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NACHLESE/011: 50 Jahre später ... The Rolling Stones - Beggars Banquet (SB)



Me, I'm waiting so patiently
Lying on the floor
I'm just trying to do this jig-saw puzzle
Before it rains anymore


The Rolling Stones - Jigsaw Puzzle

Schon damals wurde den Rolling Stones die Straßenkämpferattitüde nicht abgenommen, und sie war auch nicht so gemeint. Was anderes konnte ein armer Jugendlicher tun als in einer Rock'n'Roll Band singen, denn im verschlafenen London war schlicht kein Platz für den Street Fighting Man, so der Refrain der berühmten Hymne, die an die durchaus revolutionär gemeinten Kämpfe auf den Straßen westlicher Metropolengesellschaften erinnert. Auf dem von März bis Juli 1968 eingespielten Album Beggars Banquet wurde ausgiebig mit den Symbolen und Signaturen der rebellischen Jugend gespielt, um zugleich deutlich zu machen, daß diese Gruppe von fünf Rockmusikern das Zeitgeschehen lediglich abbilden, nicht jedoch als Sprachrohr massenhaften Aufbegehrens fungieren will.

Brian Jones, Mick Jagger, Keith Richards, Bill Wyman und Charlie Watts, wie immer so tatkräftig wie unsichtbar unterstützt von Nicky Hopkins am Klavier, sogen die bewegte Atmosphäre der Epoche auf wie ein Schwamm. Sie schufen einen Soundtrack des Geschehens, auf dessen impulsive und leidenschaftliche Stimmung heute kaum eine Doku über das Jahr 1968 verzichten mag. Hatten sie ein Jahr zuvor mit Their Satanic Majesties Request Zeugnis psychedelischer Impressionen vorgelegt, das die Stones introspektiv, weich und abgehoben zeigte, schoben sie, im abgearbeiteten Jeanslook lässig daherstiefelnd, nun wieder den tutenden und scheppernden Rhythm & Blues- Zug auf Gleise, die sie seitdem nicht mehr verlassen haben.

Großgeworden mit Anleihen an afroamerikanischen Blues- und Soul-Legenden, deren Songs in den USA von dieser und anderen britischen Bands reimportiert und für ein weißes Publikum attraktiv gemacht wurden, legten sie auf Beggars Banquet künstlerisch wie emotional einen Zahn zu. Dieser Klassiker markiert das Ende ihrer frühen Jahre, in denen sie vor allem ein Teenager-Publikum begeisterten, und läutete die kreative Hochzeit der Rolling Stones von 1968 bis 1972 ein.

Der Opener Sympathy for the Devil kann als Abschiedslied auf die von Hoffnungen und Versprechungen auf eine bessere Welt erfüllten 60er gehört werden. Die jeder revolutionären Entschiedenheit entsagende Postmoderne warf ihren Schatten voraus, im Modus schlichten Abkupferns und Rekombinierens zeitgeschichtlicher Ereignisse war die Gruppe so relevant wie inhaltsleer. Indem sie Gefühle und Eindrücke flüchtigster Art bedienten, luden die Stones ihre Songs mit unausgeführten Anmerkungen zum Zeitgeschehen auf, ohne sich zu Aussagen zu versteigen, deren Verbindlichkeit über ein Werbeversprechen mit eingebauter Relativierung alles Verheißenen hinausgeht. Jean-Luc Godard setzte dem Song ein cineastisches Denkmal, indem er die Aufnahmesessions zu Sympathy for the Devil in den Mittelpunkt seines ebenfalls 1968 in die Kinos gekommenen Spielfilmes One Plus One stellte.

Beggars Banquet, die letzte LP, an deren Produktion Brian Jones vollständig beteiligt war, ist ein großes, bis heute in ganzer Länge hörenswertes Album. In ihm kündigt sich die Hinwendung der Rolling Stones zu einer US-amerikanischen Musikkultur an, die stärkere Einflüsse von Country und Gospel aufweist, ohne den Blues zu vergessen, der auf eine neue Ebene instrumentaler wie stimmlicher Intensität gehoben wird. Der Schärfe und Bestimmtheit dieser damals sehr frisch wirkenden Rockmusik gegenüber bleiben die Inhalte auf der Strecke plakativer Zitate, denen etwas anderes abzulesen als den kulturindustriellen Impetus avancierter Unterhaltungsästhetik kaum möglich ist. So entschieden in Salt of the Earth eine mit Gospelchor unterlegte Hymne auf die vergessenen Schmerzen proletarischer Entbehrungen angestimmt wird, so fremd müssen die damals schon weltbekannten Barden auf all diejenigen wirken, die tatsächlich den Klassenkampf auf ihre Fahnen geschrieben haben. Indem die Stones den politischen Impetus des Jahres 1968 aufgriffen und verstärkten, ohne auch nur eine nennenswerte Zeile zu bringen, die ihnen Probleme hätte bereiten können, wiesen sie den Weg aus dem Dilemma einer unglaubwürdig gewordenen Musikkultur.

Performance und Spektakel bis zum Tabubruch lautete die Rezeptur, mit der folgenlos zu rebellisch gestimmter Unterhaltung geladen werden konnte. Das für Beggars Banquet, dem Bild eines Festmahls unter Abgehängten und Obdachlosen adäquat, vorgesehene und von der Plattenfirma abgelehnte Cover, auf dem ein schmuddeliges Klo mit ortstypischen Graffiti an der vergilbten Wand zu sehen ist, schmückte schon bald die Wiederveröffentlichungen des Albums auf CD. Kein Bettler zu sein, aber das Leben ganz unten als Lifestyle zu feiern, zeigt sich dieser Tage in so heruntergekommen wirkenden wie hochmodischen Outfits, die als elegantly wasted zutreffend beschrieben werden.

Das wohl am meisten überhörte Stück der LP, das sechsminütige Jig Saw Puzzle, charakterisiert die Mitglieder der Band als Outcasts, die sich nicht nur in der besseren Gesellschaft fremd fühlen, sondern aufgrund ihrer Eigenschaft als am Rande des Geschehens stehende Musiker überall Außenseiter sind und bleiben. Sich einen Reim auf die Dinge zu machen, um die Zeit bis zum Ende des Regens zu überbrücken, kann ein halbes Jahrhundert später auch so verstanden werden, daß das Warten auf bessere Zeiten nur endet, wenn es selbsttätig unterbrochen wird.

20. Juni 2018


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