschen kämpfen um ihre Arbeit und rechte Parteien haben starken Zulauf. Möchten Sie vielleicht abschließend noch ein paar Worte dazu sagen, wie Sie diese Entwicklung empfinden und was die Menschen vielleicht tun könnten, um sie zu verändern?

CV: Das ist sehr kompliziert. Zunächst müssen wir uns um die Dinge kümmern, die uns wirklich etwas angehen. Ich sehe es so, daß Frankreich im Moment - und andere auch - im Fahrwasser der USA schwimmen und auf ihre Anordnung handeln. Also alles, was losgebrochen ist, war nicht unser Problem. Das geht bis hin zum Irak und all dem, wenn Sie verstehen, was ich sagen will. Man darf sich nicht wundern. Ich finde, man erntet - wie die Redewendung besagt -, was man sät. Diese Art von Regierung ist dafür verantwortlich. Ich glaube, daß ein radikaler Wechsel gut wäre. Ich weiß, daß es Dinge gibt, an die man nicht hätte rühren sollen. Das ist schon so seit Saddam Hussein, dem es, wenn man so will, gelang, die Probleme seines Landes mit all den Religionen und verschiedenen Menschen in den Griff zu bekommen. Das war schwierig. Von hier aus gesehen sagte man etwa: "Also Saddam Hussein, das ist ein Diktator". Ja, aber er hat es geschafft, das Land zusammenzuhalten. Von dem Moment an, als man sich in die inneren Angelegenheiten des Iraks einmischte, ist es da unten explodiert. Und nun fällt alles auf uns zurück, was wir gesät haben. Ich bin der Meinung, daß man sich um die eigenen Angelegenheiten kümmern und nicht versuchen sollte, bestimmte Dinge hochzukochen. Zur Zeit sind die Beziehungen zu Rußland unterkühlt. Ich finde das sehr gefährlich und bedauerlich. Verstehen Sie?

SB: Ja. Was sollte man tun?

CV: Was kann man tun? Es braucht einen radikalen Wandel. Man darf nicht zulassen, daß es sich in eine faschistische Richtung entwickelt. Man muß mit diesen Dingen aufhören. Wir dürfen keine Satellitenstaaten der Amerikaner werden. Sie machen das Gesetz, streben Hegemonie über die ganze Welt an. Wir müssen unsere Persönlichkeit bewahren und nein sagen. Man sollte wissen, wann man aufhören muß. Aber sie haben den Willen nicht. Das sind Feiglinge, (lacht), tut mir leid, aber das muß ich sagen. Ich schäme mich. In der Tat schäme ich mich zu sagen, daß Franzosen das Bedürfnis haben, sich unter dem Tisch zu verstecken. Aber gut, manchmal sollte man nicht zu sehr daran denken ...

SB: Herr Vander, vielen Dank, daß Sie sich noch vor dem Konzert die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.

CV: Vielen Dank.


Das Schlagzeug ohne Schlagzeuger - Foto: © 2016 by Schattenblick

Cette batterie est chargée ...
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Elvin Jones (1927 - 2004 ) spielte von 1960 bis 1965 im John Coltrane Quartet und war an der Entstehung einiger der wichtigsten Alben der Jazzgeschichte wie A Love Supreme beteiligt. Sein Schlagzeugspiel gilt als wegweisend für die Entwicklung des modernen Jazz.

[2] Bobby Jaspar (1926 - 1963) war ein belgischer Saxophonist und Flötist. Sein Name steht für den Prix Bobby Jaspar, den die französische Académie du Jazz dem besten europäischen Jazzmusiker des Jahres verleiht.

[3] Tony Williams (1945 - 1997) spielte schon mit 17 Jahren in der Band von Miles Davis Schlagzeug und schuf mit seiner Band Lifetime eine frühe Fusion aus Jazz und Rock. Er verstarb an einem Herzanfall nach einer Routine-OP.

[4] Billy Cobham war Schlagzeuger der ersten Besetzung des Mahavishnu Orchestra und ist einer der bekanntesten Drummer der Fusion-Musik.

[5] John Coltrane schrieb das Stück 1963 nach einem Bombenanschlag des Ku-Klux-Klan auf eine Baptistenkirche in Birmingham, Alabama, bei dem vier Mädchen im Alter zwischen 11 und 14 umgebracht wurden. 1964 hat er acht Benefiz-Konzerte für Martin Luther King gegeben, widmete ihm eine Reihe von Stücken und ein ganzes Album.
https://rhapsodyinbooks.wordpress.com/2008/11/18/november-18-1963-john-coltrane-records-alabama-in-reaction-to-the-horrific-church-bombings-in-the-south/

[6] Der 1937 geborene Saxophonist und Komponist Archie Shepp gehört zu den intellektuell und politisch exponiertesten Jazzmusikern der USA. So hat er 1972 mit dem Album Attica Blues einen künstlerischen Protest gegen die blutige Niederschlagung eines Gefangenenaufstandes und die Unterdrückung schwarzer US-Bürger verfaßt.

[7] Seppuku ist ein Begriff aus Japan, der eine rituelle Selbsttötung mit dem Schwert bezeichnet. Christian Vander hat in dem Moment auf eine bestimmte Art auf die Brust gezeigt und konzentriert Luft eingezogen.


22. Oktober 2016


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